: Radikalkur für 1,5 Grad: Kohle-Aus bis 2030
Neue Studie provoziert die Kohle-Kommission: Wenn es Deutschland ernst meint mit dem Klimaschutz, muss es bis 2020 doppelt so viele Kraftwerke abschalten wie bislang geplant
Von Bernhard Pötter
„Wir dürfen beim Klimaschutz keine Zeit mehr verlieren“, sagte Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) vor zwei Wochen, als der Bericht des UN-Klimarats IPCC zur Erderwärmung von 1,5 Grad vorgestellt wurde. „Die nächsten Jahre sind entscheidend, damit unser Planet nicht aus dem Gleichgewicht gerät.“
Wie entscheidend die nächsten Jahre sind, haben Schulze und die restliche Regierung nun schriftlich: Wenn Deutschland seinen Anteil daran leisten will, dass der Klimawandel auf 1,5 Grad begrenzt wird, muss das Land bis 2030 komplett aus der Kohle ausstiegen, fordert ein aktuelles Gutachten der Expertengruppe „Climate Analytics“.
Ein solcher Notausgang für die Kohle sei „sozialverträglich und ohne Einschränkungen der Energiesicherheit“ zu leisten, heißt es. Und er sieht ein deutlich radikaleres Abschalten von Kohlekraftwerken vor: 16 Gigawatt (GW) an Kohleleistung, also etwa 30 Kraftwerke, müssten bereits bis 2020 zusätzlich zu den bislang geplanten 4,2 GW vom Netz. Das ist mehr, als die meisten anderen Ausstiegspläne vorsehen.
Die Studie von „Climate Analytics“ ist auf die Debatten der Kohlekommission gerichtet. Dort fordert etwa Brandenburg, noch „bis in die 40er Jahre“ Kohle zu fördern und zu verbrennen. Das aber wäre mit der deutschen Verpflichtung unter dem Pariser Abkommen und dem auch von Deutschland abgesegneten IPCC-Bericht zu 1,5 Grad nicht zu vereinbaren, zeigen die Berechnungen von „Climate Analytics“. Die Firma hat sich darauf spezialisiert, die Klimaschutzpläne der UN-Staaten zu durchleuchten.
Im aktuellen Report „Wissenschaftlich begründeter Kohle-Ausstiegspfad für Deutschland“ haben die Experten die globalen Modelle des IPCC auf Deutschland angewandt. Sie finden so den kostengünstigsten Weg zu 1,5 Grad: Aus der „Sichtweise des Regulierers“ würden zuerst vor allem die klimaschädlichen Braunkohle-Kraftwerke vom Netz genommen, aus der „Sichtweise der Kraftwerksbetreiber“ am Beginn die teureren Steinkohle-Kraftwerke. Im Ergebnis müssten die CO2-Emissionen aus der Energiewirtschaft bis 2020 um 60 Prozent gegenüber 1990 sinken – bisher plant die Regierung nur mit 39 Prozent.
Der Vorteil der Radikalkur aus Sicht der Analysten: Deutschland erreiche seine Klimaziele für 2020 und 2030 und rette seinen Ruf als Energiewendeland und Vorreiter beim Klimaschutz. Außerdem vermeide es 20.000 vorzeitige Todesfälle, 420.000 Asthmaanfälle bei Kindern, gebe Planungssicherheit und vermeide Investitionen, die sich bald nicht mehr lohnen.
Um das zu schaffen, sollten schnell zusätzlich 16 Gigawatt an Leistung abgeschaltet werden – mehr, als andere Konzepte zum Kohleausstieg etwa vom Fraunhofer-Institut oder der Agora Energiewende fordern. „Das Agora-Konzept kommt zu Abschaltungen von etwa 10 Gigawatt“, sagte Christoph Podewils, Sprecher der Agora Energiewende. „Aber wichtiger ist die Frage, wie viel CO2 vermieden wird. Das kann auch geschehen, wenn Kraftwerke nicht laufen, sondern im Reservebetrieb gehalten werden.“
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