Eine Zeitreise in die 90er Jahre: Mit der Discoqueen in der Lederbar
Einmal trat Amanda Lear – eine schwule Ikone – beim Lesbisch-schwulen Straßenfest auf. Unser Autor hat sie damals interviewt und nach ihrer Vergangenheit befragt.
Als ich gefragt wurde, ob ich was Retrospektives schreiben möchte, habe ich zunächst gezögert, Nostalgie ist nicht so meine Sache. Aber dann bin ich doch mit Lust eingetaucht in die Soße der Vergangenheit, man muss es nur zulassen, dass sie hochkocht.
Derzeit laufen die Filme „The Book Club“ mit einer bis zum Anschlag konservierten spindeldürren Jane Fonda, deren Charakter zudem noch den Spitznamen „Slim“ hat. Und „Mamma Mia. Here We Go Again“ mit Cher in einer Nebenrolle – als glamouröse Großmutter. Unwillkürlich musste ich an meine Begegnung mit Amanda Lear im Jahre 1995 denken. Sie war genauso barbieesk und makellos wie die Vorgenannten, hervorragend geeignet als Role Model für all jene schwulen Jungs, für die Älterwerden keine Option ist.
Dabei war Amanda damals natürlich viel jünger als Fonda und Cher heute. Aber will man wirklich aussehen wie die Popdiva? Ein Gesicht haben, in dem sich nur mehr der Mund bewegt? Und ihr staksiger Gang erinnert heutzutage mit Verlaub doch ziemlich an den von Goldie Hawn und Meryl Streep in „Der Tod steht ihr gut“.
Aus irgendwelchen Gründen nähren solche unkaputtbaren „Ikonen“ wie die Popsängerin bei einer Reihe von schwulen Männern die Illusion, man könne in Würde altern. Nun ja, mit entsprechendem Budget und einem Zauberspiegel kann man zumindest für sich den Anschein erwecken und sich einbilden, man hätte ein wenig Würde mitgekauft. Frau Lear jedenfalls lief noch 2012 mit 73 für eine Schau von Jean-Paul Gaultier, saß im Mai 2018 bei ihm in der ersten Reihe und wirkt fast alterslos. Fast. Immer noch eine weitere Verkörperung des schwulen Traums von der ewigen Jugend?
Glam Rock und Disco-Ära
Die Discoqueen war 1995 – neben Islands schwulem ESC-Star Páll Óskar – für das Lesbisch-schwule Straßenfest engagiert (während die Bühnen heute fest in der Hand von LokaltmatadorInnen sind; gute oder schlechte Entwicklung?). Und ich hatte als Leitender Redakteur des schwulen Magazins Männer aktuell – das in Berlin gemacht wurde – die Ehre, Madame zum Interview zu treffen.
Ach ja, die glamourösen 90er. Ich war in der Jury für ein Casting des Berliner Pornolabels Cazzo für einen seiner frühen Filme, drehte mit Erika Berger fürs Privatfernsehen oder kürte zusammen mit anderen „Promis“ in Dresden den Mr. Gay Sachsen. Man kam herum, nahm sich wichtig – und alles mit viel Glitzer. Denn man weigerte sich hartnäckig, das Ende von Glam Rock und Disco-Ära zu akzeptieren. Und das seit Jahr(zehnt)en.
Die berühmten 15 Minuten Ruhm waren schnell vorbei. Nun fand ich mich in den Räumen des New Action (damals wie heute eine Lederbar mit Darkroom) ein, um im kalten Rauch und Poppersmief Amanda Lear für ein Interview zu treffen. Nicht besonders glamourös für eine Discoqueen, aber effektiv fürs Heft.
Früher war eben nicht alles besser
Madame war zum Glück hochgradig umgänglich. Sie berichtete von einer bevorstehenden Aids-Gala in Paris, bei der sie zusammen mit Grace Jones, Gloria Gaynor und Boney M auftreten würde, was sie als „Geriatrisch Disco“ bezeichnete. „They are too ooold for me, das nenne ich pure Nostalgie.“ Da lag sie ganz auf meiner Linie, denn „So toll war Disco auch wieder nicht. Das Komische ist immer: Was vorbei ist, ist immer besser.“ Früher war eben nicht alles besser, sondern nur anders. Und überhaupt kämen die Leute nur wegen ihrer alten Platten und „eigentlich, um zu schauen, ob ich noch lebe“.
Dann unterbrach ein Impresario unser Gespräch und geleitete sie zur Bühne direkt neben dem legendären Fugger-Eck und einem Stundenhotel. Amanda raunte mir noch zu: „Wir reden gleich weiter“, und schon war sie in den Schwaden der Nebelmaschine verschwunden, um aus denselben wieder aufzutauchen und Hits wie „Follow Me“ zu singen. Am Ende holte sie ein paar Fans auf die Bühne, die um sie herumtänzelten. Schöneberg war aus dem Häuschen. Und sie hielt Wort und kam zurück. Nice!
