Altenpflege auf dem Land: Die weißen Blutkörperchen im System
Stefanie Hartmann ist Altenpflegerin. Sie bleibt, wo andere gehen: im Pflegeberuf. In Würde altern wird aufgrund des Pflegenotstands immer schwieriger.
„Manchmal bleibt man ja noch ein bisschen sitzen“, sagt Hartmann auf dem Weg zum Auto. Heute nicht. Denn Frau Jahn ist die erste von sechs Stationen. Hartmann fängt sonst schon um 6 Uhr morgens an, doch für heute hat sie „eine ruhigere Tour“ rausgesucht, wohl auch, um den Reporter nicht zu sehr zu strapazieren. Es folgen: Kompressionsstrümpfe, große Pflege, nochmal Kompressionsstrümpfe, nochmal große Pflege, Wundverband, Feierabend.
Stefanie Hartmann ist Altenpflegerin beim Pflegedienst „Villa Juesheide“ in der Kleinstadt Herzberg am Harz, Südniedersachsen. Viele ziehen nach der Schule von hier weg, zurück bleiben die Alten. Zwischen 2012 und 2030 könnte die Bevölkerung der Stadt um knapp 20 Prozent sinken, prognostiziert das Demografieportal Wegweiser Kommune. Über ganz Deutschland verteilen sich Gemeinden mit ähnlichem Schicksal.
Stefanie Hartmann blieb. Und sie wurde Altenpflegerin. Ein Job, den viele ihrer Freunde mit einem Satz kommentieren: „Ich könnte das ja nicht.“ Weil viele so denken, kommen in Deutschland auf 100 freie Stellen in der Altenpflege nur 19 qualifizierte Bewerberinnen und Bewerber. Das geht aus einem aktuellen Bericht der Bundesagentur für Arbeit hervor. Ein Arbeitsplatz für eine Altenpflegefachkraft bliebe im Bundesdurchschnitt 183 Tage offen, bis sie besetzt werde – das ist 63 Prozent länger als bei allen anderen Berufen. In ländlichen Regionen sei die Situation noch angespannter, heißt es in Fachstudien.
Ihr Chef nennt es „Familienersatzleistung“
Jeden Morgen brechen Hartmann und ihre Kolleginnen auf und fädeln sich mit ihren Autos wie weiße Blutkörperchen in die Verkehrsadern der Kleinstadt ein, um ein sozialpolitisches Versprechen zu erfüllen: in Würde altern. Ein hoher Anspruch, viele Widrigkeiten.
7.34 Uhr, Hartmann parkt vor einem Mehrfamilienblock. Kompressionsstrümpfe bei Herrn Melcher. Ein Mann Mitte 60 in Jogginghose und T-Shirt öffnet die Tür. In der Stube hängt der Zigarettendunst, ein Fernseher plärrt. Melcher lässt sich in einen Sessel fallen und legt ein Bein auf einen Hocker. „Und, alles gut Herzchen?“, fragt er, als Hartmann vor ihm kniet und ihm einen gräulich-beigen Strumpf über das Bein zieht. „Ja, und selbst?“ „Ja, gut.“ Die beiden kennen sich seit zehn Jahren, seitdem Hartmann angefangen hat in der mobilen Pflege. „So, bitte. Jetzt kannst du frühstücken gehen“, sagt Hartmann und steht auf. Drei Minuten. Heute ist sie schnell, sehr schnell.
Hartmann kommt, wenn ihre Kunden anfangen, sich im Bett von einer auf die andere Seite zu wälzen. Wenn sie aufgestanden sind, aber ohne ihre Kompressionsstrümpfe Thrombosen in den Beinen bekommen. Morgens fährt sie die Menschensysteme hoch, abends wieder herunter. Ein paar Minuten Pflege, die einen Tag in Eigenständigkeit ermöglichen. „Familienersatzleistung“, nennt es Hartmanns Chef, Andreas Kern, zwei Tage vor Stefanie Hartmanns Tour in der Leitzentrale des Pflegedienstes. „Man geht Verbindungen ein, schließt sich ins Herz.“
7.39 Uhr, Hartmann kurvt quer durch die Stadt hinaus in die Wohngebiete, hört leise Radio. Ein paar Mal telefoniert sie über die Freisprechanlage, fragt eine Kollegin: „Kann ich dir noch wen abnehmen?“ Es geht zu „den Günthers“, große Pflege. Einiges hat die 85-jährige Frau Günther schon vorbereitet: Gelüftet, das Bettzeug aufgeschüttelt, zwei Graubrote mit Sirup und Marmelade bestrichen und in kleine Vierecke zerteilt, acht Tabletten auf eine Untertasse gelegt. Nun taucht sie ihre Hände in den Abwasch. Ihren Ehemann aus dem Bett im Nebenzimmer in den Rollstuhl hieven, das schafft sie nicht.
