Aktivismus in Kasachstan: Eine Brise Frühling
In Kasachstan kämpfen junge AktivistInnen für die ersten wirklich freien Wahlen seit 1989. Zwei von ihnen sitzen deshalb bereits im Gefängnis.
Minütlich klingelt mein Handy, es hört nicht auf zu blinken. Solidaritätsbekundungen, Aktionen, Artikel, Kommentare. Es sind Nachrichten aus Kasachstan, dem Land, in dem ich geboren wurde und in das ich seit einigen Jahren regelmäßig reise. Die Nachrichten werden immer beunruhigender. Es geht um polizeiliche Vorladungen, Blitzurteile, Haftstrafen. Am 1. Mai schlugen Polizisten auf DemonstrantInnen ein.
Ausgelöst haben diese Protestwelle zwei junge AktivistInnen – Asya Tulesowa und Beibarys Tolymbekow. Am 21. April hielten sie während eines Marathons in Almaty, der größten Stadt Kasachstans, ein Banner hoch. Darauf stand: „Du kannst nicht vor der Wahrheit wegrennen“. Auf dem Banner standen auch die Hashtags #adilsailayushin (#fürfairewahlen) und #уменяестьвыбор (#ichhabeeinewahl). Die beiden AktivistInnen wurden in polizeilichen Gewahrsam genommen und am nächsten Tag in einem Blitzverfahren für den Verstoß gegen das Versammlungsrecht zu je 15 Tagen Haft verurteilt. Drei weitere junge Menschen bekamen Geldstrafen. Asya Tulesowa befindet sich seit Haftantritt im Hungerstreik.
Kasachstan wurde bis vor Kurzem von Nursultan Nasarbajew regiert, und das seit 1989. Im März ist Nasarbajew zurückgetreten. Dem Willen seiner UnterstützerInnen nach sollte dann alles sehr schnell gehen: Die vorgezogenen Präsidentschaftswahlen wurden für den 9. Juni angesetzt.
Interimspräsident Kassym-Jomart Tokajew ist der Kandidat der regierenden Partei Nur-Otan. Er wird kaum Raum für alternative KandidatInnen zulassen, da sind sich ExpertInnen einig. Seine erste Amtshandlung war es, die Hauptstadt Astana nach Nasarbajew umzubenennen – sie trägt jetzt dessen Vornamen: Nursultan. Wegen dieser Entscheidung kam es schon Ende März zu Protestaktionen und Festnahmen.
Amnesty spricht von politischen Häftlingen
Einen Tag nachdem die AktivistInnen Asya Tulesowa und Beibarys Tolymbekow inhaftiert wurden, fand in Almaty eine spontane Podiumsdiskussion statt. Dimasch Alsanow, Politologe der OSZE, bestätigte, dass es in Kasachstan zwar Wahlen, aber keine Wahl gibt: „Keine der bisherigen Wahlen in Kasachstan wurden von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa als fair eingestuft. Die gesamte politische Landschaft ist konstruiert. Am Wahltag hat man lediglich die Wahl aus dem, was vorab für einen entschieden wurde.“
Um dieses Ohnmachtsgefühl ging es Tulesowa und Tolymbekow. Mit ihrem Banner sprachen sie vielen KasachInnen aus der Seele, die sich außerhalb der sozialen Netzwerke nicht trauen, die Stimme zu erheben. Dass die Haftstrafen, von gravierenden Verfahrensfehlern mal ganz abgesehen, für eine friedliche Meinungsäußerung ungerechtfertigt sind, meinen nicht nur Tausende UnterstützerInnen. Auch Tatiana Tschernobil, Beraterin für Menschenrechte in Almaty, findet: „Nicht umsonst wurden sie in einer Erklärung von Amnesty International als politische Häftlinge bezeichnet.“
Über Tolymbekow ist bekannt, dass er ein Programmierer, Feminist und linker Aktivist ist, der am Tag seiner Inhaftierung seinen Armeedienst antreten wollte. Asya Tulesowa ist eine vertraute Figur in den aktivistischen Kreisen Almatys, ja ganz Kasachstans. Sie ist Gründerin der Civic Foundation, pflanzt für diese eigenhändig Parks, kämpft gegen die Bebauung von Naturschutzgebieten und redet bei fast jeder Begegnung in unaufgeregtem Ton über Dinge, die die Gesellschaft ihrer Meinung nach bewegen sollten. Eines ihrer wichtigsten Projekte ist die App Almaty Urban Air (AUA) – sie informiert die BewohnerInnen der Stadt täglich über das (meist alarmierende) Smoglevel.
Jemanden wie Tulesowa würde man in Deutschland bei den Grünen vermuten. In Kasachstan ist ihr Engagement eine kostbare Ausnahme. Erst recht in der „goldenen Jugend“, wie ihre Generation der Intellektuellen, Bürgerlichen oder Bessergestellten genannt wird. In Zeiten einer Öffnung nach außen und eines gewissen, wenn auch ungleich verteilten Wohlstands war es in Kasachstan bis vor Kurzem nahezu chic, zwar kosmopolitisch zu sein, aber bewusst unpolitisch zu bleiben.
