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Alle Mieter müssen raus

Nicht überall herrscht Feierlaune anlässlich von 100 Jahren Bauhaus. Der Siedlung des Neuen Bauens in Celle droht der Abriss – an der Bauqualität liegt das jedoch nicht

Sollen abgerissen werden: Wohnungen in Celle Foto: Joachim Göres

Von Joachim Göres

Wenn im kommenden Jahr 100 Jahre Bauhaus gefeiert wird, stehen vor allem die Zentren Weimar und Dessau im Mittelpunkt. Neben avangardistischen Einzelgebäuden bestehen heute in Deutschland 38 Siedlungen des Neuen Bauens, die in den 1920er- und 1930er-Jahren angesichts großer Wohnungsnot und Armut die Lebenssituation vieler Menschen verbessern sollten – helle Räume wurden durch die Nord-Süd-Ausrichtung der Gebäude erreicht, niedrige Mieten durch die Nutzung neuer Materialien, vorgefertigter Serienteile sowie den Verzicht auf Ornamente. Auch im Norden gibt es mit der Jarrestadt in Hamburg, dem Fagus-Werk in Alfeld sowie mehreren Siedlungen des Architekten Otto Haesler in Celle bedeutende Zeugnisse des Neuen Bauens.

Eine einzigartige Siedlung könnte allerdings demnächst verschwinden: Der 1930 in Celle erbauten Siedlung Blumläger Feld, die wegen der neuartigen Stahlskelettkonstruktion und der niedrigen Baukosten international für Aufsehen sorgte, droht der Abriss. Die städtische Wohnungsbaugesellschaft (WBG) als Eigentümerin forderte ihre Mieter in den ­Haesler-Blocks im Blumläger Feld Nord auf, bis zum 31. August die Wohnungen zu räumen.

„Die Standsicherheit sämtlicher WBG-Gebäude im Vogelsang, Rosenhagen und Galgenberg 20 ist durch Korrosion des Stahlgerüstes gefährdet“, heißt es im Schreiben an die Mieter der 52 Wohnungen, die inzwischen dort ausgezogen sind. Ihnen wurde zudem mitgeteilt: „Wegen des erheblichen Sanierungsaufwandes ist noch nicht entschieden worden, ob die Immobilie abgerissen oder saniert wird.“

Die Schäden am Stahlskelett der Gebäude wurden bei Vorarbeiten für die eigentlich geplante Sanierung entdeckt. „Das Skelett ist marode, jede Stichprobe war unzufriedenstellend“, sagt WBG-Mitarbeiter Viktor Jäger und fügt hinzu: „Man muss alle Wände aufmachen, um ans Stahlskelett ranzukommen.“ Die Fassade der Gebäude ist schon seit vielen Jahren heruntergekommen.

„Das Mauerwerk hält die Feuchtigkeit nicht ab. Die Gebäude im Blumläger Feld sind nicht für 90 Jahre gebaut worden“, sagt der Architekt Michael Wagner, der die Schäden festgestellt hat. „Es gibt gleich alte Siedlungen von Haesler in anderen Städten, die denkmalgerecht saniert und gut erhalten sind. Die Pflege ist das A und O, daran hat es in Celle gemangelt“, entgegnet die Bauhistorikerin Simone Oelker. Ihr ist kein vergleichbarer Fall bekannt, bei dem wegen schlechter Bausubstanz eine Siedlung des Neuen Bauens abgerissen wurde.

„Haesler gehört mit Gropius, Scharoun und van der Rohe in die erste Reihe der Architekten des Neuen Bauens“

Mark Escherich, Experte für Denkmalpflege der Moderne

„Die großen Anlagen werden gepflegt“, sagt Mark Escherich, Experte für die Denkmalpflege der Moderne und nennt als positive Beispiele Hamburg-Jarrestadt und Karlsruhe-Dammerstock. Escherich sieht die aktuelle Entwicklung in Celle mit Sorge: „Haesler gehört mit Gropius, Scharoun und van der Rohe in die erste Reihe der Architekten des Neuen Bauens. Nicht zuletzt, weil er mit der Stahlskelettkonstruktion experimentiert hat, die relativ selten im Neuen Bauen eingesetzt wurde. Sie hat sich nicht durchgesetzt, war aber für die bautechnische Entwicklung wichtig. Deswegen wäre der Erhalt dieser Gebäude von großer Bedeutung.“ Umso gravierender, dass die WBG in Celle 2005 bereits den größten Teil der Siedlung Blumläger Feld abreißen ließ – die Gebäude waren intakt, aber der Eigentümer sah keinen Bedarf an kleinen Mietwohnungen, die heute sehr gefragt sind.

Jetzt droht das Ende für die übrigen 52 Wohnungen in innenstadtnaher Lage, die sich wegen der günstigen Miete sowie der angrenzenden Gärten großer Beliebtheit erfreuten. Sollte es zu einer Sanierung kommen, müsste nach WBG-Berechnungen der Quadratmeterpreis von derzeit gut vier Euro auf 14,50 Euro steigen. Das hätte nichts mehr mit dem Grundgedanken zu tun, über den die Haesler-Ini­tiative schreibt: „Haesler hatte mit dieser Siedlung sein Ziel erreicht, indem er mit rationellen Baumethoden kostengünstigen Wohnraum für die minderbemittelte Bevölkerung geschaffen hatte. In der Weimarer Republik ist keine vergleichbare Siedlung entstanden.“

Celle ist letztlich kein Einzelfall für die Geringschätzung des Neuen Bauens. In Braunschweig wurde 1930 der August-Bebel-Hof am Rande der Stadt mit 450 Wohnungen in dreistöckigen Blocks mit weißer Fassade und Flachdach nach Plänen des Architekten Friedrich Ostermeyer errichtet. Großzügige Grünflächen und eine Nord-Süd-Ausrichtung sollten Licht und Luft in die für finanzschwache Bevölkerungsschichten geplante Siedlung bringen, mit Wohnungen zwischen 48 bis 68 Qua­dratmetern mit Zentralheizung und Bad. Die Siedlung wurde von der NS-Presse als „Denkmal roter Überheblichkeit, das sich baulich als eine widerwärtige Massenansammlung syrischer Wohnhöhlen darstellt“ verunglimpft. Doch nicht die Nazis zerstörten den Charakter der Siedlung – die heutige Form mit Satteldach, einem zusätzlichen Stockwerk und dunklem Putz bekam der Bebel-Hof 1956. Aus wirtschaftlichen und gestalterischen Gründen, so die Begründung der Eigentümerin, der Nibelungen-Wohnungsbaugesellschaft. So wird aus Neuem Bauen eine Bausünde.

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