Spagat zwischen Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit
Herr Günther liegt kerzengerade im Bett, es riecht nach Desinfektionsmittel und Nacht. „Na, wie sieht es aus?“, begrüßt ihn Stefanie Hartmann. Herr Günther nickt stumm. Einen Reporter hat er sonst nicht im Haus. „Na, dann hole ich mal Wasser und alles.“ Hartmann füllt eine blaue Schüssel und stülpt sich Gummihandschuhe über die Hand. „Einmal kitzeln gratis“, sagt sie und beginnt, mit einem Waschlappen über Herrn Günthers helle Haut zu gleiten. Sie folgt den Knochen seiner Oberschenkel, seiner Unterschenkel, dann trocknet sie die Beine mit einem Handtuch ab. Auf drei in den Rollstuhl, T-Shirt aus, vor dem Waschbecken befeuchtet sich Herr Günther die Achseln, rubbelt sich das Gesicht. Seine Handgriffe und die von Frau Hartmann folgen einer eingeübten Choreografie.
Herr Günther wurde in Pflegegrad III eingestuft. Dadurch stehen ihm durch die Pflegeversicherung Leistungen im Gegenwert von 1.298 Euro zu. Wünscht sich ein Kunde zusätzliche Leistungen, die über den jeweiligen „Leistungskomplex“ hinausgehen, wird einzeln abgerechnet: Hilfe bei der Nahrungsaufnahme 4,50 Euro, Hauswirtschaftliche Versorgung 3,60 Euro pro zehn Minuten, Kämmen und Rasieren 3,15 Euro. Bei jemandem, dem nur Kompressionsstrümpfe angelegt werden sollen „mal eben noch schnell die Haare kämmen“ sei also eigentlich nicht drin, sagt Pflegedienstchef Andreas Kern beim Gespräch im Büro. „Die Pflegeversicherung ist eine Teilkasko.“ Daran müsse er auch seine Mitarbeiterinnen immer wieder erinnern: „Hier haben alle ein Helfersyndrom.“ Ein Spagat zwischen Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit.
Merken wird man diesen Spagat bei Stefanie Hartmann heute nicht. Hartmann und Günther duzen sich, witzeln herum, sie fährt ihm durch die Haare. „Habt ihr die gefärbt? Da ist ein komischer Farbton drin“, sagt sie. „Bin ja auch ein komischer Mensch, weißt du doch“, gibt er mit einem Augenzwinkern zurück.
Der Mann, den Stefanie Hartmann nach 20 Minuten an den Frühstückstisch schiebt, hat wenig gemein mit dem Menschen, der gerade noch im Bett lag. Günther trägt eine goldene Uhr, ein frisches T-Shirt, die Haare liegen ordentlich. So beginnt das Ehepaar den Tag in Zweisamkeit. Nur mit Hartmanns Hilfe ist das möglich. Einmal war Günther schon im Pflegeheim, für fünf Monate. „Die können sich nicht unterhalten, gucken nur stur in die Gegend. Das ist nicht das richtige“, sagt er. „Zu Hause ist zu Hause.“
Hartmann steht daneben und lächelt, ihre Wangen sind gerötet. Zeit zu gehen. „Schönen Tag dann!“, sagt sie und tritt aus der Wohnung, hinaus in die Morgensonne, wo der Geruch von Desinfektionsmittel verfliegt und das Gefühl von Abschied, das in der Luft liegt in diesen Haushalten. „Die Günthers haben nur noch sich“, sagt Hartmann.
