Einheimische und ausländische WM-Fans: Russland entdeckt die Welt
Fußballfans staunen über das WM-Land. Russen staunen über Gäste. Putin bekommt die TV-Bilder, die er braucht.
„Peñarol!“, rufen die Männer in Hellblau. „Spartak!“, rufen die Kerle mit den Russlandfahnen um die Schultern zurück. „Spartak? Your Club?“, fragt einer der Hellblauen. Uruguay, sein Team, hat gerade mit 3:0 gegen Russland gewonnen. Er ist gut drauf. Die Russen sind nicht minder gut gelaunt. „Spartak!, Spartak“, rufen sie.
„Peñarol?“, fragt jetzt ein Russe und zeigt auf einen gelb-schwarzen Schal, den einer der Hellblauen um den Hals gebunden hat. Die Hellblauen nicken. „Best Club of the world“, sagen sie. Die Russen lachen freundlich. Die Hellblauen freut das. Sie stimmen den Schlachtruf „Rossija! Rossija!“ an, den sie aus dem Stadion kennen. Natürlich stimmen die Russen mit ein. „Rossija! Rossija!“ Was für eine Gaudi! Vor allem für die Russen. So sehen also Verlierer aus.
Die Schaffnerin, die von allen, die keinen Fan-Ausweis um den Hals hängen haben, 25 Rubel Fahrpreis kassiert, lächelt. Ob sie verstanden hat, dass sich da gerade Anhänger des Moskauer Klubs FK Spartak mit Fans des Club Atlético Peñarol aus Montevideo verbrüdert haben? Die Fans wissen es. Fußball ist eine einfache Sprache. Wer sie versteht, kann eine Party feiern.
Angefangen hatte das Spektakel mit einem verwegenen Vergleich. Kaum war Gianni Infantino in Moskau angekommen, da pries der Präsident des Fußballweltverbandes Russland als ein großes Land, das bislang noch niemand habe erobern können. „Aber der Fußball“, fügte er auf dem Fifa-Kongress lächelnd hinzu, „wird in den nächsten Wochen Russland erobern.“
Was Napoleon und Hitler nicht geschafft haben, sollte nun der Fifa und dem Fußball gelingen. Auch wenn dieser Vergleich mehr über die Fifa sagt und kaum für eine Zustandsbeschreibung des WM-Gastgebers taugt, so steht dennoch eine Frage im Raum. Was macht dieses Turnier eigentlich mit Russland?
Freundschaftszentrale in Moskau
Es ist die Zeit des Staunens. Was derzeit in den Zentren der WM-Städte passiert, hat das Land noch nicht erlebt. 30.000 Peruaner streifen durch die Innenstädte, Tausende Kolumbianer, Brasilianer, Argentinier und Deutsche. Und wenn vor einer Kneipe das englische Georgskreuz hängt, dann wird darin gesoffen, dass es eine wahre Freude ist.
Und immer wieder finden dieselben Gespräche statt. „What is your Club?“, „How is the stadium?“, „Who will win the World Cup?“ Mal in gutem Englisch, mal in schlechtem, mal in gar keiner Sprache, weil den Beteiligten die Wörter fehlen. Gut, dass es Arme und Hände gibt. Sie dienen der Völkerverständigung. Druschba narodow. Auf die Völkerfreundschaft! Das ist der beliebteste Trinkspruch der WM.
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WM 2018 – Die Spielorte
Die Freundschaftszentrale dieser WM liegt zweifelsohne in Moskau. Viele der 600.000 Besucher aus dem Ausland haben hier ihre Basisstation aufgeschlagen, weil man von der Hauptstadt aus die zehn anderen Spielorte dieses Turniers am einfachsten erreichen kann. Der Fußball hat die Stadt in Besitz genommen. Wer das Geschehen rund um den Roten Platz beobachtet, muss diesen Eindruck bekommen.
Fans aus allen Teilnehmerländern laufen sich hier über den Weg. Oft auch in größeren Gruppen, die gern das gesamte Repertoire ihres Liedgutes zum Besten geben. Vor russischen Straßenmusikern, einer Bläsercombo, tanzen drei englische Fans in einer Exaltiertheit auf, die großes Publikum anlockt. Alkohol ist sicher im Spiel, sehr wahrscheinlich auch Drogen. Die Musiker und die selbst berufenen Tänzer verbindet auf den ersten Blick wenig. Aber mit einem Lächeln tolerieren sie ihre schrägen Begleiter. Ihre Performance verhilft ihnen schließlich auch zu mehr Aufmerksamkeit.
