piwik no script img

WM in Russlands WestenGlitzerfassaden und Verfall

Kaliningrad ist in diesen Tagen eine Stadt der Gegensätze. In die Freude über die vielen WM-Besucher mischt sich Angst vor der Zukunft.

Blick auf eine Parkanlage in Kaliningrad Foto: Imago/Itar-Tass

Kaliningrad taz | Über Kaliningrad hat die Sonne freie Bahn. Nicht eine Wolke stellt sich ihr an diesem letzten WM-Tag in der Stadt in den Weg. Englische Fans haben es sich mit ein paar Bierdosen in der Nähe von Immanuel Kant im Schatten einiger Bäume bequem gemacht. Genauer gesagt in der Nähe seiner Grabstätte am Dom, wo seine Gebeine liegen sollen.

Hier in der westlichsten Stadt Russlands, im damaligen Königsberg, ist der ideelle Wegbereiter von Völkerbündnissen wie der Europäischen Union geboren und gestorben. Auf der nach dem deutschen Philosophen benannten Insel herrscht erholsame Ruhe. Nur vom Fanfest auf dem Festland schallt noch die Stimme des Entertainers herüber: „Are you ready?“

Kaliningrad, diese russische Exklave, die seit der Unabhängigkeitserklärung der baltischen Staaten von Polen und Litauen umgeben ist, ist eine Stadt mit sehr verschiedenen Temperamenten. Beschaulichkeit findet man – normalerweise zumindest – eher auf der Kantinsel.

Dort, wo die Stadt ihren ursprünglichen Kern und ihr Herz hatte, ist nach der Bombardierung der Engländer im Zweiten Weltkrieg nur der Dom übrig geblieben. Davor erstreckt sich eine riesige Rasenfläche. Auf das Leben trifft man rings um den Leninski-Prospekt, die Hauptschlagader dieser Stadt.

Empfohlener externer Inhalt

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen:

WM 2018 – Die Spielorte

Die Spiele sind eröffnet, hier wird gespielt. Viele der Stadien wurden extra zur WM in Russland aus dem Boden gestampft.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Dort liegt auch das Restaurant Zötler, das den Namen einer deutschen Biermarke trägt und von Russen betrieben wird. Maultaschen und Weißwürste stehen auf der Speisekarte. Auf den Bierdeckeln, die verteilt werden, kann man eine Landkarte vom Allgäu studieren.

„Stammtisch Deutschsprachiger“

An einem großen Tisch ist ein Schild aufgestellt mit der Aufschrift „Stammtisch Deutschsprachiger“. Jeden Mittwoch kommt hier aufs Neue stets ein sehr diverses Grüppchen zusammen, auch in dieser Woche, als just das Team von Joachim Löw gegen Südkorea sein historisches Vorrunden-Aus besiegelte.

Unter anderem am Tisch: eine russische Tänzerin aus der Stadt, die ihr Deutsch aufbessern möchte, drei Schweizer WM-Touristen, ein junger deutscher Landwirt mit seiner russischen Frau, ein Kaliningradliebhaber aus Niedersachsen, der an der Sprachschule Russisch lernt.

Und natürlich auch Wolfgang Sauer mit seiner Frau Jelena Leontjeva, die er in Sibirien kennengelernt hat. Der 76-jährige ehemalige Gartenbauingenieur, der seit 2006 in der Stadt lebt, ist Urheber dieses wöchentlichen Treffs.

Die deutsche Community in der Stadt, schätzt Sauer, sei sehr klein, zweihundert Menschen vielleicht. Und mit dem alten Königsberg hätten sie im Unterschied zu den Sehnsuchtstouristen aus Deutschland, die auf ihrer Spurensuche nach der Vergangenheit zuweilen auch auf das Lokal Zötler stoßen, nichts am Hut.

Außerdem gäbe es noch ein paar Tausend Russlanddeutsche, die auf ihrem Weg von Kasachstan nach Deutschland hier hängen geblieben seien. Von denen würde aber kaum einer Deutsch sprechen. Das deutsche Kulturgut würden sie trotzdem pflegen. Eine Holzschuhtanzgruppe namens „Bernsteinblume“ tourt auch durch Deutschland.