Eigentlich wollte Hartmann Krankenschwester werden. Aber Krankenschwestern suchte gerade niemand. Gerade, das war vor 18 Jahren, da war Hartmann 16 Jahre alt. Also begann sie im Pflegeheim „Villa Juesheide“ die Hilfskraftausbildung, später die Fachkraftausbildung und tauschte bald die Schlüssel: vom Heim ins Auto. „Man kommt viel mehr ins Gespräch mit den Angehörigen“, sagt sie. „Im stationären Dienst ist es eher wie im Hotel.“ Ihr macht der Beruf Spaß, seit zehn Jahren fährt sie nun schon umher – und sie will ihn gut machen: Sie machte eine Weiterbildung zur Wundmanagerin, damit sie die chronischen Liegestellen ihrer Kunden besser behandeln kann.
Stefanie Hartmann, Altenpflegerin
Doch auch das gehört zum Beruf dazu: frühes Aufstehen, Schichtdienst im Zweiwochenrhythmus, dann ein Wochenende frei, an dem mehr Zeit für die fünfjährige Tochter und ihren Partner bleibt. Brutto verdient Hartmann etwa 15 Euro die Stunde, ohne Zuschläge, ihren Dienstwagen kann sie mit einem Finanzierungsmodell auch privat nutzen. Zwischen 140 und 160 Stunden arbeitet sie im Monat. „Wir machen eine Schweinearbeit, wie auf dem Bau. Wir leisten eigentlich mehr, kriegen aber einen Hungerlohn.“ Hartmann poltert das nicht, sie sagt es einfach. Mit weicher, freundlicher Stimme. „Irgendetwas machen wir doch falsch.“
Über das Gehalt ließen sich mehr Menschen für den Pflegeberuf begeistern. Aktuell verdienen vollzeitbeschäftigte Pflegefachkräfte durchschnittlich 2.746 Euro Brutto monatlich, mit starken regionalen Unterschieden sowie zwischen privaten und öffentlichen Anbietern.
„Wir steuern auf eine riesen Katastrophe zu“
Hier verweisen Andreas Kern und andere Pflegedienste auf die Verantwortung der Pflegekassen, von denen je nach Pflegegrad eines Kunden Summe x an den ambulanten Dienst geht: Solange die nicht mehr zahlen würden, bliebe kein Spielraum. Um die Ausgaben zu refinanzieren, müsse Kern also entweder die Pflege teurer machen oder seinen Angestellten weniger Gehalt bezahlen. Eine Zwickmühle. Tarifgebundene Anbieter wie die AWO und Diakonie, die beim Gehalt keinen Spielraum haben, drohten im März in Niedersachsen sogar damit, ganz aus der ambulanten Pflege auszusteigen. Zwei Drittel der Stationen würden dort rote Zahlen schreiben.
„Lange können wir die Pflege bei den Ansprüchen hier auf dem Land nicht mehr stemmen“, prophezeit Kern. Mehr Fachkräfte könnten die Situation entschärfen. Doch Kern zeichnet ein düsteres Bild: „Es gibt keine Fachkräfte mehr. Wir steuern auf eine Riesenkatastrophe zu.“
Kürzlich reiste Gesundheitsminister Jens Spahn nach Kosovo, von hier sollen künftig Pflegekräfte angeworben werden. Zudem spricht er von einem Mindestlohn von 14 Euro. Es gibt viele Pläne, doch die Umsetzung dauert.
25 Jahre nach ihrer Einführung holt der demografische Wandel die Pflegeversicherung ein. Hartmann und Kolleginnen in ihren weißen Autos: weiße Blutkörperchen, Leukozyten, in einem infizierten System.
8.10 Uhr, Hartmann sitzt wieder im Auto, 20 Minuten eher als an anderen Tagen. Schlimm ist das nicht, denn nicht auf die Zeit, sondern auf die erbrachte Pflege kommt es an. „Herr Günther hat heute so gut mitgemacht“, sagt sie. Vielleicht, weil ein Reporter über die Schulter schaut? Gelegentlich kommentiert Hartmann den Straßenverkehr, während sie fährt. „Was macht der denn da? Ich will hier rüber. Lieber mit dem Handy spielen … Northeim!“, und weiter geht es.
