piwik no script img

Anforderungen an Pflegeeltern„Es müssen nicht Paare sein“

Sozialpädagogin Ramona Meyer sucht in Hannover Kandidat*innen, die Pflegekinder bei sich aufnehmen wollen. Der Fall Lügde habe der Sache geschadet.

Neues Zuhause: Waldemar lebt mit Pflegemutter Angelika Gattmann in Konstanz. Foto: dpa
Simone Schmollack
Interview von Simone Schmollack

taz: Frau Meyer, wirkt sich der „Fall Lügde“, bei dem es auf einem Campingplatz zu massenhafter sexueller Gewalt an Kindern unter anderem durch einen Pflegevater kam, auf das Image von Pflegefamilien aus?

Ramona Meyer: Der „Fall Lügde“ hat der öffentlichen Wahrnehmung gegenüber Menschen, die sich um Pflegekinder kümmern, massiv geschadet. Auch wenn Lügde ein dramatischer Einzelfall ist: Nach solchen Fällen sinken die Anfragen von Eltern, die Pflegekinder aufnehmen möchten, rapide. Und ohnehin bestehende Vorurteile gegen Pflegefamilien werden noch verstärkt.

Sind die Vorurteile berechtigt?

Ganz und gar nicht. Pflegeeltern müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllen. In Hannover werden sie vom Fachbereich Jugend und Familie überprüft und geschult. Die meisten Bewerber*innen möchten sich dafür einsetzen, dass ein Kind ein schönes Zuhause bekommt.

Trotzdem sinkt die Zahl potenzieller Pflegeeltern, während die Zahl zu vermittelnder Kinder steigt. Warum?

Es gibt unterschiedliche Gründe. In seltenen Fällen müssen wir Bewerber*innen ablehnen, weil sie nicht geeignet sind. Ein weiteres Problem ist, dass Wohnraum vor allem in den Innenstädten immer teurer wird. Wer ein Pflegekind aufnimmt, muss aber ausreichend Platz haben: Die Wohnung muss groß genug sein, sodass das Pflegekind ein eigenes Zimmer bekommen kann. Außerdem sollten Pflegeeltern über ein eigenes Einkommen verfügen. Zwar können sie, wenn sie kleine Kinder aufnehmen, Elternzeit nehmen, bekommen aber kein Elterngeld. Außerdem hat sich das Geschlechterbild in den vergangenen Jahren sehr verändert.

Was heißt das?

Kam früher ein Pflegekind in eine Familie, blieb ein Elternteil, meistens die Frau, für mehrere Jahre zu Hause. Mitunter gab sie ihren Beruf komplett auf. Das wollen und machen viele Frauen heute nicht mehr. Und wenn wir sagen, wir sehen es gern, wenn ein Elternteil – gleich, ob Pflegevater oder Pflegemutter – am besten zwei Jahre, wenigstens aber ein Jahr zu Hause bei dem Kind bleibt, springen viele Bewerber*innenpaare wieder ab.

Warum ist es so wichtig, dass sich ein Elternteil länger und intensiver zu Hause um das Kind kümmert?

Die Kinder kommen meist aus schwierigen sozialen und persönlichen Verhältnissen. Oft haben die Mütter in der Schwangerschaft getrunken oder Drogen konsumiert, andere sind so stark mit sich selbst beschäftigt, dass sie sich nicht um das Kind kümmern können. Die Folge ist, dass die Kinder verwahrlosen, mitunter schwer traumatisiert sind und diverse Krankheiten haben. Fast alle haben starke Bindungsstörungen und Verlustängste. Diese Angst abzubauen, von den Pflegeeltern erneut verlassen zu werden, ist sehr schwer. Das erreicht man vor allem durch Kontinuität im Kontakt. Und die entsteht am besten, wenn die neuen Eltern, auch abwechselnd, jederzeit verfügbar sind.

Müssen Eltern ihr bisheriges Leben über Bord werfen?

