piwik no script img

Präsidentschaftswahl in der TürkeiKurdischer Stachel in Erdoğans Fleisch

Trotz Sperrklausel: Die kurdisch-linke Partei HDP mit ihrem inhaftierten Spitzenkandidaten Demirtaş könnte die Wahl entscheiden.

Demirtaş betreibt Wahlkampf aus dem Gefängnis heraus. Erdoğan erhebt Terrorvorwürfe gegen ihn Foto: reuters

Istanbul taz | Wie macht man Wahlkampf im Gefängnis? Selahattin Demir­taş, Präsidentschaftskandidat der kurdisch-linken HDP (Partei der Völker) für die Wahl in der Türkei am 24. Juni, sitzt seit November 2016 im Hochsicherheitsgefängnis Edirne in Untersuchungshaft. Außer seinen engsten Angehörigen können ihn nur seine Anwälte regelmäßig besuchen. Über die läuft sein Kontakt nach draußen.

Wie das aussieht, war am Mittwoch in den sozialen Medien zu besichtigen. Die HDP postete ein Video, auf dem Familie und Freunde von Demirtaş sich in dessen Haus eine Wahlkampfrede anhören, die er über das Telefon seiner Frau vorliest.

Am Donnerstag davor hatte Demirtaş eigentlich erstmals an einer Wahlkampfdiskussion im Fernsehen teilnehmen sollen. Nicht persönlich, aber am Telefon. Der US-Sender Fox News hatte diesen Coup lange vorbereitet. Doch er scheiterte am Einspruch des türkischen Justizministeriums.

Schon 2014 war Demirtaş für die HDP ins Rennen gegen Recep Tayyip Erdoğan gegangen und hatte erstaunliche 10 Prozent geholt. Erstmals war es ihm gelungen, aus dem ethnischen kurdischen Getto auszubrechen und die HDP auch für linke nichtkurdische Türken wählbar zu machen. Mit Witz und Charme und indem Demirtaş sich im Umgang mit den Dogmen der kurdischen Nationalbewegung flexibel zeigte, zog die HDP im Juni 2015 mit 13 Prozent ins türkische Parlament ein.

Die HDP ist das Zünglein an der Waage

Damit kann das derzeitige Führungsduo der HDP nicht aufwarten. Pervin Buldan ist eine Dogmatikerin, die es in einem dreistündigen TV-Auftritt nicht vermochte, die Politik der PKK zu kritisieren. Und Sezai Temelli, der türkische Linke an der Seite der altgedienten kurdischen Politikerin, ist ein Leichtgewicht, der zu den entscheidenden Fragen über den Umgang der HDP als Partei mit der PKK als bewaffnete Organisation lieber gar nicht Stellung nimmt.

Trotzdem hat die HDP bei den Wahlen erneut gute Chancen, die 10-Prozent-Hürde zu nehmen und wieder ins Parlament einzuziehen. „Die anderen Oppositionsparteien brauchen uns“, sagte Saruhan Oruç, einer der Wahlkampfmanager und langjährigen stellvertretenden HDP-Vorsitzenden, zur taz. Das liegt am Wahlsystem. Scheitert die HDP knapp an der 10-Prozent-Hürde, werden ihre Mandate auf die anderen Parteien umverteilt.

Offiziell hat die HDP sich noch nicht festgelegt, was sie im Fall einer Stich­wahl machen würde

Die stärkste Fraktion bekommt dabei am meisten. Nach aktuellen Umfragen kann die Wahlallianz von Präsident Erdoğan (AKP und MHP) mit 280 Sitzen rechnen – die absolute Mehrheit liegt bei 300. Schafft die HDP es nicht, kann die AKP mit 60 umverteilten Sitzen rechnen, hätte also die klare absolute Mehrheit. Das macht die HDP zum Zünglein an der Waage.

Und das könnte viele türkische Linke, die vielleicht sonst nicht die HDP wählen würden, dazu veranlassen, bei der kurdisch-linken Partei ihr Kreuz zu machen. Dasselbe gilt für die Präsidentschaftswahl. Erzielt Demirtaş über 10 Prozent, wird er entscheidend dazu beitragen, dass Erdoğan im ersten Wahlgang nicht die absolute Mehrheit bekommt und sich einer Stichwahl am 8. Juli stellen muss.

Derzeit aussichtsreichster zweiter Anwärter auf den Platz in einer Stichwahl ist der Kandidat der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP, Muharrem İnce. Wenn alle Oppositionsparteien İnce im zweiten Wahlgang unterstützen, hat er eine Chance, Erdoğan zu schlagen.

Offiziell hat die HDP sich noch nicht festgelegt, was sie im Falle einer Stichwahl machen würde. Doch für einige Zugeständnisse wäre sie wohl bereit, İnce zu unterstützen. So ist ein Untersuchungshäftling der entscheidende Faktor bei diesen türkischen Wahlen.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • "Wenn alle Oppositionsparteien İnce im zweiten Wahlgang unterstützen, hat er eine Chance, Erdoğan zu schlagen."

     

    Wenn die Wahlen denn fair und frei verlaufen. Und da wäre ich sehr skeptisch. Dass Dmirtas im Gefängnis sitzt, spricht für unfaire Verhältnisse und wer soll eigentlich über die Opposition berichten? Die meisten kritischen Journalisten sind in Haft oder geflüchtet.

  • Ich drücke der HDP die Daumen.