50 Jahre Bürgerkrieg in Kolumbien: Archäologie der Verschwundenen
Erika Diettes ist Fotografin und Anthropologin in Kolumbien. Ihr Vater war Polizeigeneral. Ihr Werk gilt den Opfern des Bürgerkriegs.
Doña Emperatriz Castro de Guevara hieß eine der ersten Frauen, die Vertrauen zur Fotografin Erika Diettes fasste. Ihr Bild hängt als kleine Erinnerung in dem großzügigen Atelier in der achten Carrera von Kolumbiens Hauptstadt Bogotá.
Im Zentrum von Bogotá, nahe dem Parlament, lebt und arbeitet die kolumbianische Fotografin Erika Diettes. Fotos schmücken die Wände des rund 150 Quadratmeter großen Raumes, wo experimentiert, ausgeleuchtet und arrangiert wird – mit Kunstharz, Licht in kleinen Schaukästen oder auch Wasser.
Und überall hängen oder stehen kleine Erinnerungen an Menschen, mit denen sie gearbeitet hat. Hier eine kleine Miniaturkamera, dort ein aus Perlen gearbeiteter Totenkopf und gegenüber ein Rahmen mit einer Socke – ein Stück Erinnerung. Mit ihren Arbeiten dokumentiert Erike Diettes den Schmerz einer Gesellschaft: überwiegend den der Frauen, deren Angehörige ermordet wurden, verschwanden oder in einen Bürgerkrieg zogen, von dem sie nie zurückkamen.
Wie der Sohn von Emperatriz Castro de Guevara. Sie hat der Fotografin Briefe ihres Sohnes, eines Polizeioffiziers, aus der Gefangenschaft der Farc-Guerilla gezeigt und Diettes zwei Polizeiuniformen für ihre Ausstellung „Rio Abajo“ überlassen.
Um mit den Opfern des Bürgerkriegs, vor allem den Frauen, in Kontakt zu kommen, hat sich Diettes, die Tochter eines Polizeigenerals, an die christliche Menschenrechtsorganisation Cinep gewandt. Sich in Workshops mit Angehörigen gesetzt und so langsam Kontakte aufgebaut.
Fotografie und Geschichte
Ein halbes Leben ist das jetzt her. Erika Diettes hat 1995 den Entschluss gefasst, Fotografin zu werden. Und sie wollte mit dem Medium der Fotografie die jüngere traumatische Geschichte des Landes erfassen, bearbeiten. „Ich war 17 Jahre alt, als der Bruder meiner Mutter von der Guerilla ermordet wurde“, sagt sie. „Wir erfuhren es zur besten Sendezeit aus den Nachrichten – das war ein Schock.
Danach habe ich mich für die Fotografie und diese Art der Beschäftigung mit der Geschichte entschieden“, so Diettes. Sie studierte Kommunikationswissenschaften mit dem Schwerpunkt Fotografie und später Anthropologie an der Universität der Anden in Bogotá.
In Diettes’ Dokumentarfotografie dreht sich alles um die Opfer dieses Konflikts, der Kolumbien weit über fünfzig Jahre lang prägte und der so viel Facetten hat, dass Aufklärung und Aufarbeitung sicherlich ähnlich lange dauern werden, egal wie die Präsidentschaftswahl am 16. Juni ausgehen wird. In der Stichwahl stehen sich mit Gustavo Petro ein Ex-Guerillero der Stadtguerilla M-19 und ehemaliger Bürgermeister von Bogotá sowie mit Iván Duque ein Wirtschaftsanwalt und Kandidat des Centro Democrático, das das Friedensabkommen mit der Farc-Guerilla in Frage stellt, gegenüber.
Die knapp Vierzigjährige glaubt, dass Aufklärung nicht unbedingt im Sinne der wirklich einflussreichen Gruppen in Parlament oder Gesellschaft ist. Sehr schleppend kam das Friedensabkommens zwischen Regierung und Farc-Guerilla zustande, sehr schleppend wird es umgesetzt und ist mit herben Rückschlägen verbunden.
Diettes hat die Trauernden des Konflikts fotografiert. „Dolientes“ nennt sie eine Serie von Porträts. Sie begreift ihre Arbeit an der Schnittstelle von Anthropologie und Fotografie. Sie hat auch ein Buch über Trauer, Verlust und Schmerz verfasst. Ihre schwarz-weißen Fotoporträts fertigt sie an, während ihr die Angehörigen erzählen, wie sie ihren Freund, Partner oder Verwandte verloren haben.
Diettes will dem Schmerz ein Gesicht geben
So will sie den Schmerz einfangen, ihm ein Gesicht geben. Eine durchaus umstrittene Methode der Authentizität mit Betroffenheitsgestus, aber im Ergebnis fotografisch eindrucksvoll. Sie sucht dabei auch nach Wegen der Abstraktion, fotografiert Kleidungstücke, wie die Eingangs erwähnte Uniform des Polizeioffiziers oder die Lieblingsbluse eines anderen Opfers im Wasser treibend.