Weich gewordener Salzspeck
Es ist ein Ambiente der Freizügigkeit, auf das man auch an anderen Stellen der Stadt stößt. Vor dem Luschniki-Stadion setzen Mexikaner ihre Sombrerohüte bereitwilligen Polizisten auf den Kopf und posieren mit ihnen für Erinnerungsfotos. Eine Stadt im Ausnahmezustand? Alexej, ein Moskauer TV-Journalist, will an solchen Szenen nichts Besonderes finden. Die Stadt, sagt er, sei schon immer international gewesen. Besucher sei man gewöhnt, wenn auch nicht in so großer Zahl.
Und bis in die Außenbezirke der Stadt schafft es das Turnier eh nicht so recht. Kneipen und Restaurants findet man hier sowieso nur selten. Und welche, die Fußball zeigen, noch seltener. Wenn man wie Infantino bildhaft sprechen will, dann kann man diese Fußball-WM in Moskau mit einem raumgreifenden und sehr viel Aufmerksamkeit beanspruchenden Zwischenmieter vergleichen: für eine gewisse Zeit sorgt er für ein wenig Abwechslung. Dann ist aber auch wieder gut.
Und anderswo in Fußballrussland? „Sie müssen Ihr Bett abziehen und die Wäsche der Zugbegleiterin geben. Na, machen Sie schon! Dann können wir die Matratze wegräumen und haben Platz zum Frühstücken.“
WM 2018: Und raus bist du!
Die resolute Russin in den besten Jahren, deren hochgesteckter Betonfrisur auch eine unruhige Nacht im Zug von Sotschi nach Rostow am Don nichts anhaben konnte, ist schier nicht zu bremsen. „Mädchen!“, sagt ein Mitreisender zu der Frau um die 50. „Sie können so viel reden, wie Sie wollen. Der junge Mann wird Sie nicht verstehen. Denn er ist Ausländer.“ Der Mann heißt João und kommt aus Brasilien. Jetzt ist einer gefragt, der Englisch und Russisch spricht. Irgendwie geht am Ende alles. João muss den im überhitzten Liegewagen über Nacht doch arg weich gewordenen Salzspeck essen, den ihm die Frau als Frühstück anbietet. Alle lächeln.
Saransk, wo Geher gefeiert werden
Ausländer. Das ist eines der Signalworte dieser Tage. Die Fußballglobetrotter freuen sich, dass sie in Russland nicht die Hölle vorgefunden haben, die sie sich vielleicht ausgemalt haben. Und die Russen freuen sich, dass die Gäste beinahe schon demütig alles machen, was man als guter Gast eben so macht. Natürlich hat João die Bettwäsche dann zur Zugbelgleiterin gebracht. Und irgendwie sah er glücklich dabei aus. Auch wenn es für ihn, der die brasilianische Mannschaft schon zu dem Turnieren nach Deutschland und Südafrika begleitet hat, eine neue Erfahrung war, dass es Länder gibt, in denen man mit dem üblichen globalisierten Reiseenglisch manchmal keinen Zentimeter weit kommt.
In Saransk ist es besonders schwer, jemanden mit Fremdsprachenkenntnissen zu finden. Die Volunteers sind da besonders wichtig. Olga ist wie die meisten jungen Leute in der Stadt eine WM-Freiwillige, eine Helferin für arglose Ausländer, die vor allem aus Südamerika in die Stadt regelrecht eingefallen sind. Eigentlich steckt sie gerade mitten in den Abiturprüfungen. Doch sie musste ihre Lehrbücher einpacken und die Wohnung zusammen mit ihren Eltern verlassen.
Oleg und Irina sind Besitzer einer Dreizimmerwohnung, die sie während des Turniers bis auf den letzten Platz vermieten, beinahe schon im frühkapitalistischen Stundenverfahren. Einnahmen: ein durchschnittliches Monatsgehalt pro Nacht. Kein Wunder, dass dieser Sommer für Oleg einem Märchen gleichkommt. Seit langer Zeit könnten sie sich endlich wieder eine Reise leisten, sagt der 46-Jährige, ans Schwarze Meer.