Was sie nicht wusste, war, dass ich einige ihrer Drag- und Transgender-Weggefährten aus ihrer Pariser und auch Berliner Zeit kannte, die Stein und Bein schworen, mit ihr zusammen aufgetreten zu sein, sie zumindest aus den entsprechenden Zusammenhängen zu kennen. Sie hätte sich damals Peki d’Oslo genannt, hieß es. In diversen Memoiren ist das nachzulesen, etwa bei Romy Haag, bei der britischen Doyenne April Ashley oder bei der französischen Transgenderlegende (hier passt das Wort ausnahmsweise mal) Coccinelle.
Gelegentlich ging Lear gegen diese „Verleumdungen“ gerichtlich vor. Natürlich habe ich sie auch danach befragt. Sie blieb ganz cool, hatte sie doch bereits zu Anfang unseres Gesprächs gepeilt, dass ich ebenfalls mal gefummelt habe, wie das früher hieß. Zum Beispiel im „Chez Romy Haag“, dem Club von Romy Haag, Anfang der 80er Jahre. Lear dementierte wie gewohnt: „Das ist nicht wahr. Das war jemand anderes. Wenn du die Biografien liest, wenn ich all das gemacht hätte, müsste ich ja 65 oder gar unsterblich sein.“ Ich so: „Ein schöner Schlusssatz.“
Einer ihrer Songs heißt „Enigma“
Ihre Replik sagt eigentlich alles: „Noch nicht ganz. Dieses Jahr ist der 100. Todestag von König Ludwig. Und der hat gesagt: ‚Ich möchte ein Enigma sein. Für die anderen und für mich.‘ Auch einer meiner Songs hieß Enigma. Voilà!“
Das war ja so gut wie ein Outing, schließlich war ja auch der bayerische König als Junge geboren worden, was Amanda für sich aus ihrer Biografie gestrichen hatte. Nicht wie die Vorgenannten, die dadurch zu trans*-Vorkämpferinnen geworden sind. Sie hatte vielleicht immer nur für sich gekämpft.
Anyway, zu guter Letzt gab sie mir mit: „Tschuuuß! I don’t care what you write, just put a beautiful photo.“ Damit war sie immerhin angenehm weit entfernt vom Autorisierungswahn der Jetztzeit, in der jeder Schuhverkäufer, jede Bartschneiderin, jeder Abgeordneten-Azubi sein Zitat freigeben möchte, und sei es nur ein einsilbiges „Hach!“.
Damals, 1995 und in den folgenden Jahren, konzentrierte man sich mehr aufs Äußere. Hauptsache, die Frisur saß. Modisch waren die 90er Jahre unbedeutend und bislang verstörend: Buffalos mit Plateausohlen, bauchfreie Tops, und der Tattoowahnsinn begann. George Michael setzte neben Madonna den Trend, sich Kreuze um den Hals und ans Ohr zu hängen. All das selbstverständlich auch auf der Motzstraße zu besichtigen. Bei Aufreißversuchen und Anbahnungsverrenkungen kamen damals immer noch die Aidsängste hoch, und man ging wenigstens noch halbwegs gut frisiert ins Bett, wenn auch meist allein.
„I am the key to your problem“
Berliner Szenelokale hießen Lipstick oder Pool, waren cool und nüchtern, schienen etwas von den gefliesten Läden der 80er mitgenommen zu haben. Alternativen zum Allzuschick gab es in den verschiedensten Varianten: Das Café Anal, Mr X, Stiller Don oder Burgfrieden ziehen da vorbei … Ostberlin und Westberlin kamen sich langsam auch ausgehtechnisch näher, und der Soundtrack dazu stammte schon zaghaft von Rosenstolz, diesem erstaunlichen Phänomen deutsch-deutscher Tonart, dessen Karriere in den 90er Jahren begann, dann kräftig anzog und jenes Jahrzehnt um einiges überdauerte. Vermutlich, weil sie immer authentisch waren und blieben.
Nicht auszudenken, wenn AnNa R. und Peter Plate, die beiden waren Rosenstolz, in die Fänge einer sphinxhaften Frau wie Amanda Lear geraten wären: „I am the key to your problem / So follow me / just follow me / Unbelievable maybe / You’ll have a new identity / … / I want to change your destiny.“ Bloß nicht! Rosenstolz blieben authentisch und ließen die 90er Jahre hinter sich. Wie auch Amanda Lear und Cher. Letztere hat allerdings ihr Gesicht von damals mitgenommen.
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