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hartz IVDer Abschied als Signal

In der Götterdämmerung der Großen Koalition taucht die Hartz-IV-Debatte wieder auf. Das eröffnet die Chance auf eine Neuorientierung der Sozialpolitik

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Martin Kempe

ist freier Autor und hat vor 40 Jahren die taz mitgegründet. Bis 2007 war er Chefredakteur des ver.di-Mitglieder­magazins „ver.di Publik“

Die rot-grüne Sozialreform von 2005, nach dem 2007 wegen Korruption verurteilten ehemaligen VW-Manager Peter Hartz benannt, ist nach jahrelanger Versenkung wieder in die politische Arena zurückgekehrt. Andrea Nahles kündigt an, die SPD wolle im Zusammenhang mit ihrer Diskussion über programmatische Erneuerung „Hartz IV hinter sich lassen“. Robert Habeck von den Grünen schlägt vor, Hartz durch ein garantiertes Grundeinkommen zu ersetzen, auf das alle einen gesetzlichen Anspruch haben sollen.

Prompt gab es aus der Union zu beiden Vorhaben ablehnende Stimmen. Die jetzigen Regelungen sollten nicht infrage gestellt werden, vor allem die Sanktionsmöglichkeiten, mit denen Hartz-IV-Empfänger zur Arbeitsaufnahme gezwungen werden, seien unverzichtbar. Wir erinnern uns: Es war seinerzeit vor allem die Union, die im Vermittlungsausschuss dafür sorgte, dass der Gesetzentwurf der damaligen rot-grünen Regierungskoalition durch repressive Sanktionsbestimmungen ergänzt wurde.

Die aktuellen Äußerungen aus SPD und Grünen-Partei zur Zukunft von Hartz IV zeigen, dass die damaligen „Reformen“ in der Götterdämmerung der Großen Koalition wieder zum aktuellen Thema werden – und dass sich eine sozialpolitische und vielleicht auch parteipolitische Neuorientierung ankündigt. Jahrzehntelang hat der Streit um Hartz IV die Parteienkonstellation der Bundesrepublik geprägt: Einerseits verlor die SPD ihre Bündnisfähigkeit zur Linken. Komplementär dazu hat sich die Linkspartei in ihrer grundsätzlichen Kritik an Hartz IV bequem eingerichtet, während die seinerzeit mitverantwortlichen Grünen zu diesem Thema mehr oder weniger abgetaucht sind. Jetzt könnte die angekündigte Abkehr von Hartz IV hin zu besseren sozialstaatlichen Standards das Tor für eine jahrzehntelang blockierte Diskussion innerhalb und zwischen den Mitte-links-Parteien endlich aufstoßen.

Es reicht nicht aus, allein auf eine Änderung der Hartz-IV-Bestimmungen zu setzen. Wenn es um die Definition von Standards der sozialstaatlichen Mindestsicherung geht, muss gleichzeitig der prekäre Bereich des Beschäftigungssektors mit in den Blick genommen werden. 1,2 Millionen Erwerbstätige verdienen gegenwärtig in Deutschland so wenig, dass sie auf zusätzliche Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind, stellte der „Schattenbericht“ der Nationalen Armutskonferenz kürzlich fest. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs, denn arm trotz Arbeit ist man auch bei einem Verdienst knapp über Hartz-IV-Niveau.

Wenn die Attraktivität von Erwerbsarbeit auch im Niedriglohnsektor in Zukunft bei einem höheren Niveau sozialer Mindestsicherung gewährleistet werden soll, muss der gesetzliche Mindestlohn deutlich angehoben werden, zum Beispiel auf 12 Euro, wie die Hamburger SPD vorgeschlagen hat. Gleichzeitig ist es notwendig, unternehmerische Willkür (Leiharbeit, Befristungen, Scheinselbstständigkeit, Minijobs und so weiter) zu begrenzen und den Menschen mehr Sicherheit innerhalb ihrer Beschäftigungsverhältnisse zu geben. Der in jahrzehntelanger neoliberaler Gesellschaftspolitik auf letzte Reste zusammengeschrumpfte zweite Arbeitsmarkt muss wieder aufgebaut werden, um auch denjenigen eine Chance zu selbstbestimmtem Leben und beruflicher Qualifizierung zu geben, die auf dem kommerziellen Arbeitsmarkt keine Chance haben. Das sozialdemokratisch geführte Arbeitsministerium hat Ansätze dazu bereits angekündigt.

Schließlich muss auch das Arbeitszeitgesetz den unterschiedlichen und sich je nach Lebenssituation verändernden Zeitbedürfnissen der Arbeitenden angepasst werden, kombiniert mit dem Ausbau einer quantitativ und qualitativ ausreichenden Betreuungsinfrastruktur für Kinder und Alte. Nur so kann verhindert werden, dass Menschen, zum Beispiel alleinerziehende Eltern, aus dem Erwerbssektor gedrängt werden, also neue Arbeitslosigkeit und daraus resultierende Hilfsbedürftigkeit entsteht.

Man kann Hartz IV nicht einfach nur hinter sich lassen, wie die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles es möchte

All diese Themen zukünftiger Sozial- und Arbeitsmarktpolitik müssen mitgedacht werden, wenn ernsthaft über eine Alternative zu Hartz IV verhandelt wird. Selbstverständlich gehört dazu auch, dass das alles nicht umsonst zu haben ist. Mit dem Abschied von Hartz IV, mit einer umfassenderen Reform der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik wird die Frage aufgeworfen, wie der gesellschaftliche Reichtum in Deutschland neu und anders verteilt wird. Eine höhere Besteuerung des überbordenden privaten Reichtums zugunsten einer sozialstaatlich orientierten Politik dürfte heftigsten, mit populistisch zugespitzten Horrorszenarien untermalten Widerstand in Parteien und Medien hervorrufen. Aber wenn die Umverteilung offensiv vertreten wird, wenn nach jahrzehntelanger Begünstigung der Vermögenden und lähmender GroKo-Stagnation das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen mobilisiert wird, kann der Abschied von Hartz IV zum Signal für eine Neuorientierung der Politik werden.

Es geht also um mehr als nur die Abschaffung von Hartz IV. Es geht auch darum, dass sich die Mitte-links-Parteien – jede für sich und alle zusammen – untereinander bündnisfähig machen. Man kann Hartz IV nicht einfach nur hinter sich lassen, wie die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles es möchte. Es ist auch nicht wirklich überzeugend, wie der Grünen-Vorsitzende Habeck mal locker ohne weitere Zusammenhänge ein Grundeinkommen in den politischen Ring zu werfen. Und es wäre eine kurzsichtige Politikverweigerung, nur und immer wieder das Hartz-IV-System als unverzeihlichen Sündenfall der Sozialdemokratie anzuprangern – ein Abgrenzungsritual, in dem sich die Linkspartei mehr als zehn Jahre gefallen hat. Die Diskussionsanstöße von Nahles und Habeck eröffnen eine Chance für alle Beteiligten, wenn sie eine inhaltliche politische Debatte einleiten – parteiübergreifend und nicht parteitaktisch.

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