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Kommentar LebensmittelverschwendungTonnen, an die sich niemand traut

Tanja Tricarico
Kommentar von Tanja Tricarico

Lebensmittelretter*innen werden bestraft. Die Bundesregierung sollte lieber die Verschwendung von Essen unter Strafe stellen.

Rund 11 Mio. Tonnen Lebensmittel werden jedes Jahr in Deutschland weggeworfen Foto: photocase/nild

W eg mit den Gurken. Schließlich hat die Schale ein paar Macken. Und der Joghurt erst. Pfui, das Mindesthaltbarkeitsdatum läuft an diesem Tag ab. Essen kann den doch keiner mehr. Rund 11 Millionen Tonnen Lebensmittel werden jedes Jahr allein in Deutschland weggeworfen. Die Supermärkte sortieren alles aus, was der Kundschaft nicht mehr gefallen könnte. Die Gurke mit Macken gehört dazu, die Konserve mit Delle oder die Nudelpackung, auf der das Werbebild schief sitzt. Diese Lebensmittel sind nach vor genießbar, nur vermeintlich unverkäuflich.

Verzweifelt versucht die Bundesregierung, die Lebensmittelverschwendung in Deutschland einzudämmen. Per App soll die Bevölkerung lernen, wie sie Essen so einkauft und verwendet, dass keine Reste bleiben. Bundesernährungsministerin Julia Klöckner (CDU) appelliert, belehrt, prangert an. Ihr Ministerium hat sogar richtig Geld in die Hand genommen, um etwa Kampagnen an Schulen zu fördern. Es hilft alles nichts. Das Essenwegwerfen geht munter weiter. In den Geschäften, aber auch zu Hause. Dabei wären Fortschritte so einfach.

Zum Beispiel mit strengen Vorgaben, mit Vorschriften, mit einem Gesetz, das Strafen vorsieht, wenn genießbares Brot oder Gemüse zuhauf in der Tonne landet. Dem Vorbild Frankreichs oder Tschechiens zu folgen, davor scheut sich die Bundesregierung. Sowohl die amtierende Ernährungsministerin Klöckner als auch ihr Vorgänger Christian Schmidt (CSU) verirrten sich lieber in freiwilligen Selbstverpflichtungen.

Dabei würde sich das eine oder andere Bundesland durchaus an ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung wagen. Nordrhein-Westfalen stellte bereits einen Entwurf vor, wurde aber wieder ausgebremst. Vom Schreckgespenst der „Müllpolizei“, war die Rede, von „Kühlschrank-Razzien“. Vor allem die Geschäfte wollen Polizei und Behörden nicht gerne in ihre Hinterhöfe lassen. Stattdessen werden eben die Lebensmittelretter*innen bestraft. Denn für ihre vermeintlichen Vergehen gibt es Gesetze.

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Tanja Tricarico
Ressort ausland
Schreibt seit 2016 für die taz. Themen: Außen- und Sicherheitspolitik, Entwicklungszusammenarbeit, früher auch Digitalisierung. Seit März 2024 im Ressort ausland der taz, zuständig für EU, Nato und UN. Davor Ressortleiterin Inland, sowie mehrere Jahre auch Themenchefin im Regie-Ressort. Privat im Einsatz für www.geschichte-hat-zukunft.org
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9 Kommentare

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  • 7G
    7964 (Profil gelöscht)

    Hilf Dir selbst, wenn dir sonst keiner hilft. Die Gier der Regierung ist unersättlich - es wird über "freiwillige Selbstverpflichtung" nicht hinausgehen.

    Wir bekommen eine Biokiste, da gibts auch Äpfel mit Flecken und Macken. Aber wir essen die Äpfel und nicht die Macken.

    Unser Nachbar baut ums Haus (statt Gartenzwergen und Friedhofsbäumen) Kartoffeln und Tomaten an. Hilf Dir selbst, wenn dir sonst keiner hilft.

  • Ein wichtiges Thema! Die größte Lebensmittelverschwendung beginnt allerdings schon weit davor: So werden für die Herstellung von 1 kg Fleisch etwa 7 kg an Futtermitteln benötigt. Da verwundert es nicht, dass die University of Minnesota 2013 zu dem Ergebnis kam, dass vier Milliarden Menschen mehr ernährt werden könnten, würde die gesamte Getreideernte zu Nahrungsmitteln und gar nichts mehr zu Futtermitteln für Rinder, Schweine oder Geflügel verarbeitet.