Nein, auf keinen Fall. Wichtig ist eine hohe Toleranzschwelle, Geduld und Einfühlungsvermögen: Sie sollten die Bereitschaft haben, sich emotional auf den ihnen anvertrauten Menschen einzulassen. Fachkenntnisse können hilfreich sein, eine pädagogische Ausbildung ist nicht erforderlich.

Was, wenn Kinder so geschädigt sind, dass all das nichts hilft?

privat
Im Interview: Ramona Meyer

Ramona Meyer ist Sozialpädagogin und arbeitet beim Pflegekinder- und Adoptionsdienst in Hannover.

Mit Liebe und Fürsorge können Eltern viel erreichen. Es gibt aber Kinder, die in ihrem kurzen Leben bereits so viel Schreckliches erlebt haben, dass sie jetzt und später keine Beziehungen leben können. Sie kommen nicht zu Pflegefamilien, sondern in eigens dafür eingerichtete professionelle Erziehungsstellen oder Kinderdörfer.

Wer kann Pflegemutter, Pflegevater werden?

Jede und jeder, die und der emotional stabil ist und das Herz am rechten Fleck hat. Es müssen nicht in jedem Fall Paare sein, die Kinder aufnehmen, es können auch Alleinerziehende sein.

Gibt es Altersgrenzen?

Nein. Aber wir achten darauf, dass beispielsweise eine 55-jährige Person kein Kleinkind bekommt. Da ist der Altersunterschied einfach zu groß. Eine Pflegeelternschaft ist gewöhnlich auf eine längere Zeit angelegt und sollte so „natürlich“ wie möglich sein.

Welche Frauen und Männer wollen Pflegeeltern werden?

Es gibt die unterschiedlichsten Gründe, ein Pflegekind aufzunehmen. Da alle Kinder und Jugendlichen ihre eigene Geschichte mitbringen, suchen wir auch ganz unterschiedliche Persönlichkeiten. Kinderlose Paare, Gleichgeschlechtliche, Patchwork-Familien und Alleinstehende sind unter den Interessent*innen. Das Wohl der Kinder und Jugendlichen steht im Vordergrund. Dazu müssen die Erwachsenen passen.

Was heißt das?

Pflegekind und Pflegeeltern müssen zueinander einen Draht haben. Das merkt man bei den ersten Kontakten rasch. Wenn die Chemie nicht stimmt, sind es nicht die richtigen Eltern. Dann müssen wir weitersuchen.

Kommt es vor, dass Eltern sich von einem Kind trennen?

Manchmal können Kinder zu den leiblichen Eltern zurückkehren. Eine Option, auf die Pflegeeltern eingestellt sein sollten. Tragisch ist es für das Kind und die erwachsenen Beteiligten, wenn das Pflegeverhältnis ungeplant abgebrochen werden muss. Dafür kann es nachvollziehbare, schwerwiegende Gründe geben. Ich habe solche ungeplanten Trennungen in meiner 15-jährigen Berufspraxis allerdings nur sehr wenige Male erlebt.

Was passiert dann mit den Kindern?

Manche kommen in Erziehungsstellen oder in andere pädagogische Einrichtungen.

Kritiker*innen sagen, Kinder werden zu schnell aus Herkunftsfamilien herausgenommen und zu Pflegeeltern gebracht.

Bevor ein Kind von seinen leiblichen Eltern getrennt wird, versuchen Fachkräfte der Jugendämter alles, die Eltern in die Lage zu versetzen, ihre Kinder selbst zu versorgen. Erst wenn deutlich wird, dass keine Entwicklung möglich ist, werden andere Lösungen überlegt. Das braucht seine Zeit. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr großer Entwicklungsdefizite bei Kindern, die zu lange unter schlechten Bedingungen bei ihren leiblichen Eltern leben. Es ist nicht immer leicht, hier den richtigen Zeitpunkt zu finden.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!