Vor den Wahlen in der Ukraine: Da hört der Spaß auf
Am Sonntag geht es um die Zukunft der Ukraine. Armut und Krieg prägen das Land. Und was passiert? Ein Komiker führt in allen Umfragen.
Mit seiner vulgären Ausdrucksweise schade er dem Ruf der Schule, meint die Direktorin. Grund der Vorwürfe war ein heimlich aufgenommenes Video eines Schülers, bei dem der Geschichtslehrer einen Kollegen beleidigt hatte.
Ganz anders jedoch dieses Gespräch. Mit Tränen in den Augen vor Rührung und vor versammelter Lehrerschaft gratuliert die Schuldirektorin ihrem geschätzten Wasil Petrowitsch. Sie überreicht ihm einen großen Kuchen, lässt Schülerinnen einen Folkloretanz für den plötzlich in der Achtung der Schuldirektorin gestiegenen Wasil Petrowitsch tanzen. „Mein Gott“, so die Schuldirektorin, „wer hätte gedacht, dass ich jemals einen leibhaftigen Präsidenten der Ukraine unter meinen Lehrern habe“, sagt die Dame.
Bis hierhin geht es um eine Unterhaltungssendung im ukrainischen Fernsehen. Nichts Wichtiges also, so könnte man meinen. Gespielt wird der Lehrer Wasil Petrowitsch aber von dem populären Schauspieler und Komiker Volodimir Selenski. Und das Schauspiel könnte schon bald Realität werden. Denn der 41-Jährige Selenski kandidiert bei den Präsidentschaftswahlen in der Ukraine am kommenden Sonntag. Er will den im Land so unbeliebten Amtsinhaber Petro Poroschenko ablösen. Absurd? Von wegen. In den Umfragen steht Selenski mit großem Abstand auf Platz eins, weit vor Poroschenko und seiner Widersacherin Julia Timoschenko.
Was ist denn da los? Und wer ist dieser Selenski?
Die Realität holt die Satire ein
Um sich einer Antwort auf diese Frage anzunähern, empfiehlt es sich zunächst, die Karriere seiner Kunstfigur, des Geschichtslehrers Wasil Goloborodko, einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Der hatte es in der Serie „Der Diener des Volkes“ gewagt, die Regierung zu kritisieren. Ein Schüler nahm das Gespräch heimlich auf und postete es auf YouTube. Schlagartig wird Wasil Goloborodko, der Lehrer, alias Volodimir Selenski, dem Schauspieler, berühmt. Seine Schüler überreden ihn, für das Amt des Präsidenten zu kandidieren.
Tania Kosianchuk, Journalistin
Lev Koksharov, Kommunikationswissenschaftler
Eines Morgens, Goloborodko steht im Unterhemd in seiner Wohnung, hat wieder einmal erfolglos Mutter und Schwester gebeten, sein Hemd zu bügeln, klingelt es an der Tür. Hochrangige Staatsbeamte und zwei muskulöse Bodyguards kommen zu den Goloborodkos in die Wohnung. „Guten Morgen, Herr Präsident“, begrüßt der Beamte den staunenden Geschichtslehrer. Und sie nehmen den fassungslosen Mann mit. „Völlig unerwartet ist ein einfacher Lehrer von Kiew, der Geschichtslehrer Wasil Goloborodko, mit 67 Prozent der abgegebenen Stimmen zum Präsidenten der Ukraine gewählt worden“, erklärt die Nachrichtensprecherin auf dem Bildschirm in der schwarzen Präsidentenlimousine. Auch US-Präsident Obama und Bundeskanzlerin Merkel kommentieren in der Satire die „unerwartete Wahl von Goloborodko“.
Sichtlich überfordert stellt sich der Geschichtslehrer seiner ersten Pressekonferenz. Doch die vielen Fragen zeigen Goloborodko seine Grenzen auf. „Ich sage es Ihnen ehrlich“, gesteht der frisch gebackene Präsident in der Satire. „Ich bin auf dieses Gespräch nicht vorbereitet. Lassen Sie uns ein andermal zusammenkommen.“
Der Titel der Sendung wird zum Parteinamen
Es ist diese Offenheit, diese Authentizität eines Mannes, der sich nicht nur über die Schwächen anderer lustig macht, sondern auch eine große Portion Selbstironie mitbringt, die den Schauspieler des Lehrers Goloborodko, Volodimir Selenski, so viele Sympathien einbringen und ihn tatsächlich bis ins Amt des Präsidenten tragen könnten.
