Kolumne Schlagloch: Geschwächte Wucht der Enthüllung
Macht erhält sich heute nicht mehr durch Geheimniskrämerei. Enthüllungen führen dazu, dass das Volk Bescheid weiß – und abstumpft.
E inst war Geheimniskrämerei das oberste Gebot der Staatskunst. Begriffe wie „graue Eminenz“ oder „Strippenzieher“, Persönlichkeiten wie Kardinal Richelieu oder Richard „Dick“ Cheney stehen stellvertretend für eine Politik im Hintergrund, die alles Wesentliche vor dem Licht der Öffentlichkeit verbirgt und alles Sichtbare als Schein und Trug inszeniert. Machtpolitik bestand zu einem wichtigen Teil aus Ablenkung sowohl der Feinde (wie alle klassischen Kriegsratgeber postulieren) als auch der eigenen Gesellschaft (zumindest der einflussreichen Kreise).
Da das entscheidende Wirken im Verborgenen erfolgte, waren journalistische oder aktivistische Enthüllungen von beachtlicher Sprengkraft, weil sie in einem dramatischen Akt des Entschleierns etwas zum Vorschein brachten, das zuvor nur befürchtet wurde. Die Spekulation, injiziert mit Beweisen, gerann zu einem verlässlichen Porträt dubioser oder gar diabolischer Machenschaften.
Gerade solches Licht im Dunklen dient als Vorbild für das Genre der Verschwörungstheorie. Denn wenn gelegentlich etwas aus undurchsichtigen Tiefen an die Oberfläche geschwemmt wird, was uns schockiert und beunruhigt, was lauert wohl noch im Schatten unserer Kenntnis, und wie viel heftiger wäre unsere Reaktion, wenn wir über sämtliche Netzwerke, Kabale und Verflechtungen Bescheid wüssten, die für die stabile Existenz von Macht, Geld und Gewalt sorgen?
So weit, so klar im Reich des Opaken. Was lange galt, scheint aber nun infrage gestellt zu werden. Die Strategie gegenwärtiger Präsidialpaten, an vorderster Front Donald Trump, besteht zunehmend darin, nicht mehr von den eigenen Verfehlungen abzulenken, sondern diese mithilfe einer Lügen- und Geständnismaschinerie derart laut zu verstärken und penetrant zu wiederholen, dass die Öffentlichkeit – mit Ohrstöpseln bewaffnet – narkotisiert auf das eigene Entsetzen starrt.
Allgegenwart von Geldwäsche, Betrug und Korruption
„Die politische Lüge hat eine Art unheilige Immunität erlangt“, schrieb Louis Menand neulich im New Yorker, „weshalb Lügner, wenn sie erwischt werden, nicht mehr darüber klagen, dass sie missverstanden worden sind.“ Im Gegenteil: Wer die neue Kunst beherrscht, der beschuldigt einfach die Ankläger der Lüge.
Weil Falschheit vermeintlich überall lauert, erscheint die sich dynamisch verändernde Welt noch verwirrender – und ethisch unentzifferbar. Wir glauben an alles und nichts, vermuten, dass jede Geschichte möglich sein könnte und doch wahrscheinlich unwahr ist. Das ist das Paradoxon unserer Zeit: Obwohl die Öffentlichkeit aufgrund inflationärer Unwahrheit alles potenziell für eine Lüge hält, ist sie bereit, vieles zu glauben.
ist Schriftsteller, Weltensammler und Autor zahlreicher Bücher, darunter: „Macht und Widerstand“ (S. Fischer Verlag). Im Jahr 2017 erschien, ebenfalls bei S. Fischer.
Durch das tägliche Bombardement mit Skandalen aller Couleur wird die ethische und emotionale Wucht der Enthüllung geschwächt. Ein Exhibitionist, der immer wieder nackt herumstolziert, wird in Gegenwart einer wachsenden Zahl anderer Exhibitionisten weitaus weniger negativ auffallen als zuvor. Empörung ist Ausdruck einer Sensibilität, die abstumpft, wenn sie täglich eingefordert wird. Exhibitionistische Aufrüstung führt zu einem Absterben der Entrüstung.
Das Wort „demoralisieren“ deutet es schon an: Die darin enthaltene Lähmung ist nicht Folge eines Moralverlusts. Vielmehr beschreibt es eine Moral, die angesichts von ethischem Chaos, selbstgefälliger Ignoranz und absichtlicher Dummheit erschöpft in den Seilen hängt. Abgelenkt wird zwar immer noch von der Oligarchisierung der Welt und der Zerstörung solidarischer Strukturen, nicht aber von einzelnen Aspekten dieser Entwicklung.
Die vielfältigen Enthüllungen der letzten Jahre tragen zu dieser Abstumpfung bei. In dem Maße, in dem Leaks, etwa die Panama Papers, ganze Bibliotheken von kriminellem Verhalten zugänglich gemacht haben, gewöhnen wir uns an die Allgegenwart von Geldwäsche, Betrug und Korruption, von Raffgier und sexueller Übergriffigkeit, bis das, was einst „Schattenwirtschaft“ oder „Sünde“ hieß, von geradezu zwangsläufiger Selbstverständlichkeit erscheint. Willkür als Naturgesetz – das ist der größtmögliche Erfolg jeder macht- und vermögenserhaltenden Strategie.
Das Geheimnis muss nicht mehr gelüftet werden
„Wenn das Volk es nur wüsste“ hat ausgedient als Stoßgebet des politischen Engagements. Das digitalisierte Volk weiß Bescheid oder hat Zugriff auf Wissen, die Medien wissen es und publizieren es manchmal sogar, die Politiker wissen es auch. Das große Geheimnis muss nicht mehr gelüftet werden – wir sind dabei, uns so sehr an seinen Anblick zu gewöhnen, dass wir es kaum mehr wahrnehmen.
Verstärkt wird die Unsichtbarkeit des Evidenten durch die Überproduktion an Verschwörungstheorien. So behauptet etwa die absurde „Chemtrail“-These, die laut einer repräsentativen Befragung immerhin von 18 Prozent der BürgerInnen in Deutschland „geglaubt“ wird, dass böse Wissenschaftler giftige Chemikalien in der Hemisphäre versprühten, um das Klima zu manipulieren und die Menschen zu dezimieren. Diese perfiden Strippenzieher hätten sich Zugang zu Verkehrs- und Militärflugzeugen verschafft. Beweis: die Kondensstreifen.
Verwirrend an der Popularität solcher Verschwörungstheorien ist, dass der real existierende Kapitalismus gleichzeitig in planetarischem Ausmaß Umwelt und Klima zerstört und Menschen krank macht. Das ist allzu bekannt, die ökologische Zerstörung ist somit kein Aufreger mehr, die altmodische Fantasie eines geheimen Komitees aus Wissenschaftlern (die neuen Bösewichte) hingegen sorgt immer noch für Aufregung.
Verschwörungstheorien sind keineswegs auf die Spitze getriebene Enthüllungen, sondern affirmative Ablenkungen. Wenn wir Wahrheit und Natur kaputtgehen lassen (durch einen eleganten konspirativen Doppelschlag gegen beide), bleibt am Ende nur noch eines übrig: das Geld. Und dass Geld schmutzig ist, regt seit etwa zwei Jahrtausenden niemanden mehr auf.
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