Eine Welle von Solidaritätsbekundungen
Tulesowa war einige Jahre im Ausland, sie hat in San Francisco studiert und gearbeitet. Im Gegensatz zu vielen anderen kam sie danach zurück nach Kasachstan. Bei einem Innovationsfestival 2018 sagte sie: „Ich möchte Stereotype aufbrechen und den Leuten nahebringen, dass wichtige Ideen von jedem Menschen ausgehen können und müssen, der seine Stadt liebt, und nicht nur von Menschen mit Krawatte. Ich wünsche mir weniger Formalismus – er zerstört alles.“
Die Gerichtsverhandlung, in der Asya Tulesowas Haftstrafe bestätigt wurde, wurde live auf Facebook und Instagram gestreamt. Eine Unbekannte stand unter Tränen auf und bot an, an Tulesowas Stelle ins Gefängnis zu gehen, damit die Geschichte sich nicht wiederhole.
Tulesowa ist Urenkelin des Poeten Ilyas Zhansugurow und des kasachischen Nationalhelden Uraz Jandosow. Beide fielen den stalinistischen Repressionen zum Opfer, 1938 wurden sie erschossen. Spätestens bei diesem Fakt schreien viele der sonst unbeteiligten KasachInnen auf. Denn nahezu jede kasachische Familie war vom Terror Stalins betroffen. Zwischen 1930 und 1933 starben 38 Prozent der Bevölkerung beim Holodomor, der großen Hungersnot.
2019 wurde zum Jahr der Jugend in Kasachstan ausgerufen. Und siehe da, da ist sie, die Jugend, die sehen will, was sie in diesem Land bewegen kann. Die Bilanz seit dem Marathon am 21. April: Sechs Verurteilte, zwei davon in Haft, eine davon im Hungerstreik, etwa 80 festgenommene DemonstrantInnen. Eine Welle von Solidaritätsbekundungen, Crowdfunding für Geldstrafen, eine Reihe von Ein-Personen-Demonstrationen, weil die nicht verboten sind. Diskussionen, Kunst, zivile Initiativen. Ist das die Wende, die mit sich bringt, dass sich die progressive Jugend Kasachstans nicht mehr nur in angesagten Cafés trifft, sondern auch in den tristen Gängen von Gerichtsgebäuden oder ihren digital übertragenen Live-Räumen?
PolizistInnen rufen dazu auf, die Bevölkerung zu schützen
Asya Tulesowa hat schon vorher in der Politik mitgemischt. 2016 wollte sie bei lokalen Wahlen kandidieren. Wegen einer Abweichung in ihrer Steuererklärung in Höhe von 78 Tyin (umgerechnet 0,2 Cent) ging das nicht. Auch damals ging sie damit an die Öffentlichkeit, erfolglos.
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Heute wird ihr Name laut gerufen, wenn es um WunschkandidatInnen für die Regierungsspitze geht. Andere sehen ihren und Tolymbekows Namen bereits in den Geschichtsbüchern der Zukunft. Und weitere AktivistInnen schließen sich an: Am Montag wurde der Künstler Roman Sacharow in den frühen Morgenstunden in Almaty von der Polizei aufgegriffen. Er hatte ein Banner mit einem Zitat aus der kasachischen Verfassung an einer Brücke aufgehängt: „Die einzige Quelle der Staatsmacht ist das Volk“. In einem Blitzverfahren wurde er zu fünf Tagen Haft verurteilt. Vor Gericht wurde jedoch nicht das Banner verhandelt, sondern ein angeblicher Verstoß gegen die öffentliche Ordnung – Sacharow soll Kabelbinder, Klebeband und Stoffreste unsachgemäß entsorgt haben. In der Nacht wurde die Haft zu einer Geldstrafe abgemildert – und Sacharow kam frei.
Bereits zwei Tage zuvor wandten sich drei maskierte Mitarbeiter der Polizei in einem Handyvideo an die eigenen KollegInnen und riefen dazu auf, sich dem Schutz der Bevölkerung zu widmen und sich nicht korrumpieren zu lassen. Die Polizisten schließen mit den Worten: „Wir wollen das eigene Volk nicht unterdrücken. Wir wollen nicht die Henker und Strafkommandos des eigenen Volks sein. Wir wollen den Respekt und nicht die Verachtung der zukünftigen Generationen. Wir sind für faire Wahlen. Für das Recht jedes Bürgers, zu wählen und gewählt zu werden. Wir stehen mit dem Volk.“
Es ist kaum möglich, allen aufgebrachten Stimmen in Kasachstan zu folgen. Aber zwei neue Wörter fallen vereinzelt in Instagram- und Telegram-Kanälen auf: „Qazaq Koktemi“, „kasachischer Frühling“.
Es fühlt sich an, als würde eine neue politische Brise durch das sonst sehr auf sein Saubermann-Image bedachte zentralasiatische Steppenland wehen, das sich selbst gern als demokratisch sieht und sich auf der internationalen Bühne als „neutral“ gibt, wie bei der Ende April abgehaltenen Friedenskonferenz für Syrien. Nicht umsonst machten kürzlich auch hier die Worte des in der Ukraine frisch gewählten Präsidenten Wolodimir Selenski die Runde: „Postsowjetische Länder, schaut uns an! Alles ist möglich!“
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