Obdachlose aus Osteuropa in Deutschland: Der sogenannte Sog
Immer mehr Obdachlose aus Osteuropa zieht es nach Deutschland. Wie kann man ihnen helfen? Beispiele aus Berlin, Köln und München.
Nüchtern wirken die gelb gestrichenen Flure und die Zimmer mit den Klappbetten, auf denen gefaltete Laken und Decken liegen. Doch was in der Vorgebirgsstraße in Köln startet, ist eine Art Vorzeigeprojekt: die Notübernachtungsstätte soll sich speziell an Obdachlose aus dem EU-Ausland richten.
„90 Schlafplätze gibt es in der Einrichtung und sobald wir die Möbel bekommen, öffnen wir auch das Tagesangebot im gleichen Haus“, sagt Andreas Hecht, Fachbereichsleiter beim Kölner Sozialdienst Katholischer Männer e.V., der das Haus betreibt. Die Einrichtung bietet jetzt, in der Winterzeit im Rahmen des Kälteschutzprogramms Übernachtungsplätze für Hilfesuchende aller Nationalitäten.
Doch im April, soll das frisch renovierte Haus als Übernachtungsstätte speziell für Obdachlose aus dem EU-Ausland weitergeführt werden, mitsamt einer Beratungsstätte zu Jobsuche, Unterkunft oder Heimatrückkehr.
Köln ist damit vorne dran in einer politischen Diskussion, die in vielen Stadtverwaltungen schwelt: Soll man Obdachlose aus dem EU-Ausland, die sonst in Schlafsäcken und Zelten irgendwo in Parks oder unter Brücken nächtigen, besser und gezielter mit Schlafplätzen versorgen? Oder doch lieber nicht, um keinen „Sogeffekt“ zu erzeugen, der Arme aus Rumänien, Bulgarien oder Polen erst recht in die deutschen Städte zieht?
Bloß kein Heimatgefühl
Ansprüche auf Hartz IV oder auf eine dauerhafte Unterbringung im Wohnheim haben obdachlose EU-Bürger in der Regel nicht. Aber in deutschen Metropolen gibt es Suppenküchen, Pfandflaschen, Obdachlosen-Zeitungen zum verkaufen, Schlafplätze zumindest in der Kälteperiode, manchmal Gelegenheitsjobs: das kann attraktiver sein als die Situation im Herkunftsland.
Hecht kennt die Debatte um den „Sogeffekt“ und sieht sie kritisch. „Die Leute sind doch sowieso hier“, sagt er, „wir beraten die Menschen. Wir bieten ja keine dauerhaften Wohnheimplätze an“.
In der Vorgebirgsstraße müssen die Leute tagsüber raus und können erst am Abend wieder zum Schlafen kommen. Jeder muss sich ausweisen. Ein dauerhaftes Heimatgefühl soll nicht entstehen. Der Standard sei „bewusst nicht besser als in anderen Obdachloseneinrichtungen“, sagt Hecht. Die Stadt Köln finanziert das Projekt mit mindestens 650 000 Euro im Jahr.
Auch Klaus Honigschnabel, Sprecher der Inneren Mission in München, kann einen „Sogeffekt“ „so nicht beobachten“. Obwohl sich in München die Standards etwas verbessert haben, habe dies nicht zu einem Anstieg der Zahl der Obdachlosen aus der EU geführt.
Kein Alk, keine Hunde
Oft habe die Hoffnung auf Arbeit Rumänen und Bulgaren nach Deutschland gebracht, sagt der Sprecher. Manche EU-Bürger finden zwischendurch immer mal wieder Jobs, in der Nähe des Hauptbahnhofs in München gibt es den sogenannten „Arbeiterstrich“, wo Gelegenheitsjobber auf Angebote warten.
Wie viele sind es?
Eine behördliche Statistik gibt es nicht. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) schätzt, dass es rund 860.000 Wohnungslose in Deutschland gibt. Viele von ihnen sind psychisch krank oder suchtkrank. Rund 52.000 der Wohnungslosen sind obdachlos, haben also keinen festen Heimplatz.
Wer sind sie?
Mehr als die Hälfte der Wohnungslosen sind Geflüchtete. Manche obdachlose EU-BürgerInnen haben in Deutschland Gelegenheitsjobs gehabt, diese aber verloren.
Alle Hilfesuchenden, auch EU-Bürger, können im Winter in einer ehemaligen Kaserne, der sogenannten Bayernkaserne, als Notquartier nächtigen. Der Münchner Stadtrat hat jetzt beschlossen, die Bayernkaserne erstmals auch im Sommer für die Obdachlosen offen zu halten. „Im Winter gibt es 850, im Sommer dann noch 300 Schlafplätze“, berichtet Honigschnabel.