Vieles erscheint auf den ersten Blick unspektakulär. Aber in Kolumbien wissen die Leute, dass viele der über 65.000 Verschwundenen als tote Körper von den Flüssen weggetragen wurden. „Unsere Flüsse sind die Friedhöfe der Namenlosen“, sagt Diettes.
Kaum eine Familie in Kolumbien ist unberührt von der Gewalt im Kontext des bewaffneten Konflikts geblieben. Doch die Familien, die nicht wissen, ob ein/e Angehörige/r tot ist, tragen vielleicht die größte Last. „Sie können nicht Abschied nehmen, können niemanden bestatten“, sagt Diettes. „Und hoffen oft, dass es die Person doch noch gibt, sie vielleicht doch noch auftaucht.“
Als junges Mädchen wurde sie selber von Bodyguards zur Schule gebracht. Schließlich war ihr Vater in den 1990er Jahren die Nummer zwei in der Polizeihierarchie. Ein Mann, der Wert auf Bildung legt, der die Kinder humanistisch erzogen hat und zwischenzeitlich mit seiner Familie fliehen musste – in die USA. Erfahrungen, die sie genauso geprägt haben wie der Mord am Bruder ihrer Mutter, José Alejandro Gutiérrez, dem damaligen Direktor der Gefängnisverwaltung.
Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre eskalierte die Gewalt in Kolumbien. Da attackierte Kokainbaron Pablo Escobar die Institutionen des Landes – Autobomben und Attentate standen auf der Tagesordnung. Parallel dazu lief der bewaffnete Konflikt mit den beiden Guerilla-Organisationen Farc und ELN und den mehr in mehr in Erscheinung tretenden Paramilitärs ab. Diese Jahre zählen zu den gewalttätigsten in Kolumbien.
Die Mutter recherchierte auf eigene Faust
Damals verschwand auch der Sohn von Fabiola La Linde. Er war ein junger Soziologe, der in einer kommunistischen Jugendorganisation in Medellín aktiv war. Das allein war wohl schon sein Todesurteil. Der 26-jährige Aktivist wurde hundertdreißig Kilometer von Medellín entfernt von Militärs aufgegriffen, gefoltert und ermordet. Der Fall Luis Fernando La Linde wurde landesweit bekannt, weil seine Mutter auf eigene Faust recherchierte, die Exhumierung seiner Leiche – eines angeblich unbekannten Toten – gegen die Militärs durchsetzte. Schließlich ließ sich per DNA-Test beweisen, dass die Überreste des vermeintlich Unbekannten die ihres Sohnes waren.
Mehrere Dokumente, darunter der Studentenausweis, befinden sich neben Medaillen, die Luis Fernando La Linde bei Sportveranstaltungen erworben hat, in einem quadratischen Kasten, der als Teil der Ausstellung „Relicarios“ in Medellín zu sehen war.
165 solcher beleuchteter Kästen hat Erika Diettes bauen lassen. Vor Ausstellungsbeginn trafen sich 165 Angehörige von Opfern im Museum von Antioquia, um zu sehen, wie Erika Diettes in dieser Ausstellungen an ihre Kinder, Schwestern, Brüder, Ehemänner und -frauen erinnert. Drei Tage trafen sich so Angehörige und Freunde, die ein ähnliches Schicksal teilen.
„Das hilft und gibt Kraft, um weiterzukämpfen“, sagt Fabiola La Linde. „Die Kunst tritt für die Auseinandersetzung mit der Geschichte ein“, sagt die heute fast 80-Jährige. Über das kurze Leben ihres Sohnes wurde gerade auch mit ihrer Hilfe und ihrem Einverständnis ein Dokumentarfilm gedreht.
„Die Kunst ist oft der einzige Ort, wo die Opfer einen Platz haben, wo sich mit ihnen auseinandergesetzt wird“, meint Diettes. Sie sieht ihre Erinnerungsarbeit im ästhetischen Bereich in einer ähnlichen Linie wie die der Dramaturgen Carlos José Reyes oder Patricia Ariza. 95.000 Besucher kamen allein in Medellín zu ihrer Ausstellung „Relicarios“. Ein ermutigendes Zeichen.
Derzeit arbeitet sie bereits an ihrem nächsten Ausstellungsprojekt mit dem Titel „Labor der Verschwundenen“. Es soll mit den Mitteln der Kunst und des Museums ein Ort sein, um den mindestens 65.000 Verschwundenen des Bürgerkriegs eine symbolische Ruhestätte zu geben. Für die Angehörigen ein Ort der Trauer und der Erinnerung.
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