Nähe zu Europa

Für viele mag die WM ein Grund sein, Russland zu besuchen. In Kaliningrad, hat man den Eindruck, ist die WM eher ein Vorwand, um Kaliningrad zu besuchen. Die Nähe zu Europa ist fraglos ein Standortvorteil. Für das große Turnier sei „sehr, sehr viel Geld in die Hand genommen worden“, sagt Sauer. Ansonsten interessiere man sich in Moskau für die Stadt vornehmlich als Militärstandort.

Kaliningrad gilt als hochgerüstetste Gegend Europas. Seit Anfang dieses Jahres sind hier auch die atomar bestückbaren Iskander-Raketen stationiert. Als Grund wurden Truppenverschiebungen der Nato angeführt. Das Prinzip Abschreckung erlebt eine Renaissance.

Wenn der Russe etwas will, dann zieht er das durch

Wolfgang Sauer, Rentner

Zugleich hat die russische Regierung einiges getan, um der Stadt für die WM ein hübsches, einladendes Antlitz zu verleihen. Die Fassaden am ewig langen Leninski-Prospekt habe man alle in den letzten ein, zwei Jahren renoviert, erzählt Wolfgang Sauer. „Wenn der Russe etwas will, dann zieht er das durch“, sagt er. „Oft sieht es dann allerdings nach zwei Jahren so aus wie dreißig Jahre vorher.“

Sauer spricht von Potemkin’schen Dörfern. Doch anders als die russische Zarin Katharina II., die der Legende nach durch bemalte Dorfkulissen geleitet werden konnte, können die Touristen hier ihren eigenen Kurs wählen und hinter die ersten Häuserreihen schauen. Dort reihen sich graue, verfallene Plattenbauten aneinander, die selbst zu ihren guten Zeiten trist ausgesehen haben müssen.

Angst vor geschlossenen Grenzen

Viele Gegensätze liegen in der Stadt in diesen Tagen ganz nah beieinander. Die Freude über die gegenwärtig so vielen Besucher aus dem Ausland mischt sich angesichts der zunehmenden Spannung zwischen dem Westen und Russland mit den Sorgen vor der nahen Zukunft.

„Ich habe Angst davor, dass die Grenzen dicht gemacht werden“, sagt Sauers Frau Jelena Leontjeva. Jenseits von Kaliningrad würden sich die Menschen in Russland darüber wahrscheinlich nicht so viel Gedanken machen, aber hier sei man es jahrelang gewöhnt gewesen, regelmäßig in die Nachbarländer Polen und Litauen zu reisen. Seltener und fremder seien für viele dagegen Ausflüge nach Moskau oder St. Petersburg. Leontjeva erzählt: „Die Kaliningrader sagen dann oft, ich fahre nach Russland oder Großrussland.“

Der einst blühende Handel rund um Kaliningrad ist etwas ausgetrocknet worden. Vor zwei Jahren haben die Polen den Grenzverkehr eingeschränkt. Es besteht nun Visapflicht – für beide Seiten. Der Weg zueinander wurde mit Hürden der Bürokratie versehen. Für die Zeit der Weltmeisterschaft, berichten Grenzgänger in Kaliningrad, habe man die Hindernisse ein wenig abgebaut.

An die westlichste Stadt Russlands wurden lediglich Vorrundenspiele vergeben. Weil in Kaliningrad ansonsten lediglich russischer Zweitligafußball zu sehen ist, haben das die meisten dennoch als großes Glück erlebt.

Am Donnerstag bestritten England und Belgien die letzte WM-Partie in der Stadt. Der Ausgang hatte eine symbolträchtige Note. Obwohl Belgien 1:0 gewann, fühlten sich alle als Gewinner. Die Engländer, die trotzdem im Achtelfinale stehen, die stolzen Kaliningrader Gastgeber und die Belgier sowieso. Und jeder weiß, dass der Gewinn von zeitlich begrenzter Bedeutung ist. Rückschläge muss auch das so weit geöffnete Kaliningrad fürchten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!