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Hoffnungsschimmer in schwerer Zeit

In den 1930er-Jahren bereiteten sich junge Juden mit einer praktischen landwirtschaftlichen Ausbildung auf die geplante Auswanderung nach Palästina vor. Daran erinnern nun zwei Ausstellungen in Niedersachsen

Vorbereiten auf Palästina: Junge Juden beim Gärtnen Foto: Kulturscheune Neuendorf im Sande

Von Joachim Göres

„Gemüsebau: im allgemeinen gut. Obstbau: gut. Gehölzkunde: im allgemeinen gut. Obstsortenkunde: genügend. Topfpflanzenkultur: gut. Betriebslehre: gut. Fachzeichnen: im allgemeinen gut. Schädlingskunde: gut. Botanik: im allgemeinen gut.“

So steht es im Entlassungszeugnis von Michel Saposchnik, der in Bürgerkunde, Rechnen, Deutsch und Turnen die Note „genügend“ bekam und nach dreijähriger Ausbildung an der Israelitischen Gartenbauschule Ahlem bei Hannover 1932 seine Gärtnerlehre erfolgreich abgeschlossen hatte. In jenem Jahr wanderte er auch nach Palästina aus. Sein Zeugnis findet sich in der Gedenkstätte Ahlem – einem einzigartigen Ort, der an die 1893 eröffnete Ausbildungsstätte für angehende jüdische Gärtner und ihr späteres Schicksal erinnert.

So wie Saposchnik ließen sich in den 30er-Jahren in Deutschland Tausende junge Juden im Gartenbau ausbilden, an so genannten Hachschara-Stätten, die von jüdischen Organisationen geführt wurden. Mit Hachschara (hebräisch für „Vorbereitung“) ist eine berufliche und kulturelle Ausbildung von jugendlichen Pionieren (Chaluzim) gemeint, mit dem Ziel der Auswanderung nach Palästina und dem Aufbau eines neuen Staates. Dazu gehörten neben der praktischen Ausbildung im Gartenbau auch Sprachkurse für Iwrith – modernes Hebräisch – und Kenntnisse jüdischer Traditionen. Zudem wurde das gemeinsame Leben und Arbeiten eingeübt, Vorbild für die späteren Kibbuze in Israel.

Ab 1933 gab es zahlreiche weitere Sonderkurse, die auf die Auswanderung vorbereiten sollten, wie Englisch, Südamerika- und Palästinakunde. Nicht alle jungen Leute waren überzeugte Zionisten – nach der NSDAP-Machtübernahme flogen immer mehr Juden aus ihrer Lehrstelle bei Nicht-Juden oder aus der Schule raus und waren deswegen froh, an einer Hachschara-Stätte eine Ausbildung machen zu können. Dies wurde von den Nationalsozialisten zunächst akzeptiert, weil die Juden unter sich blieben und sie Deutschland bald verlassen wollten.

Dieter Weinberg aus Westrhauderfehn konnte noch 1939 in Ahlem eine Gärtnerlehre machen. 1942 wurde die Gartenbauschule Ahlem von den Nazis geschlossen. Von hier gingen sieben Transporte mit insgesamt 2.173 Juden aus Niedersachsen in die Gettos Warschau und Riga sowie in die KZs Auschwitz und Theresienstadt – nur 144 Menschen erlebten die Befreiung, auch Dieter Weinberg. Klaus Stern, ein anderer KZ-Überlebender, blickt auf seine Hach­schara-Zeit zurück: „Die harte Arbeit, an die ich mich dort gewöhnte, half mir, die Zwangsarbeit in Auschwitz zu überstehen. Wenn die Nazis mich aus meinem ursprünglichen – und körperlich leichten – Beruf eines Schaufensterdekorateurs dort hineingestoßen hätten, hätte ich Auschwitz niemals überleben können.“

„… unter normalen Umständen wäre ich kein ‚Bauer‘ geworden …“: In einer Sonderausstellung unter diesem Titel präsentiert derzeit das Schulmuseum Steinhorst (Landkreis Gifhorn) die Geschichte der jüdischen Lehrgüter im Nationalsozialismus unter anderem am Beispiel des Landwerks Ahrensdorf bei Trebbin. In dem brandenburgischen Ort entstand 1936 eine landwirtschaftlich-gärtnerische Ausbildungsstätte für 60 jüdische Jungen und 20 jüdische Mädchen im Alter von 14 bis 17 Jahren, mit Obst- und Gemüsegärten sowie Treibhäusern.