    Eine interessante Studie des Weizmann Institute of Science zeigt darüber hinaus auf, dass durch die Umstellung auf eine rein pflanzliche Ernährung in den USA 350 Millionen Menschen zusätzlich satt werden könnten.

    www.spiegel.de/wis...hren-a-914457.html

    www.spiegel.de/wis...gen-a-1200031.html

  • Danke für den aufschlussreichen Artikel.



    Ich habe lange Zeit geglaubt, die (Regierungs-)Politiker in Deutschland seien mehr am Gemeinwohl interessiert und unabhängiger von finanzstarken Gruppen wie Lebensmittelkonzernen und Agrarlobby als Politiker anderer Länder. Ich stelle von Jahr zu Jahr fest, daß ich mich geirrt habe. Was Frau Klöckner vertritt, ist unglaublich.

  • Ein Verschwendungsverbot würde dazu führen, dass verderbliche Produkte wie Frischmilch, Erdbeeren oder Sojasprossen plötzlich überall doppelt so viel kosten und trotzdem spätestens am Mittag ausverkauft sind. Sonderangebote wie 500 Gramm Broccoli für 0,29 Euro, auf die viele arme Menschen angewiesen sind, wird es dann niemals mehr geben.

    Essen ist in Deutschland nur so billig, weil man auf den zur Verfügung stehenden Feldern so viel Lebensmittel wie möglich produziert und lieber gute Milch als billiges Milchpulver nach Afrika exportiert, als Preisexplosionen zu riskieren.

    Es ist unsozial oder zumindest ignorant gegenüber den Schwächsten der Gesellschaft, ein Verbot der Verschwendung von Lebensmittel zu fordern.

    Verbrecher, die das System ausnutzen, um sich selbst zu bereichern und anderen zu schaden, sollten dafür ins Gefängnis gehen.

    • @Mareike:

      Vielleicht gäbe es dann viel öfter das Sonderangebot von 0,29€ für Broccoli, als "roter Preis", weil der Handel noch mehr in Zugang steht, den Kram zu verkaufen...



      Oder aber wir lernen auf Erdbeeren im Winter zu verzichten, bzw. den Drang danach auf ein Minimum zurückzuschrauben...

    • @Mareike:

      Die systematische Vernichtung von Ressourcen ist natürlich ein super Weg die Schwächsten unserer Gesellschaft zu unterstützen. Wesentlich effektiver als beispielsweise über staatliche Institutionen (nach Vorbild der Tafeln) unverdorbene Lebensmittel selbigen kostenlos zur Verfügung zu stellen.



      Des weiteren ist übrigens Krieg Frieden, Freiheit Sklaverei und Unwissenheit Stärke.

    • @Mareike:

      @MAREIKE



      Sie stellen Milch und Milchpulver als großes Problem dar. Leider finde ich dazu aber keine Statistiken.

      Für Deutschland scheint das so auszusehen



      www.spiegel.de/wir...mme-a-1169694.html

      Ich möchte Sie zudem auf 360.000 Tonnen von der EU eingelagertes Milchpulver hinweisen.



      www.dialog-milch.d...chmarkt-in-afrika/



      www.houndsandpeopl...-der-agrarpolitik/

      "so viel Lebensmittel wie möglich produziert"



      Es kommt sehr darauf an, was produziert wird. Für Tierfutter ist das der Fall, bei Lebensmitteln sieht das schon etwas anders aus.



      [und hängt auch vom Verbraucher ab, was der kauft]

      "Verbrecher, die das System ausnutzen, um sich selbst zu bereichern"



      Je Form von Wirtschaftssystem nutzt strukturelle Abhängigkeiten aus, die nur durch Druck korrigiert werden.

      Ich hoffe sehr, dass dieser Vorrat zur künftigen Notversorgung und nicht Ausbeutung genutzt wird.

  • Die Bundesregierung KANN nichts unter Strafe stellen. Das bleibt dem Gesetzgeber vorbehalten.

  • Willkommen in Bürokratien. Jeder Pups einer Privatperson wird in gesetzliche Regelwerke betoniert, aber wehe Industrie und Handel müssen reglementiert werden, dann werden aus Tempolimits schnell, vermeintlich, ökologisch nutzlose Maßnahmen.