Kommt Hartmann zu spät zu einem Hausbesuch, klingelt schon ein paar Minuten später in der Zentrale der Beschwerdeanruf. Kommt sie zu früh, wie jetzt bei Herrn Brecht, wird sie in Unterhose begrüßt: „So früh war noch nie jemand da“, sagt der 95-Jährige mürrisch. „Heute machen halt alle so gut mit“, sagt Hartmann und folgt ihm ins Wohnzimmer.
„Was macht das Gesäß, wenn Sie gerade so schön stehen?“ Herr Brecht beugt sich nach vorne, stützt sich auf seinen Gehstock und die Lehne eines geblümten Sessels. Hartmann hockt sich hinter ihn und zieht die Unterhose herunter. „Das ist ja schon wieder richtig wund. Ich mache mal ein Foto für den Arzt“, sagt sie und fingert in Gummihandschuhen ihr Handy aus der Tasche. „Steffi möchte ein Foto haben“, erwidert Herr Brecht und lacht. An seinem Gesäß haben sich zwei Wundstellen gebildet, jeweils so groß wie ein Daumennagel. Das rote Fleisch ist zu sehen. Hartmann klebt Wundpflaster darüber.
Früher war das Mittelmeer Zentrum der Identität Europas, heute wenden sich die Menschen von ihm ab. Ein Essay über ein Meer, das Hilfe braucht – in der taz am wochenende vom 17./18. August. Außerdem: Die Polizei möchte Bienen zur Drogenfahndung einsetzen. Science Fiction oder bald Realität? Und: In Belgien bekommen Obdachlose schnell eine Wohnung, in Deutschland nicht. Eine Reportage. Ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und bei Facebook und Twitter.
Dann zieht sie ihm die Kompressionsstrümpfe an, hilft ihm in die Hose, erkundigt sich nach seinen Enkeln, Urenkeln, bindet seine Schuhe zu. Hocken, aufstehen, bücken, heben, ziehen, schieben, drücken. Hartmanns Stirn glänzt.
Ein organisatorischer Kraftakt für alle Beteiligten
Ein Ring an Herrn Brechts Finger verrät: Früher waren sie an solchen Tagen zu dritt. Hartmann pflegte Frau Brecht jeden Morgen. Nur so konnte das Paar die Zeit bis zu ihrem Tod vor zweieinhalb Jahren zusammen verbringen, zwischen Blümchensofa und Schrankwand. Seit ihrem Tod kommt jeden Morgen um halb 10 Brechts Enkel und holt ihn ab. Dann besuchen sie gemeinsam den Friedhof.
Doch als Hartmann sich aus der Hocke erhebt und die Gummihandschuhe von ihren Händen streift, ist es kurz vor halb 9. Zu früh. „Der kommt ja nun erst in einer Stunde“, beschwert sich Brecht. Was machen mit der unvorhergesehenen Zeit? „Der Tagesablauf war immer so, und er soll auch nicht geändert werden, nur weil der Pflegedienst kommt“, sagt Hartmann später.
2,6 Millionen Pflegebedürftige werden zu Hause von den Angehörigen versorgt, bei 830.000 hilft ein ambulanter Dienst. Sie „puzzeln“ sich drum herum, wie Hartmann sagt. Die Pflegekräfte sollen helfen, aber eben nur in dem Ausmaß, das gewollt wird, und zu der Uhrzeit, zu der sie benötigt werden. Ein organisatorischer Kraftakt für alle Beteiligten.
Manche entscheiden sich deshalb für eine 24-Stunden-Pflegehelferin, oft kommen diese aus Osteuropa. Auch Hartmanns Eltern denken darüber nach. Bisher fährt dort eine Kollegin zwei Mal am Tag vorbei. Doch stattdessen könnten sich Hartmanns Eltern auch das sogenannte Pflegegeld auszahlen lassen – und davon selbst jemanden engagieren. Wohnen würde die Pflegehilfe in einer Einzimmerwohnung im Haus, 24 Stunden am Tag erreichbar. „Also ich sträub mich dagegen gerade so ein bisschen“, sagt Hartmann. Was, wenn die gar kein Deutsch spricht? Oder nicht auf den gleichen Standards arbeitet? „Das ist doch nicht Sinn der Sache.“
8.26 Uhr, Stefanie Hartmann fährt den Wagen zu ihrem vorletzten Termin, große Pflege bei den Knappes. Dieser vorletzte Termin wird sie mehr fordern als alle anderen zuvor. Und zum einzigen Mal an diesem Tag wird sie ihre weiche Stimme verlieren.