Der aus Hamburg stammende, 17-jährige Rolf Baruch beschrieb in einem Brief 1938 den Tagesablauf in diesem Hachschara-Lager: „5.30 Uhr Aufstehen, Gymnastik, Anziehen. 6 Uhr Frühstück. 6.15 bis 7.15 Uhr Iwrith in drei Kursen. 7.20 Uhr Arbeitsappell, Beginn der Arbeit. 9 Uhr Frühstück. 11.40 Uhr Radiovortrag über landwirtschaftliche Themen. 12 Uhr Mittagessen, Freizeit. 13.30 Uhr Arbeitsappell, Weiterarbeit. 15.45 bis 16 Uhr Kaffeepause. 17.30 Uhr Arbeitsschluss. 18 Uhr Unterricht oder Ssicha (Gespräch über Zionismus und Palästina-Aufbau). 19 Uhr Abendbrot. 20 Uhr Ssicha oder Freizeit.“

Baruch lernte in Ahrensdorf Walli Hirschfeld kennen, die dort wie er eine zweijährige Ausbildung machte. Ihren Alltag und ihre Liebe schildert der Roman „Sommer in Brandenburg“ von Urs Faes. Beide kamen 1941 ins Landwerk Neuendorf bei Berlin, von dort zwei Jahre später nach Auschwitz – das KZ, das sie nicht überlebten.

Auf einer Tagung zu Beginn der Steinhorster Ausstellung sprach Bernhard Gelderblom über die Hachschara-Stätte Hameln, wo 1926 der Kibbuz Cherut (hebräisch für „Freiheit“) entstand. Junge Juden, jeweils zur Hälfte aus West- und Osteuropa, gründeten ihn als Zeichen des Protestes gegen die Einwanderungssperre nach Palästina. Die Auswanderung blieb ihr Ziel, auf das sie sich vorbereiten wollten. 1928, mit dem Wegfall der Einwanderungssperre, machten sie sich dann gemeinsam nach Palästina auf und gründeten den Kibbuz Givat Brenner.

Auch in Hamburg und Schleswig-Holstein gab es mehrere jüdische Lehrgüter. In Harksheide erinnert ein Gedenkstein an das einstige Gut Brüderhof, wo bis zu 40 jüdische Jugendliche ab 1934 in der Haus- und Landwirtschaft und in der Torf­gewinnung arbeiteten. Die Informationen hat Diakon Sieghard Bußenius zusammengetragen, der auch mit einigen Zeitzeugen sprechen konnte. Bereits Ende 1938 wurden Jugendliche auf dem Brüderhof verhaftet und nach Polen abgeschoben.

Am Stadtrand von Flensburg befand sich von 1934 bis 1938 das Gut Jägerslust des jüdischen Gutsbesitzers Alexander Wolff, wo rund 100 junge Leute aus meist entfernt liegenden Großstädten in weitgehender Eigenverantwortung das Leben in einem Kibbuz organisierten. Das Ende der Hachschara-Stätte kam mit dem Novemberpogrom 1938, als die Bewohner von Nazis überfallen wurden.

Die Gedenkstätte Ahlem informiert übrigens auch darüber, wie Hachschara-Schüler am Aufbau des Staates Israel beteiligt waren. Sie eröffneten Gärtnereien, spezialisierten sich auf die Zucht von Rosen und Nelken, zogen Obstbäume, führten neue Palmenarten ein, legten öffentliche Gärten an, gründeten Kibbuze. Ihre Bedeutung war früher allerdings wesentlich größer als heute. „Heute wissen in Israel vielleicht zwei Prozent der Bevölkerung, was ‚Hach­schara‘ bedeutet. Das ist alles Geschichte“, sagt der bekannte israelische Historiker Moshe Zimmermann.

„… unter normalen Umständen wäre ich kein ‚Bauer‘ geworden ….“: bis 20. Oktober, Schulmuseum Steinhorst, Marktstraße 20.

Die Ausstellung der Gedenkstätte Hannover-Ahlem, ist geöffnet: Di–Do 10–17 Uhr, Fr 10–14, So 11–17 Uhr

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