Was Ausländer in dieses gottverlassene Loch treibt, kann er nicht verstehen. Die WM berührt ihn nicht. Weder mit Saransk noch mit dem Fußball verbinde ihn etwas, lässt er durchblicken. Von Fußball hält Oleg eh nicht viel. In Saransk werden eher Geher wie Rockstars gefeiert.
Ausländer als Sehenswürdigkeit
Saransk ist eine Geher-Hochburg. Auch die zahlreichen Dopingskandale rund um die Truppe des berüchtigten Wiktor Tschegin haben der Popularität der Leichtathleten in der Stadt keinen Abbruch getan. Oleg spricht auch über Politik nicht gerne. „Was sollen wir damit anfangen?“, sagt sein Blick. Die WM-Reisenden scheint er damit verschonen zu wollen.
Dabei hat er sich sehr wohl auf den Nebenverdienst vorbereitet. Lange überlegt er, um die Busverbindungen in die Stadt aufzuzählen. Natürlich auf Russisch. Die Provinz ist überzeugt, die Welt spricht noch Russisch. Ausländer gelten hier nicht als Sehenswürdigkeit, Saransk möchte nicht gestört, schon gar nicht wachgeküsst werden, scheinbar.
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Hier hat sich die sowjetische Lebensform verschanzt. Unprätentiös, anspruchslos. Zwischen den quietschenden Möbeln aus der Elternzeit, in denen die WM-Gäste jetzt untergebracht sind. In den fünfstöckigen Häusern aus der Chruschtschow-Ära, die von Kaliningrad bis an die Pazifikküste gleich sind, sieht es aus wie Anfang der 90er Jahre in Moskauer Wohnungen. 600 Kilometer entfernt. Ausland.
Der Vergnügungspark mit Zoo und Schaustellergeschäften im Stadtpark ist so sauber und ordentlich wie sonst nirgends. Aus einer Zeit indes, als Uhren noch mit Schlüssel aufgezogen wurden.
Es ist das alte, der Zeit entrückte Russland, das in Saransk wartet. Nur McDonald’s mogelte sich in die Idylle. Und die Fanzone ist wegen Überfüllung schon geschlossen. Der Busfahrer gibt keine Auskunft, weil fremde Fahrgäste wohl nicht nach Saransk gehören, könnte er denken.
Billige Fernfahrerabsteige in Wolgograd
Ist dies ein Zeichen für dieses Selbstgenügsame, das Russland immer auch ausgemacht hat? Es sammelt unaufhörlich Land, ahmt Kulturen nach und will doch immer nur das eine bleiben: Russland. Jetzt wird gerade die globalisierte Fußballkultur imitiert. Und am Ende wird vielleicht das Gefühl zurückbleiben, alles schon immer gekannt zu haben.
Ob das immer so in Russland ist, mag sich auch Ninian aus Peru fragen. Der will unbedingt erzählen, was ihm widerfahren ist. Er steht im Flur von Olegs Wohnung und berichtet von seinem Erlebnis. Jugendliche hatten ihm bei der Ankunft in der Stadt die Reisetasche entrissen, sie durchfilzt und den Pass verlangt. Dann hätten sich die beiden jungen Männer gestritten.
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WM 2018 Gewinnerprognose
Ihn erinnerte das an die mochileros, Laufburschen der Drogenbarone. Die Jungs sprachen kein Englisch. Nun stand er da und wusste nicht, wie er in Olegs Haus gelangen sollte. Auch die Kontaktaufnahmen mit dem Handy brachte keine Klärung. Oleg sammelte ihn schließlich auf der Straße ein. Dann war Fußball.
Überraschungen gibt es nicht nur auf dem Spielfeld. „Ich war zu 99,9 Prozent voller Angst, als ich nach Russland gekommen bin“, erzählt Pascal Atuma. Er hatte viel über den Rassismus in Russland gehört. Er erzählt vom wunderschönen Kaliningrad, ist sich sicher, dass die Russen die nettesten Menschen seien, denen er je begegnet ist. Sein Fankostüm hatte auf der Reise Risse bekommen. Die Damen im Hotel hätten es umgehend genäht.
Jetzt sitzt er in einer billigen Fernfahrerabsteige in Wolgograd und schafft es irgendwie bei der älteren Dame, die dafür zuständig ist, ein Omelett mit Tomaten und Pilzen zum Frühstück zu bestellen. Er sitzt da in einem weißen, bodenlangen Nachtgewand und wundert sich, dass sich niemand über ihn wundert. „Ich war voller Vorurteile“, sagt er und schämt sich fast dafür. Hinter ihm liegen das Spiel seines Teams gegen Island und ein langer Abend im Zentrum von Wolgograd. Es war nicht der erste lange Abend, den er in Russland erlebt hat.