Hilfesuchende müssen sich aber zuvor in einer Beratungsstelle ausweisen und registrieren lassen. Sie bekommen dort eine Einweisung, die jeweils nur für sieben Nächte in der Bayernkaserne gilt, aber erneuert werden kann. Mit der Einweisung in der Hand können sie kostenlos mit Bus und Bahn etwa vom Hauptbahnhof zur Bayernkaserne fahren. Auch sie müssen tagsüber raus aus der Schlafstätte.
Nicht wenige Obdachlose wollen aber gar nicht in eine Unterkunft, weil sie sich dabei namentlich registrieren lassen müssen, weil sie weder Alkohol noch Hunde in die Schlafstätten mitbringen dürfen. Das schreckt ab und die Leute bevorzugen daher den Aufenthalt irgendwo draußen in Zelt und Schlafsack.
Vom Tabu zum Dauerthema
Doch Zelt-Camps im öffentlichen Raum werden immer wieder geräumt, so in München vor einigen Wochen ein Camp in der Innenstadt und in Berlin ein Camp in Hauptbahnhofsnähe.
In Berlin kümmern sich seit 2013 die MitarbeiterInnen des Projekts „Frostschutzengel“ des sozialen Trägers Gebewo um osteuropäische Obdachlose. Sie gehen in die Notübernachtungen, Suppenküchen oder Wärmestuben und bieten Beratung unter anderem auf Bulgarisch, Russisch oder Polnisch an.
Vor fünf Jahren habe man mit den Behörden nicht einmal darüber reden dürfen, dass immer mehr Polen in die Notschlafstellen kämen, berichtet Robert Veltmann, Geschäftsführer der Gebewo. Die Träger hätten Angst gehabt, dass ihnen die Mittel gestrichen würden, wenn sie dieser Klientel helfen. „Heute redet die ganze Stadt darüber“, so Veltmann. Die osteuropäischen Obdachlosen sind hier so viele geworden, dass weggucken nicht mehr geht.
„Armut wird international“, sagte kürzlich Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke). Seit August 2018 gibt es ein neues Projekt der katholischen Caritas, von Stadtmission und Gebewo, das auf wohnungslose EU-BürgerInnen zugeschnitten ist.
Camps – räumen oder lassen?
Ähnlich wie bei den Frostschutzengeln nehmen mehrsprachige SozialarbeiterInnen in den Anlaufstellen für Obdachlose Kontakt auf und klären in Einzelgesprächen, wer welche Ansprüche hat. Rund 300.000 Euro pro Jahr lässt sich der Senat das Projekt kosten.
Die Debatte über den Umgang mit Obdachlosen ist in Berlin erst in der vergangenen Woche wieder hochgekocht: Nachdem die taz ein Video von der rabiaten Räumung eines Obdachlosencamps nahe des Hauptbahnhofs veröffentlichte, zeigten sich Landespolitiker empört.
Sozialsenatorin Breitenbach will sich nun mit den Bezirken auf einen einheitliche Umgang mit solchen Lagern verständigen. Geht es nach ihr, werden Camps für eine gewisse Zeit geduldet, damit Sozialarbeiter mit den BewohnerInnen, darunter häufig auch Osteuropäer, gemeinsam nach Lösungen suchen können.
Dem erteilte der Bürgermeister von Berlin Mitte, Stephan von Dassel (Grüne), umgehend eine Absage. Die Gefahr sei zu groß, dass Riesencamps oder viele kleine Lager entstünden, sagte er der taz.
Freiwillige Rückkehr oder Abschiebung
„Wir wollen niemanden abschieben“, sagte kürzlich der langjährige Leiter der Bahnhofsmission am Zoo, Dieter Puhl, zur Debatte um die EU-Bürger. Es müsse aber in Zusammenarbeit mit den Heimatländern mehr Angebote geben, um die Menschen zur Rückkehr zu bewegen.
Eine polnische Stiftung hat bereits zwei Sozialarbeiter geschickt, die in Berlin versuchen, ihre Landsleute zur Rückkehr zu bewegen. Der Bezirk Neukölln wiederum schickt osteuropäische Obdachlose in Bussen zurück in ihre Herkunftsländer, sagte Sozialstadtrat Jochen Biedermann (Grüne). „Das ist ein freiwilliges Angebot für Menschen, die unter anderen Vorzeichen hierher gelockt wurden.“
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