„Tatort“ aus Stuttgart: Die bittere Wahrheit ist splitternackt
Diese Tatort-Folge wird das Jahr überdauern, so irre gut ist sie. Die Themen: Pflegekräfte, Alleinerziehende und geringe Wertschätzung.
Pflegefall, tot. Zwei Wochen später: noch ein Pflegefall tot. Sagt die Ärztin, die vor Ort ist: Bei allen über 75 sollte man auf den Totenschein schreiben: „Isch halt dod. ’s Läbe goht halt net ewig, ge.“
Und beides Mal war Anne vorher da. Eine der Pflegerinnen, die den ganzen Tag in Stuttgart hügelauf, hügelab von einem Alten zum nächsten fährt. Um sie zu waschen, ihnen Tabletten zu geben, „vier Minuten zum Kämmen und Rasieren“.
Jetzt sitzt Anne im Verhörzimmer der Stuttgarter Polizei und sagt erst mal ihrer Chefin und ihrem Sohn Bescheid, Magen-Darm hier, Doppelschicht da, das muss reichen für ihre Abwesenheit.
Zu den Kommissaren Bootz (Felix Klare) und Lannert (Richy Müller) sagt sie: „Das ist doch alles ein riesengroßes Missverständnis!“. Katharina Marie Schubert spielt diese Anne mit einer derart unschuldigen Mischung aus amüsierter Verblüffung und Ernsthaftigkeit gegenüber den Mordvorwürfen, dass man schon jetzt sagen kann: Diese Folge wird das Jahr überdauern, so irre gut ist sie. Beide sind so gut, die Schubert und die ganze „Tatort“-Folge (dass sie schon vor der Ausstrahlung mit dem Baden-Württembergischen Filmpreis ausgezeichnet wurde, ist gaga, aber konsequent).
Grandiose Konstruktion
„Anne und der Tod“, ARD, Sonntag 20.15 Uhr
Nicht nur, weil der Film gleich zwei gesellschaftliche Themen in den Vordergrund schiebt, die vor Überlastung ächzen: Wie unheilvoll verkettet die Lebensbedingungen sein können, wenn eine Frau, alleinerziehend, beim mobilen Pflegedienst arbeitet, das Geld reicht hinten und vorne nicht. Pflegekräfte, Alleinerziehende, die geringe Wertschätzung ist himmelschreiend.
Was diese Folge aber heraushebt aus der Masse, ist ihre Konstruktion. Und die ist dank des „Tatort“- und „Polizeiruf“-Dauerautors Wolfgang Stauch und des gemessen an seiner spärlichen Regieliste noch relativ frischen Absolventen Jens Wischnewski grandios: Zwischen die Kammerspielmomente im Verhörraum rutschen Rückblenden. Befragungsfetzen mit der Ärztin, mit der Witwe, dem Sohn, der Chefin.
Die Ebenen sind argumentativ geschnitten, auf ein Indiz folgt ein Gegenbeweis, eine stichhaltige Erklärung, die alles entkräftet (Cutterin Barbara Brückner verdient einen Extrapreis dafür). Es fehlte Geld? Heimliche Einkäufe für die Alten, Schnaps, Pralinen, Blutwurst. Anne hatte auf einmal viel Kohle? Kam vom geheimen Kindsvater, hier, kein Ding, sie ruft ihn an.
Dann kreisen Bootz und Lannert die Motive ein. Und am Ende steht sie splitternackt da, die bittere Wahrheit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Trumps Personalentscheidungen
Kabinett ohne Erwachsene