„Mit Putin habe ich keine Probleme“
Wer beim Partymachen nicht aufpasst, der hat ein Mikrofon unter der Nase. Lokale und nationale Fernseh- und Radiosender durchstreifen die Plätze, an denen die Fußballreisenden zusammenkommen, fischen auch in den Fanzonen die Anhänger mit den drolligsten Kostümen aus der Menge. Sie erwarten die immer gleiche Antwort auf die immer gleiche Frage: „Wie finden Sie Russland?“– „Super!“
Wer das Land toll findet, wer sagt, dass er positiv überrascht ist, wer die Leistung der WM-Organisatoren lobt, wer das Wort Gastfreundschaft erwähnt, der schafft es auch schon mal in die Hauptnachrichten der großen Kanäle. Die Fremden mögen sich freuen, wenn sie sich abends im Hotelzimmer selbst sehen. Es stört sie dann gewiss auch nicht, wenn sie in der berüchtigten Wochenrückschau des Kreml-Propagandisten Dimitrij Kisseljow gelandet sind.
Ein englischer Fan, der sagt: „Mit Putin habe ich keine Probleme“, bekommt dann schnell eine Hauptrolle, auch wenn er eigentlich nur sagen wollte, dass es sich ganz gut trinken lässt in Russland. Natürlich endet der Report über das feiernde, neue Russland mit einem Statement des Präsidenten. „Sport bringt Länder und Nationen zusammen, und wir, als Gastgeber dieses Turniers, freuen uns für diejenigen, die gewonnen haben, und leiden mit denen, die gescheitert sind.“ Die WM liefert genau die Bilder, die sich Wladimir Putin gewünscht hat.
Doch die Kameras laufen nicht immer und nicht alles, was während des Turniers passiert, lässt sich zum Teil einer Propagandashow machen. „Toll, Sie sind aus Deutschland“, sagt Olesja Schurba, die in einer Kaffeebude in der Nähe des Strands von Samara arbeitet. „Darf ich Ihnen meine Telefonnummer geben? Oder sind Sie auf Facebook? Wie ist es in Deutschland? Das muss so toll sein.“ Sie ist kaum zu bremsen.
Ihr Englisch ist immerhin so gut, dass das deutsche Fan-Pärchen am Ende brav die Nummer notiert. Ob sie sich jemals bei Olesja melden werden? Samara, wo die Sojus-Raketen entwickelt worden sind, war lange eine gesperrte Zone. Ausländer sind da immer noch etwas Besonderes.
Freunde für vier Wochen
Eine Frau, die im Bus zum Stadion in Rostow einen jungen Schweizer für sein gutes Russisch lobt, hat schon auf dem Weg zum Stadion beschlossen, Kontakt zu halten zu dem Mann mit der albernen Kuhglockenmütze. Woher er so gut Russisch könne, will sie wissen, nachdem er sich dafür entschuldigt hat, dass er ihr auf den Fuß getreten ist.
Er sagt, er habe ein paar Monate in St. Petersburg gelebt und dort geholfen, ein Hotelrestaurant auf Spitzenniveau zu heben. Jetzt gibt er in der Schweiz Seminare für Russen, die in der Hotellerie Karriere machen wollen. „Lass dir seine Karte geben“, sagt der Mann, der mit der Frau unterwegs zum Spiel ist. „Wir sehen uns in der Schweiz!“, sagt der Fan, gibt ihr seine Karte und fängt mit seinen Freunden zu klatschen und singen an: „Hopp Schwiiz!“ Ob etwas daraus wird?
Am Ende der WM werden die Fußballtouristen aus aller Welt die Sim-Karten, die sie sich für ihren Russland-Aufenthalt bei der Einreise besorgt haben, aus ihren Smartphones nehmen. Ihre russische Nummer werden sie vergessen und wohl nie wieder benutzen. Ihre Freunde für vier Wochen, denen sie diese Nummer gegeben haben, werden sie nicht mehr erreichen können. Sie haben etwas erlebt, was sie nie mehr erleben werden. Ihren russischen WM-Bekanntschaften wird es nicht anders gehen. Auf den Sommer wird ein Herbst folgen. Díe Erinnerungen werden bleiben.
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