Das Video aus der Serie „Der Diener des Volkes“ mit Volodimir Selenski in der Rolle des Geschichtslehrers Wasil Goloborodko ist über 20 Millionen Mal bei YouTube aufgerufen worden. Doch seit dem Jahr 2017 handelt es sich bei „Der Diener des Volkes“ nicht nur um die erfolgreichste Fernsehserie in der Ukraine mit Volodimir Selenski in der Hauptrolle. Denn da wurde eine Partei gleichen Namens registriert.
Wie Selenski dem Präsidenten die Schau stiehlt
Die letzten Stunden und Minuten des Jahres 2018 gehören auf dem ukrainischen Fernsehkanal 1+1 der Komikergruppe von Volodimir Selenski namens „Quartal 95“. Es sind nur noch wenige Minuten bis Mitternacht. Unter Applaus schließt sich der Vorhang, und eingerahmt von Weihnachtsbäumen macht Selenski einen Schritt in Richtung Kamera. „Guten Abend, liebe Zuschauer. Gleich sind wir im neuen Jahr, dann machen wir mit unserer Sendung ‚Das Abendquartal‘ weiter. Doch in meiner kleinen Pause möchte ich mit Ihnen ein offenes Wort reden.“ Er habe sich entschieden, erklärt er weiter, dass er etwas in der Ukraine verändern möchte, und werde deswegen für das Amt des Präsidenten der Ukraine kandidieren.
Gerade weil sich die 75-sekündige Erklärung des Kandidaten Selenski von dem Getöse unterscheidet, mit dem Poroschenko und Timoschenko ihre jeweilige Kandidatur angekündigt hatten, hat es die bescheidene Erklärung von Selenski in sich. Verkündet hat er seine Kandidatur nicht zufällig auf dem Kanal 1+1. Der Sender hat den Showstar groß gemacht. Und er gehört einem Intimfeind von Präsident Poroschenko, dem Oligarchen Ihor Kolomojskyj.
Auch der Zeitpunkt der Erklärung ist bemerkenswert. Landesweit gehören die letzten Minuten des Jahres der Ansprache des ukrainischen Präsidenten. Dass Kandidat Selenski seinen Konkurrenten Poroschenko einfach in das neue Jahr hat schieben lassen, wird als eine bewusste Provokation des Oligarchen Kolomojskyj angesehen. Auch das Abspielen der Nationalhymne nach Selenskis Rede verleiht diesem bereits den Hauch eines großen Staatsmannes. So beginnt der Wahlkampf des Komikers Wolodimir Selenski.
Eine Partei mit ganzen vier Seiten Programm
Auch in der neu gegründeten Partei ist der bekannteste Schauspieler der Ukraine und Vater zweier Kinder gleichzeitig Drehbuchschreiber und Regisseur. Wobei die Ziele der Vereinigung ziemlich im Unklaren bleiben: „Der Diener des Volkes“ bezeichnet sich als sozialdemokratisch und sozialliberal.
Das Parteiprogramm umfasst gerade einmal vier Seiten. Das Einzige, was von Kandidat Selenski bekannt ist, ist dessen Absicht, im Prozess um einen Frieden in der Ostukraine stärker auf Verhandlungen zu setzen. Im Sprachenstreit erwartet niemand von dem Komiker, der vorwiegend russisch spricht, ein weiteres Zurückdrängen des Russischen. Ansonsten verspricht er mehr Straßenbau und die Beteiligung aller Bürger am nationalen Reichtum.
Sicherlich wird sich der Politiker Selenski in manchem von dem Komiker Selenski unterscheiden. Doch eines ist beiden Rollen gemeinsam: Wie ein roter Faden zieht sich die Verunglimpfung von Selenskis Konkurrenten, Julia Timoschenko und Petro Poroschenko, durch sein künstlerisches Schaffen.