„Susimaus, wir sind da. Susimaus“, ruft Herr Knappe, während er Stefanie Hartmann in einen Raum führt, in dem mittig ein Pflegebett steht. Darin liegt sie, die er „Susimaus“ nennt, Anfang 70, mit geschlossenen Augen und offenem Mund, aus dem nur Laute und ein Wimmern kommen. Sie hat Multiple Sklerose, Parkinson, eine Magensonde, einen Urinbeutel. In ihren Steiß hat sich ein Liegegeschwür, ein sogenannter Dekubitus, fast einen Zentimeter tief in das Gewebe gefressen.
Zeitweise war Frau Knappe im Krankenhaus. Doch dort habe sie in ihrem eigenen Kot gelegen, der Dekubitus habe sich verschlechtert. Herr Knappe holte sie nach Hause. „Ich mache alles, was ich kann. Aber ohne Schwestern geht es nicht“, sagt er. „Wenn er vieles übernehmen möchte, macht er es zu schnell, dann stolpert er darüber. Dann ist es besser, wenn wir es machen“, sagt Hartmann später, als Herr Knappe weg hört. Seit 50 Jahren sind Herr und Frau Knappe Ehepartner, seit fünf Jahren parkt vier Mal am Tag ein weißes Auto vor der Tür.
Hartmann wäscht Frau Knappe, dreht sie auf die Seite. Ein Kraftakt, denn Frau Knappe ist übergewichtig. Ab und zu packt Herr Knappe mit an, gibt seiner Partnerin dabei immer wieder Küsse auf die Wange, knuddelt sie, „meine Susimaus“. Die verfällt in ein monotones Stöhnen, ihr Wimmern schwillt zu einem Klagen an. Hartmann versucht, sie zu beruhigen. Der Lärmpegel steigt, die Hitze, die Anspannung. Herr Knappe wuselt herum, räumt Bettzeug und Wäsche hin und her, redet ohne Unterbrechung: „Ich versuche ja viel zu helfen, gerade bei den schweren Sachen.“
„Wenn Susi nicht mehr ist, setze ich mich vor einen Baum“
Unvermittelt fährt es aus Hartmann heraus, strenger als sonst: „Da sind wir auch sehr dankbar.“ Die Betonung kracht in das „sehr“. Mit ihrer gewohnt weichen Stimme und einem Lächeln fügt sie an: „Aber er braucht es natürlich nicht. Er könnte sich lieber mal um sich selber kümmern.“ Herr Knappe hat verstanden. Ein paar Minuten später geht er zur Apotheke, Tabletten holen.
Hartmann füllt eine braune Flüssigkeit in eine Spritze und schließt sie an den Schlauch an, der in Frau Knappes Bauchdecke führt. Sie hält die Spritze hoch. Das Wimmern und Wehklagen verstummt. Frau Knappe frühstückt, den Mund weit aufgerissen. Langsam senkt sich der Pegel in der Spritze. „Das darf nicht zu schnell gehen, sonst reagiert der Magen mit Magensäure“, flüstert sie. Die Stille im Raum dröhnt. Hartmann wird nachdenklich. „Ohne ihn wäre sie im Heim.“ Und er ohne sie? „Wenn Susi nicht mehr ist, setze ich mich vor einen Baum“, habe er mal gesagt.
Schweigend beobachtet sie, wie Frau Knappe aus ihrer Spritze isst. Tarifverhandlungen, Pflegegrade und Preistabellen rücken in die Ferne. „Nun hast du wieder Ruhe“, sagt Hartmann leise. Sie kämmt Frau Knappe die Haare und schließt das Fenster. Dann geht sie zur Tür. Ein Wimmern begleitet sie. „Bis heute Mittag, Susi.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau