Theater in Sachsen: So ein Drama
Der Regisseur Georg Genoux glaubt, dass Theater heilen kann. Jetzt versucht er es in Sachsen, in der Lausitz. Wird er scheitern?
Genoux hat in Moskau Regie gelernt und macht Dokumentartheater. Er hat lange in Russland gearbeitet, an einem Off-Theater, das schnell in die Schusslinie geriet. Er zog in die Ukraine um, wo er mit traumatisierten Soldaten und Schulkindern ihre Kriegserlebnisse verarbeitete. Die taz berichtete darüber (taz vom 16. 05. 2015). Jetzt kommt er mit seinem Theaterprojekt nach Deutschland, nach Sachsen. Ausgerechnet.
Seit fünf Monaten arbeitet er in Zittau, die taz hat ihn dabei begleitet. „Das Dokumentarische inszenieren: einen größeren Gegensatz gibt es kaum“, sagt Genoux auf dem Marktplatz. Er versucht etwas aus der Wirklichkeit auf die Bühne zu holen, etwas sichtbar zu machen, das man im Alltag nicht sieht. Der Regisseur legt die Sonnenbrille mit sehr kleinen Gläsern vor sich auf den Tisch. Es geht ihm um Verletzungen, beschädigte Biografien und unbeschädigte Träume. „Die Wirklichkeit noch wirklicher machen“, nennt er es. „Ich weiß, dass das angreifbar ist.“
Genoux ist überzeugt, „dass Theater heilen kann“. Man kann seinen Ansatz naiv finden. Aber Genoux’ Theater ist nicht didaktisch, kein Lehrstück, das die Zuschauer aufklären will und in dem die Leute hinter der Bühne immer schon Bescheid wissen. Im normalen Theater langweilt sich Genoux, „ich fühle mich da oft eher manipuliert“.
Genoux erhebt sich. Nach der Premiere geht es für ihn weiter. Gleich ist er mit dem Seniorentheater der Stadt verabredet, später mit den Rentnerinnen von Hagenwerder. Was er in Russland und dann in der Ukraine versucht hat, das will er jetzt in Sachsen versuchen. Kann das funktionieren?
Noch fünf Monate bis zur Premiere
Ende April 2018 reist Genoux das erste Mal nach Zittau, bleibt einen Monat. Er läuft wie doof durch die Gegend, quatscht Menschen an, niemand will sich mit ihm einlassen. Jedem stellt er sich mit den Worten vor: „Ich heiße Georg, ich mache für das Theater in Zittau ein Stück über Sachsen. Ich fahre viel rum, spreche mit Menschen. Hätten Sie auch mal Zeit, mir etwas über den Ort zu erzählen?“
Ein Gefühl, als läge eine Glocke über der Stadt, sagt er. Freundliche Reserviertheit, Misstrauen. Denken nicht eh alle, Sachsen wäre das Land, wo Rechtsextreme Brandanschläge auf Flüchtlingsheime verüben, wo die Nazis aufmarschieren, wo Fremde, vor allem Menschen anderer Hautfarbe, aus anderen Kulturkreisen nicht willkommen sind?
„Gut so, dann kommen wenigstens nicht so viele zu uns.“ Das hört er hier öfter. Eine Mischung aus Trotz, Beleidigtsein, Bestätigung. Er würde gerne dahinterkommen, warum sie so denken.
Georg Genoux’ „Multikulti-Ottensen“, wie er den Stadtteil in Hamburg nennt, in dem er aufwuchs, ist mental wie geografisch weit weg von der Oberlausitz. Viel weiter weg als Polen oder Tschechien, die sich in Spuckweite befinden: einmal über die Neiße, bitte. Und mit denen man die sozialistische Vergangenheit teilt. Und den Kohlestaub, den das Kraftwerk Turów auf der polnischen Seite nach wie vor in die Luft bläst. Gemein.
Mehr als zwanzig Jahre hat Genoux in Moskau gearbeitet, in Kiew und Sofia Theater geleitet. Vor zwei Jahren gastierte er mit einer Produktion beim „Dreiländer-Spiel“. Die Zittauer Intendantin Dorotty Szalma lud ihn ein, wiederzukommen, Genoux sagte zu. Das Projekt „Das Land, das ich nicht kenne“ (www.fremdland.org) nahm erste Gestalt an. Zwei Jahre lang will Genoux durch Sachsen reisen, Kontakt mit den Menschen, ihren Orten, ihrer Geschichte aufnehmen. Verweilen, Tagebuch führen, kleine Theaterstücke entwickeln, Jugendliche mit der Videokamera porträtieren, am Ende soll ein Dokumentarfilm entstehen.
In Zittau fühlt er sich zu Beginn mehr wie ein Stolperstein denn als Brückenbauer, sagt er.
Vorhang auf
Hier bin ich geboren, wo die Kühe mager sind wie das Glück. (Gundermann)
Im Kino läuft er noch, der Film von Andreas Dresen über Gerhard Rüdiger Gundermann, den Sänger und Baggerführer, Kommunisten und Stasi-Spitzel. Der nachts in seinem Bagger hoch oben über den Kohlegruben im Wind schaukelte und melancholische Alltagsbeobachtungen in sein Diktafon sprach. Kühe und Bagger sind verschwunden, die Reviere weitestgehend renaturiert, die Grenzen offen; nur das Glück ist mager geblieben in der Oberlausitz. Die nach der Wende prophezeiten fetten Jahre fielen aus, kamen anderen zugute. Zumindest sehen das viele Menschen hier so, sie artikulieren ihren Unmut, sie wählen die etablierten Parteien ab, sie wundern und ärgern sich, dass Sachsen so einen schlechten Ruf hat.
Kein Name ist so belastet wie dieser. Wer heißt heute noch „Adolf“? Wir haben vier Männer unterschiedlichen Alters gefragt, wie dieser Vorname ihr Leben prägt – in der taz am wochenende vom 20./21. Oktober. Außerdem: Ein Regisseur will mit Theater heilen und probiert das jetzt in Sachsen. Eine Pomologin erklärt, wie sich alte und neue Apfelsorten unterscheiden. Und Neneh Cherry spricht über ihr neues Album. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Hoyerswerda und Umgebung, wo Gundermann bis zu seinem frühen Tod 1998 lebte, gehören zur Oberlausitz und damit zu Sachsen. Ebenso Zittau, das noch ein bisschen entlegener, noch ein bisschen versteckter im südöstlichsten Zipfel des Landes liegt und mit Tschechien und Polen ein Dreiländereck bildet. Als Sachsen noch planwirtschaftlich regiert war, befand sich hier der Ruhrpott der DDR, die Wäsche auf den Leinen und die Schneemänner waren schwarz. Heute glitzern die in den Kohlegruben entstandenen Seen einsam im Spätsommerlicht und die Ausflugslokale tragen verheißungsvolle Namen wie „Blaue Lagune“.
Heimat ist etwas, das sich verändert, wie wir uns verändern. Die Heimat kann einem plötzlich fremd werden. So ergeht es Genoux, als er nach vielen Jahren nach Deutschland wiederkommt. Und so ergeht es den Lausitzern.
Genoux stolpert also durch die Gegend, im Juli kommt er wieder. Wer stolpert, stößt Steine an, die wild durch die Gegend kullern. Manche landen im Aus, manche stoßen andere an und setzen etwas in Bewegung. Genoux lernt Menschen kennen, die ihm ihre Geschichte erzählen, ihn mit anderen bekannt machen. Die Glocke über der Stadt lichtet sich. Kreise, die einander nicht berühren, öffnen sich – oft nur für einen kurzen Moment.
Genoux besucht eine Wohngruppe junger Geflüchteter aus Afrika, trifft sie auf ihrem Ausflug nach Hamburg. Könnte er die jungen Männer mit dem Seniorentheater in Tandems zusammenspannen? Er trifft die Skater und BMX-Radler an der Halfpipe vor dem örtlichen Kaufland, die „eine kleine rechte Meinung“ haben. Könnte er sie mit Kunststücken in seine Inszenierung einbinden? Er lernt einen Kickbox-Trainer kennen, der bei Veranstaltungen Musik macht und Trompete spielt. Soll er ihn als Bühnenmusiker engagieren? Er trifft einen Ungarndeutschen und seine aus Schlesien stammende Frau, die ihm etwas über ihre Zeit in Zittau nach 1945 erzählen. Zwei Drittel der Bevölkerung waren Vertriebene, Geflüchtete. Könnte er ihre Erfahrungen im Prolog unterbringen? Er lernt die Schülerin Emma im Zug kennen, die eine freie Schule besucht, und macht sie mit Alfa bekannt, einem junge Mann aus Sierra Leone. Beide sind gleich alt, offen, neugierig. Sind sie geeignete Protagonisten für das Stück, für die Videoporträts?
Genoux sucht und verwirft. Er wird hingehalten und versetzt. Er erntet irritierte Blicke. Theater? Dokumentartheater? Zwischen Erzählen und Mitmachen, Auf-der-Bühne-Stehen, ist ein großer Unterschied. Am Abend des 3. Oktober, Tag der deutschen Einheit, soll schon Premiere sein. Der Titel steht fest: „Gerechtigkeit für Sachsen“.
Genoux fragt: „Versteht man die Anspielung auf den Handke-Text? „Gerechtigkeit für Serbien, das war ein sehr wichtiger Text für mich.“ Versteht man nicht. Ist ziemlich dick aufgetragen. „Alle assoziieren Dunkeldeutschland mit Sachsen. Ich will ein anderes Bild zeigen. Es ist wichtig, Menschen nicht in die rechte Ecke zu stellen. Du kriegst sie sonst nicht wieder raus.“ Und wenn sie das gar nicht wollen? Geschieht vielleicht trotzdem etwas mit ihnen.
Noch drei Monate bis zur Premiere
Hier gab es billigen Fusel auf Marke, und genau so sehen wir heute auch aus. Hier lässt man Fremde nicht gerne parken, es sei denn, sie geben einen aus. (Gundermann)
Ali Ahmadi möchte zum Theater. „Ich kann auch Hauptdarsteller“, sagt er im Juli. Treffpunkt ist die Pasta Fantastica, wo es selbstgemachte Limonade und Cappuccino gibt. Ahmadi wirkt selbstbewusst, er ist vom Theater angefixt. Derzeit macht er ein Praktikum im Krankenhaus, abends ist er Statist in „Die 7. Geisterstunde – Die Rückkehr des tollen Junkers“ auf der Waldbühne, die zum Zittauer Theater gehört. „Da kommen viele Leute“, sagt Ahmadi. Er ist 19, anerkannter Flüchtling aus Afghanistan. Schmal, nicht sehr groß, mit einer kecken dunklen Locke auf der Stirn.
Ahmadi kam 2016 als unbegleiteter Minderjähriger nach Deutschland und verbrachte die ersten anderthalb Jahre in einem Heim in Hirschfelde, einem Dorf nahe Zittau. Er gehörte zu den ersten vier Bewohnern dort. Als sein Freund Farid, auch ein Afghane, dort eintraf, begrüßte er ihn mit den Worten „Willkommen in der Hölle“. Die Betreuer warnten sie, alleine rauszugehen. Draußen war ohnehin nie jemand. Ahmadi fing an zu laufen, joggen, frische Luft, Freiheit atmen, die Straße nach Ostritz runter, „drei Minuten: Bäume, zehn Minuten: Bäume, vierzig Minuten: Bäume“. Seine Allein-Zeit-Straße nannte er die Strecke.
Wie lange war er auf der Flucht? Ein paar Monate, sagt er. „Aber ich war vorher schon Flüchtling, in Afghanistan.“ Ahmadi ist Hazara, eine ethnische Minderheit in Afghanistan, er spricht Farsi; mit 13 Jahren schickte ihn seine Mutter nach Kabul, sein Vater und sein Bruder waren von Taliban getötet worden. Er schlug sich allein in Kabul durch, aber irgendwann war auch das nicht mehr sicher. Er spricht nicht gern darüber. „Afghanistan, das habe ich alles gelöscht“, sagt er. „Neues Ali geboren.“ Der neue Ali hat in Zittau den Hauptschulabschluss nachgeholt, Jugendtheater gespielt, eine kleine Wohnung gefunden. Über dem Sofa hängt ein Plakat von „Fatima“, dem Stück, das Ali fürs Theater begeistert hat.
Seine ersten Sätze kann er heute noch auswendig: „Ich wette, wieder irgendein Araber, der zu spät dran war. Ich setze meine ganzen Ersparnisse darauf. Wer wettet dagegen?“ Ahmadi spielte den Bruder von Fatima, die nach den Ferien plötzlich Kopftuch trägt. Damals konnte er noch gar nicht richtig Deutsch, aber er lernte die Textstellen auswendig. Sein Deutsch ist heute noch nicht perfekt, aber wie bei den Einheimischen hat sich bereits ein „Noh“ statt Ja eingeschlichen. „Und nee heißt Nein“, sagt er und lacht. Lächeln und Danke sagen, das gefällt den Deutschen. Das hat er Georg Genoux erzählt, der bei ihrer zweiten Verabredung ein Aufnahmegerät mitbringt und daraus einen Text extrahiert. Nie ohne ihn absegnen zu lassen. So sammelt er Material für ein mögliches Stück.
Lange ist nicht klar, was für ein Stück das werden könnte. Mit wem überhaupt? Ali Ahmadi jedenfalls ist bereit.
Noch ein Monat bis zur Premiere
Hier sind wir alle noch Brüder und Schwestern, hier sind die Nullen ganz unter sich. Hier ist es heute nicht besser als gestern, und ein Morgen gibt es hier nicht. (Gundermann)
Georg Genoux ist mittelgroß, stattlich, durch Zittau wandert er wie ein russischer Bär, gemächlich, unaufgeregt, aufmerksam. Seine am Hinterkopf kurz geschorenen blonden Haare fallen ihm in die Stirn, meist ist er in Begleitung seiner russischen Lebensgefährtin Anastasia Tarkhanova, die ihm mit Videos und beim Bühnenbild hilft. Anfang September bezieht das Paar eine Gastwohnung in Zittau. Genoux trifft Leute, er trifft Leute wieder, er trifft eine Entscheidung. So wie er sich das anfangs vorgestellt hat, unterschiedliche Charaktere unterschiedlicher Herkunft unterschiedlicher Gesinnung miteinander übereinander reden zu lassen: Funktioniert nicht.
Was hat in der Ukraine funktioniert, was in Sachsen nicht geht? Immerhin hat Genoux dort vom Krieg versehrte Soldaten und Kinder zum Sprechen bekommen. „Es war auf bestimmte Weise fassbarer“, sagt Genoux. Die Personenkonstellation war klar: Ukrainische und russische Jugendliche, gemeinsam an einer Schule. „Aber dadurch war es nicht einfacher. Wie ein Chirurg konntest du mit einem winzigen Schnitt alles zerstören.“ Ein falsches Wort hätte genügt.
Was macht es dann in Sachsen so schwierig? Scheitert Genoux? Er sagt allen ruhig: „Ich mache das nicht zum ersten Mal.“ Er ist doch noch am Anfang, er braucht Zeit.
Genoux will kein „Tourismusprojekt“ machen. Mal kurz reinschauen, sich gruseln, wieder abreisen. „Du kannst hier nur etwas erreichen, wenn du langfristig arbeitest.“ Die afrikanischen Jugendlichen sind verschlossen, die Leute im Ort misstrauisch. Wenn die Leute nicht zu ihm auf die Bühne kommen, dann dreht er die Situation halt um. Er wird den Zittauern erzählen, wie es ihm hier geht. Was seine Begegnungen mit ihm machen. „Das ist ehrlicher.“ Das Thema AfD und Chemnitz will er draußen lassen. Seine Bibel des Dokumentartheaters besagt: „Du darfst nicht aus dem Tagespolitischen Kapital schlagen.“
Er wird den Zittauern von Hagenwerder erzählen.
„Warum hast du dich in Hagenwerder verliebt?“ – „Weil hier die Zeit stehen geblieben ist.“ – „Wann ist sie stehen geblieben?“ – „1997. Als das Kraftwerk und die Schule schlossen.“
Man könnte sagen: Hagenwerder hat ihn gewurmt. Und vielleicht war Hagenwerder auch fassbarer als Zittau. Der kleine Ort liegt eine halbe Stunde mit dem Zug entfernt. Hier leben Polen und Deutsche einvernehmlich nebeneinander her, Geflüchtete gibt es hier nicht Oberlausitz, Sachsen en miniature.
Hagenwerder
Hier kriege ich immer einen halbvollen Teller, an einem runden Tisch. (Gundermann)
Die einzige Kneipe von Hagenwerder heißt schlicht „Treff“. Oder Kiosk, Imbiss. Beim ersten Mal traute sich Genoux nicht rein. Zwei etwas finster blickende Typen vor der Tür, in der Straße parkte ein Auto mit der Aufschrift „Lächle du kannst nicht alle töten“. Beim zweiten Mal ist er mit zwei Freundinnen da. Wo kann man hier Zigaretten kaufen? An der Tanke, um die Ecke in Polen. Ein Typ am Tresen, Vorname Udo, sagt: Kein Problem, ich besorg euch welche. Er läuft los und kommt nach zehn Minuten wieder, zwei Päckchen in der Hand. Das Eis ist gebrochen. Der Hackbraten der Wirtin mundet. Man trinkt Bubenschulze, ein dunkles, malziges Bier, und grünen Pfeffi oder selbstgebrannten Schokolikör.
Genoux geht jetzt fast täglich hierher, macht Bekanntschaften, schließt erste Freundschaften. Die Sozialarbeiterin, die Rentnerinnen. Der Dissident, der Schäfer, der Dorfpolizist. Der Lackierer, der ehemalige Soldat und die Leute vom Fußballverein ISG Hagenwerder. Und Kalle, der AfD-Wähler, der ihm anderntags stolz die erhaltene Synagoge von Görlitz zeigt. Nicht gleich ausgrenzen, sagt Genoux zu sich selbst.
Alle hier haben eine Geschichte mit dem Ort, sie sind ja geblieben. Von 3.000 auf knapp 900 Einwohner geschrumpft: Noch da sind Kita, Laden, Kneipe. Die Sparkasse ist geschlossen, kein Bankautomat. Und kein Arzt, keine Schule, kein Krankenhaus, kein Kraftwerk und keine Braunkohle mehr: Hagenwerder ist heute ein ehemaliges Industriedorf, das nach Görlitz eingemeindet worden ist. Bei der Oderflut 2010 sind sie abgesoffen. Die Hilfsgelder landeten in Görlitz, sagen sie. „Wir waren schon immer ein bisschen vernachlässigt, Randlage eben.“ Abends spaziert Genoux über die Dorfstraße und wundert sich: Nur ein Fenster beleuchtet. Was tun die Leute hier?
Die Rentnerinnen spielen Rommé, immer donnerstags in der Kneipe. Frau Z. ist misstrauisch, ihren Namen will sie nicht preisgeben. „Wir hatten hier alles, als es das Kraftwerk noch gab“, erzählen die Damen. – „Dreckiger war’s schon.“ – „Genau, deswegen sind wir nie krank geworden.“ – „Wenn man sich politisch nicht befasst hat, dann hatte man ein gutes Leben.“ – „Hagenwerder ist nicht schlecht. Wir haben doch uns.“ Die Dorfgemeinschaft ist zusammengerückt. Wir sind Kumpel wie Sau, sagen die Männer dort. Fremde passen da nicht rein. Besucher werden geduldet. Und manchmal holt man ihnen sogar Zigaretten.
„Was werden Sie denken, wenn Sie zurückfahren?“, fragt Frau Z. die Journalistin.
Die Damen schlecken ihren Schokolikör aus. Elisabeth Wolnik, 88 Jahre alt, 1966 aus dem schlesischen Teil Polens zugezogen, sie unterhält die Runde mit ihren Sprüchen: „Gott erschuf die Menschen und ließ sie wachsen. Dann kam der Teufel und schuf die Sachsen.“
Längst ist Genoux in Hagenwerder kein Fremder mehr, eher ein Kuriosum. Die Leute können ihn nicht verorten: Mit seiner Freundin spricht er Russisch, er isst Hackbraten und trinkt Pfeffi wie ein Einheimischer. Genoux sagt: „Ich habe in Sachsen keine Rassisten getroffen. Ich habe nur Menschen getroffen, die Angst haben vor Fremden.“ Vor Fremden oder Fremdem? – „Beides.“ Viele hätten noch nie mit einem Geflüchteten geredet, glaubt er. „Man bekommt Hilfsbereitschaft nicht hin, indem man mit dem Finger auf Leute zeigt.“ Und hilfsbereit sind die Leute, darauf schwört er.
Aber dass die Rentnerinnen beim Theaterabend mitwirken – nicht daran zu denken. Aus ihrem vertrauten Umfeld sind sie nicht wegzulocken. Ein Abend über Hagenwerder, ohne die Hagenwerder? „Ich werde sie einladen“, sagt Genoux, „ich hoffe, sie werden kommen.“ Sie bekommen einen Ehrenplatz, am Rand der Bühne. Aber auf der Bühne.
Drei Tage vor der Premiere
Ali Ahmadi macht seit September eine Ausbildung zum Metalltechniker, vom Jobcenter finanziert. Die Krankenpflegeschule, das hat nicht geklappt, sein Zeugnis kam zu spät. Auf seinen Hauptschulabschluss ist er trotzdem stolz. „Mein erstes Zeugnis überhaupt“, sagt er. „Das bedeutet mir viel mehr als anderen.“ Ahmadi träumt weiter vom Theater. Etwas mit Menschen zu tun haben, reden können. Keine Allein-Zeit mehr.
Ahmadi sitzt auf dem ausladenden Sofa, die Musterung ein Geschenk der 80er Jahre und seiner Vermieterin. Er fühlt sich wohl im Haus, hält sich an die Hausordnung. Keine Störung der Nachtruhe nach 22 Uhr. „Ich weiß, in Deutschland springt niemand über das Gesetz.“
Zweieinhalb Seiten lang ist das Skript, das ihm Georg Genoux in die Hand gedrückt hat. Ein Konzentrat der Dinge, die Ali erzählt hat und die er preiszugeben bereit ist. Am Wochenende war er mit dem Regisseur und seiner Freundin zum ersten Mal in Hagenwerder. Sie sitzen im Treff, Ahmadi erzählt von seiner Ausbildung, und die an diesem Samstagabend kaum gefüllte Kneipe nimmt von ihm anscheinend keine Notiz. Der erwartete Showdown fällt aus. Später dreht Ahmadi mit dem Regisseur noch eine Runde durchs Dorf.
„Guten Abend. Mein Name ist Ali. Ich war in Ihrer Stadt.“ So fängt Ahmadis Beschreibung von Hagenwerder an, das ihm an diesem Abend dunkel und etwas unheimlich erschien. Er soll den Text am Premierenabend vortragen.
Hagenwerder erinnert Ahmadi an seine Zeit im Jugendwohnheim für unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Hirschfelde. Keine Leute dort, schon gar keine jungen. Er bedauert die Menschen in Hagenwerder. „Sie haben keinen Ort, wo sie hingehen können.“
Ali Ahmadi ist nervös, diese Art von Theater kennt er nicht. „Ich hatte immer eine feste Rolle“, sagt Ahmadi. „Diesmal muss ich lesen oder etwas erzählen.“ In eine andere Person zu schlüpfen sei viel einfacher, als etwas von sich zu erzählen. Über sein Leben in Hirschfelde, seine Ankunft in Deutschland. Neben Genoux und dem Musiker ist er der Einzige, der sich mitzuspielen traut. Der Regisseur will nicht, dass er seinen Text auswendig lernt oder vorliest. Da gehe viel verloren an Intensität, Spontaneität. Er wird ihm Stichworte geben, Fragen stellen.
Hast du Angst auf die Bühne zu gehen? – „Herzklopfen: auf jeden Fall. Aber das Adrenalin liebe ich.“ Ahmadi wird vor Aufregung einige Textstellen vergessen – aber er wird es hinkriegen.
Noch zwei Stunden bis zur Premiere
Seit Tagen bastelt Anastasia Tarkhanova in ihrer Wohnung im Pfarrhaus am Bühnenbild. Hagenwerder als Miniatur, Sachsen als Miniatur. Im Döner-Imbiss haben sie Pappkartons besorgt, in Görlitz Bastelutensilien. Aus den Kartons hat Tarkhanova Häuser geschnitten, Plattenbauästhetik der 50er Jahre, der Kneipe hat sie bunte Fenstertapeten verpasst, bis zwei Stunden vor der Premiere malt sie noch schwarze Tupfer auf die Fenster der Wohnhäuser. Die hellen Papphäuschen werden in der Mitte der Bühne stehen, die man wie einen Tisch umrunden kann.
Das Theater Zittau überlässt Genoux die Hinterbühne und stellt die Logistik: Licht, Ton, Bühnentechnik. Ein Honorar wollte er nicht, weil später der Film entstehen soll. Nächstes Jahr will er mit seinem Sachsen-Projekt Geld verdienen, neue Förderanträge stellen. Beim Sozialministerium hatte er Gelder beantragt, ohne Erfolg. Am Premierenabend wird die Zittauer Intendantin kommen, ebenso Vertreter der Theater in Bautzen und Dresden. Der Chefdramaturg soll die Publikumsdiskussion moderieren. Die sächsische Zeitung hat einen großen Vorbericht gebracht.
„Nervös?“ – „Nö.“
Georg Genoux wird den Erzähler machen, frei sprechen, zwei Tage hat er sich zurückgezogen und vorbereitet. Einzig die Frage, ob Leute aus Hagenwerder kommen, treibt ihn um.
Sie kommen.
Vorsorglich hat Genoux am Rand der Bühne vier Stühle aufstellen lassen. Es sind drei Herren aus Hagenwerder, die gebeten werden, dort Platz zu nehmen. Udo, Sebastian, Mike, so stellt Genoux sie dem Publikum vor. Zur Begrüßung drückt er ihnen ein Bier in die Hand. Wie schafft man es, dass sich die Menschen aus Hagenwerder nicht vorgeführt fühlen? Dass sich Ali Ahmadi nicht vorgeführt fühlt? Ist das Gerechtigkeit für Sachsen?
Man muss es gut machen, sagt Genoux.
Er macht es gut.
„Haben Sie Hagenwerder wiedererkannt?“, fragt der Moderator beim Publikumsgespräch. Etwa 50 Zuschauer sitzen im Saal. „Zum großen Teil“, antwortet Mike. „Was mich sehr berührt hat, ist das mit unserem Zusammenhalt.“
Sabine Seifert, 61, leitet in der taz das Ressort Reportage und Recherche. Während der Recherche schaute sie den Film „Gundermann“ und verstand die Lausitz danach besser. Für die taz wird sie verfolgen, wie Genoux’ Theaterprojekt in Sachsen weitergeht.
Mit Handschlag bedanken sich die drei Männer bei Genoux, Ahmadi und dem Musiker, der mit der Trompete das Schlesien-Lied gespielt hat. Denn Hagenwerder war schlesisch und damit preußisch, während Zittau zu Sachsen gehörte. Aber beides ist die Oberlausitz, wo das Glück stets mager ist und der Teller halbvoll.
Das Schlesien-Lied ist für Kalle, den AfDler, den Genoux im Hagenwerder Treff kennengelernt hat und mit dem er gemeinsam in Görlitz die Synagoge besichtigt hat. Heute ist Kalle beim Schlesien-Tag in Breslau, er hat sich entschuldigt.
Genoux widmet der Begegnung mit Kalle eine ganze Szene. Zwei Schnapsgläser stehen in einem der Papphäuschen, das eine ist grün und das andere braun gefüllt. Grün steht für Pfefferminzlikör, braun für Kräuterlikör. Ein Wetttrinken begann, erzählt Genoux da auf der Bühne, zwischen ihm, der sich stets als Grüner verstanden hat und Pfeffi trank, und Kalle, dem AfD-Wähler, der beim Kräuterlikör blieb.
Wer lange in Russland gelebt hat, kann beim Trinken mithalten. Derbe, rassistische Sprüche seien gefallen. „Merkel, die Sau.“ – „Noch von Honecker geschult und hier eingeschleust, um alles zu zerschlagen.“ – „Dieses Gesocks, was 2015 zu uns rübergekommen ist, die halten sich nicht an unsere Ordnung. Aber der Deutsche braucht Ordnung. So wie diese Tischdecke hier.“ Abwechselnd habe Kalle auf den Tisch gehauen und die Tischdecke gerade gezogen. „Ich weiß nicht“, zitiert Genoux am Ende Kalle, „wann ich zum letzten Mal einen Grünen umarmt habe.“
Der Vorhang zu, die Fragen offen
„Wir müssen uns dieser Denkweise, dieser Gefühlsweise stellen“, sagt Genoux auf dem Zittauer Marktplatz am Tag nach der Premiere. Das Schnitzel ist verspeist, der Kaffee trotz Sonne kalt geworden. „Verstehen heißt ja nicht gutheißen. Man muss zunächst mal akzeptieren, dass nicht alle hier Demokraten sind.“ Muss man das wirklich? Wird man damit Sachsen gerecht?
„Das Wort Gerechtigkeit gilt natürlich auch für Ali Ahmadi“, antwortet Genoux. „Man widerspricht sich bei diesem Thema ständig“, sagt er und lacht. „In 30 Jahren wird das hier ganz anders aussehen. Ali ist näher dran an Hagenwerder, als die denken.“
Auf dem großen Platz von Zittau nahe der Kirche St. Johannis haben Namenlose ein Bild des in Kandel ermordeten Mädchens aufgestellt. Der Text dazu lautet: „Die 15-jährige Mia wurde am 27.12.2017 in Kandel von ihrem afghanischen Ex-Freund, der sie zuvor mehrmals bedrängte und ihr nachstellte, erstochen.“ Was hat Kandel mit Zittau zu tun?
Genoux wird weiter durch Sachsen reisen. In Zittau fortführen, was er begonnen hat. Im Februar wird der Regisseur mit fünf afrikanischen Jugendlichen ein Stück über ihr Leben in Deutschland erarbeiten, dann das Seniorentheater dazuholen. Zwei der Jungs waren bei der Premiere am 3. Oktober dabei, fühlen sich durch Ahmadis Auftritt ermutigt.
Wie Ali Ahmadi die Aufführung gefallen hat? „Es war alles neu für mich“, sagt er. „Ich habe so etwas noch nie gesehen, noch nie gemacht. Aber dass man eine Stadt als Beispiel für alle nimmt, finde ich gut.“
Genoux will das Stück gerne noch einmal in Hagenwerder im Gemeindesaal aufführen, mit Ali Ahmadi. Dann kommen vielleicht mehr als drei aus dem Ort.
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