Das Programm: Verunglimpfung der Gegner
In einem im Februar 2018 veröffentlichen und fünf Millionen Mal auf YouTube angeklickten Video konterkariert das „Quartal 95“, die Sendung von Selenski, die politische Elite der Ukraine. In dem Bühnenstück kommt „Regierungschef Groisman“ eine Idee. Poroschenko solle sich, wenn er wissen wolle, wie sein Umfeld wirklich über ihn denke, auf das Sofa legen und sich tot stellen. Nur schnarchen dürfe er nicht. Dieser lässt sich auf seinen inszenierten Tod ein und muss zu seinem Entsetzen feststellen, wie wenig echte Trauer folgt.
Der ganze Saal biegt sich vor Lachen, als ein „Vitali Klitschko“ – so der Name des Bürgermeisters von Kiew – dessen Tod mit den Worten kommentiert: „Und dabei hat er erst gestern erfahren, dass es gar keinen Weihnachtsmann gibt.“ Und der „Premier“ zieht an den Beinen des „toten“ Präsidenten, sagt weinerlich: „Und diese Beine sind immer vorangegangen.“
Alles andere als traurig reagiert auch eine Frau mit einem Haarkranz, offensichtlich ein Double von Julia Timoschenko, als sie hört, der Präsident habe sich mit einer Praline vergiftet. Freudestrahlend ruft sie immer wieder: „So eine Trauer, so eine Trauer.“
Wie der Kandidat Show und Politik erfolgreich verknüpft
Nach einem Treffen mit westlichen Botschaftern Mitte Januar, bei dem diese sich wunderten, wie unvorbereitet der Politiker Selenski selbst bei einfachen Fragen gewesen sei, scheint man im Wahlkampfstab des Kandidaten zu der Auffassung gekommen zu sein, dass es zunächst besser sei, weder Interviews zu geben noch an TV-Debatten teilzunehmen. Noch einmal kann sich der Kandidat eine derartige Blamage nicht leisten.
Selenski scheint zu spüren, dass er nur punkten kann, wenn er auf seinem Terrain kämpft. Und das sind die Veranstaltungen mit seiner Truppe, dem „Quartal 95“.
An einem Samstag Mitte März reicht der 5.000 Menschen fassende Sportpalast der ostukrainischen Metropole Charkiw nicht aus für die Massen, die Selenskis „Quartal 95“ sehen wollen. Kurzerhand mietet der Veranstalter den Sportpalast für gleich zwei Veranstaltungen am selben Tag an. Beide sind ausgebucht, vor allem mit jugendlichem Publikum.
In seiner Wahlkampfshow macht Selenski das, was er in den vergangenen Jahren auch gemacht hat: Er zieht die herrschende politische Elite durch den Kakao, arbeitet sich an deren persönlichen Schwächen ab, präsentiert seine politischen Konkurrenten als armselige Gestalten. Und all das ist gespickt mit Sex und Sexismus.
Julia Timoschenko, so Selenski, träume immer noch von hohen Umfrageergebnisse, habe aber nicht begriffen, dass ihr Stern im Sinken begriffen sei. Parlamentssprecher Andrij Parubij, der etwas lispelt, parodierte „Quartal 95“ so, dass man ihn praktisch nicht verstehen kann. Ein Schauspieler, der Vitali Klitschko spielte, muss deswegen als Dolmetscher fungieren.
Er sei kürzlich mit dem Bus durch Europa gefahren, erzählt Selenski seinem Publikum. In Amsterdam angekommen, habe er natürlich sofort das Rotlichtviertel aufgesucht. Aber wer fünf Tage in einem Bus gesessen habe, könne dort keine Dame mit einer besonderen Stellung beeindrucken, gesteht er seinem Publikum. Damit auch der Letzte begreift, was er damit meint, setzt er sich zusammengekauert mit angezogenen Beinen auf einen Stuhl.
Wenig später tritt eine Angela auf die Bühne, die ihn der Vergewaltigung bezichtigt. Selenski fragt Angela nach den Begleitumständen. Und die antwortete: „Mein Auftraggeber hat mir nur gesagt, dass ich einen bestimmten Text auswendig lernen und sagen solle. Niemand hat mir gesagt, dass ich auch Fragen beantworten soll.“ Wieder ist sich Selenski des Gelächters des Publikums sicher, das sofort die Anspielung auf bezahlte Anschuldigungen begreift.
