: Späte Suche nach Gerechtigkeit
Der ehemalige Führer der bosnischen Serben weigert sich, zum Prozessbeginn vor Gericht zu erscheinen, und plant, das Verfahren möglichst lange hinauszuziehen
■ Der Internationale Strafgerichtshof für Ex-Jugoslawien in Den Haag existiert seit 1993.
■ Verbrechen: Über 8.000 muslimische Männer und Jungen wurden beim Massaker in Srebrenica ermordet. 6 der 19 angeklagten mutmaßlichen Haupttäter wurden bislang verurteilt.
■ Verurteilt: General Radislav Krstić wurde wegen Srebrenica zu 35 Jahren Haft verurteilt.
■ Verstorben: Der ehemalige Präsident Serbiens, Slobodan Milošević, starb kurz vor Prozessende.
■ Gesucht: Sie sind noch flüchtig: Exgeneral Ratko Mladić sowie Goran Hadžić, Expräsident der selbsternannten Republik Krajina.
AUS SARAJEVO ERICH RATHFELDER
Hotel Holiday Inn in Sarajevo, im März 1992, kurz vor dem Krieg in Bosnien. Umringt von schwer bewaffneten serbischen Milizionären zeichnet Radovan Karadžić auf ein Blatt Papier, wie er sich die ethnische Aufteilung Sarajevos vorstellte. Nach den Vorstellungen des damaligen Vorsitzenden der „Serbischen Demokratischen Partei“ sollte die Altstadt den Muslimen vorbehalten bleiben, die Hochhaussiedlungen Novo Sarajevo, Novi Grad und Grbavica den Serben und der westliche Streifen den Kroaten.
Karadžić wollte die Bevölkerung in ganz Bosnien und Herzegowina zugunsten eines ethnisch reinen serbischen Teils auseinanderreißen. „Wir Serben können nicht mit anderen zusammenleben“, erklärte er damals. Die gemischte, multinationale und multireligiöse Gesellschaft konnte jedoch nur mit Gewalt zerstört werden. Als am 6. April 1992 serbische Soldaten auf Sarajevo vorrückten und damit der Krieg begann, wurde sogleich das politische Konzept des aus Montenegro stammenden Psychiaters umgesetzt. Serbische Milizen und Soldaten eroberten in der Folge zwei Drittel Bosnien und Herzegowinas.
In den großen Städten waren Listen von Menschen vorbereitet, die verhaftet werden sollten. Ziel war es vor allem, die kroatische und muslimische Ober- und Mittelschicht auszuschalten. Zehntausende wurden verhaftet und in Konzentrationslager – so Omarska, Keraterm, Manjaca – gesteckt. Tausende wurden dort gefoltert, getötet und vergewaltigt. Die serbische Soldateska rückte überall brutal vor und „säuberte“ ganze Landstriche von den zumeist völlig überraschten Nichtserben. Über zwei Millionen Menschen, fast die Hälfte der Gesamtbevölkerung, mussten fliehen. Fast 80.000 Menschen verloren in diesem Sommer 1992 ihr Leben. Wegen dieser Taten muss sich jetzt Karadžić vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag verantworten. Auch wegen der über dreijährigen Belagerung Sarajevos, wo 14.000 Menschen starben, darunter 1.800 Kinder. Und des im Juli 1995 erfolgten Angriffs auf die Enklave Srebrenica, wo Karadžićs Oberkommandierender, General Ratko Mladić, 8.300 Männer ermorden ließ. Gleich nach dem vom Gericht als „Genozid“ eingestuften Massaker von Srebrenica, am 25. Juli 1995, wurde die erste Anklage gegen Radovan Karadžić von der Staatsanswaltschaft des UN-Kriegsverbrechertribals veröffentlicht. Sie klagte Radovan Karadžić und Ratko Mladić wegen Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, schwerem Verstoß gegen die Genfer Konvention und Zuwiderhandlungen gegen Kriegs- und Gewohnheitsrecht an. Nach der Anklage tauchte er in den Untergrund ab.
Heute wissen wir, dass Karadžić als Alternativheiler Dragan Dabić lange Jahre in Belgrad gelebt und gearbeitet hat. Um seine Verhaftung am 21. Juli 2008 ranken sich noch einige Gerüchte. Während die offizielle Version lautet, er sei in einem Bus erkannt und von serbischen Polizisten verhaftet worden, geben Geheimdienstquellen in Sarajevo eine ganz andere Version an. Danach soll Dragan Dabić selbst einen Hinweis auf seine Identität gegeben haben. Auf seiner damaligen Website hatte er einen Link „young man“ gesetzt. Klickte man diesen Link an, zeigte sich das Gesicht des 17-jährigen und gut erkennbaren Radovan Karadžić. Der durch Bart und Haare verunstaltete Karadžić war also eitel genug, sich in voller Schönheit zeigen zu wollen. Wahrscheinlich, so diese Version, haben Kopfgeldjäger die Arbeit übernommen, ihn in Belgrad festzunehmen. Karadžić stützt selbst diese Version, er erklärte gleich nach seiner Ankunft in Den Haag, er sei tagelang in einer Wohnung festgehalten worden. Wie dem auch sei: Karadžić muss sich ab Montag wegen der begangenen Verbrechen verantworten.
Serge Brammertz, Chefankläger des Jugoslawien-Tribunals in Den Haag, will die Fehler des Milošević-Prozesses vermeiden. Der Prozess gegen den ehemaligen serbischen Präsidenten war nach seiner Ansicht viel zu breit angelegt, Milošević starb nach jahrelangem Prozess 2006 in Den Haag. So legte Brammertz den zuständigen Richtern eine rundum überarbeitete Anklageschrift vor, die deutlich enger gefasst ist als die frühere Anklage. In der ursprünglichen Fassung war dem früheren Führer der bosnischen Serben Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen im Zusammenhang mit dem Massaker in Srebrenica und der Belagerung Sarajevos sowie in 41 weiteren Gemeinden in Bosnien vorgeworfen worden. Brammertz hat die Anklage auf 27 Orte verringert. Karadžić dagegen will nach der Taktik Milošević’ den Prozess hinauszögern. Deshalb weigert er sich wegen angeblich zu geringer Vorbereitungszeit für seine Verteidigung, zu Prozessbeginn zu erscheinen.
Politisch hat er ohnehin gewonnen. Nach einer Gegenoffensive kroatischer und bosnischer Truppen im September 1995 schrumpfte das serbisch besetzte Gebiet zwar auf 50 Prozent der Fläche des Landes. Doch in dem im November 1995 verhandelten Friedensvertrag von Dayton wurden die serbisch besetzten Gebiete Bosnien und Herzegowinas als serbischer Teilstaat, als „Republika Srpska“, bestätigt. Und damit war seine Absicht, die multiethnische Gesellschaft Bosniens zu zerstören, verwirklicht.
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