Wie Selenski die Bevölkerung in Fans und Gegner spaltet
Doch nicht jeder findet die Einlassungen komisch. Die Kiewer Journalistin Tania Kosianchuk kann Selenski nicht ertragen. Jedes Jahr sei sie am 1. April zu Besuch in der Schwarzmeer-Metropole Odessa, erzählt sie. In Odessa, dieser Hauptstadt des Humors, ist der 1. April ein Feiertag. Und so gäben sich alle namhaften Komiker des Landes dort ein Stelldichein. „Aber dieses Jahr habe ich unangenehme Erinnerungen an den 1. April. Dieser Selenski hat mir echt den Feiertag verdorben. Immer wieder diese Witze über Prostitution, Pornografie. Nein, ich mag es nicht, wenn man sich durch Witze unter der Gürtellinie Applaus erheischen will. Insbesondere dann nicht, wenn auf der Veranstaltung Kinder sind“, sagt Kosianchuk.
Auch der in Charkiw tätige Kommunikationswissenschaftler Lev Koksharov hält nichts von Selenski. „So viel Inkompetenz habe ich nicht erwartet. Der kann nicht einmal formulieren, wie er sich einen funktionierenden Staat vorstellt. Ich denke, er formuliert nichts, weil er nichts hat, was es zu formulieren gibt. Ich denke, dieser Mann ist keine eigenständig handelnde politische Figur. Er ist nur Marionette anderer, die mit ihm ihre eigenen Fragen lösen“, sagt Kosharov.
Eine Zuschauerin der Show in Charkiw erinnert sich an ein Video, in dem sich Selenski über Bundeskanzlerin Angela Merkel lustig gemacht habe. „Wie will Präsident Selenski mit Merkel zusammenarbeiten, wenn sich Komiker Selenski über sie lustig gemacht hat?“, fragt sie.
„Selenski wird sich, sollte er gewählt werden, mit einigen Politikern wichtiger Staaten treffen müssen. Doch wie soll er zu diesen eine vernünftige Arbeitsbeziehung aufbauen, wenn er sich über die gleichen Personen als Komiker lustig gemacht hatte?“, fragt sich auch der Charkiwer Journalist Juri Larin.
Erinnerungen an die Zeit der Sowjetunion
Ganz anders reagiert die 71-jährige Rentnerin Nadia, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte. Sie lebt von einer Rente von 70 Euro im Monat. Diese bessert sie sich durch die Teilnahme an Demonstrationen und Gottesdienstbesuche auf, bei denen sie Essenspakete geschenkt bekommt. Nadia sagt, sie hasse vor allem zwei Personen: Petro Poroschenko und seine Widersacherin Julia Timoschenko. Dem Präsidenten verzeiht sie nicht, dass aus seinem engen Umfeld Waffen und militärische Ersatzteile aus Russland eingeschmuggelt und zu erhöhten Preisen weiterverkauft wurden. Und dann ist da noch der Neujahrsurlaub der Poroschenkos vor einem Jahr auf den Malediven, der angeblich 500.000 Dollar gekostet hat. Und Julia Timoschenkos Kleidung koste mehr, als sie in ihrem Leben an Rente erhalten habe.
Selenski erhält auch deshalb Zustimmung, weil er, der vornehmlich Russisch spricht, damit an die Sowjetzeit anknüpft. Nadia liebt ihn dafür. Die russische Sprache verknüpft sie mit einer Zeit, als die Welt noch in Ordnung war, man nach der Schule eine Arbeit erhielt, die Rente zum Leben ausreichte, Strom und Gas erschwinglich waren und man im Krankenhaus eine korrekte Behandlung erwarten konnte.
Wahrscheinlich, sagt Nadia, werde Selenski es nicht schaffen, mit den Oligarchen und der Korruption aufzuräumen. Aber zumindest könne er die weitere Verarmung des Landes verlangsamen. Im Gegensatz zu Poroschenko und Timoschenko sei Selenski zumindest kein Dieb. Und er werde mit Russland und den „Volksrepubliken“ im Osten des Landes verhandeln. Eine militärische Eskalation, meint die Rentnerin, die die meiste Zeit ihres Lebens in Donezk gelebt hat, werde es unter Selenski nicht geben.
Am 1. April, einen Tag nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen, wird bekannt sein, welcher der Präsidentschaftskandidaten in die Stichwahl kommen wird. Volodimir Selenski, für den als Komiker der 1. April ein Feiertag ist, wird an diesem Tag wohl gleich zwei Gründe zum Feiern haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau