piwik no script img

Urteil zu Dashcams im VerkehrEndlich mit Videobeweis!

Frohe Botschaft für alle Opfer von Autofahrern: Der Bundesgerichtshof hat am Dienstag Dashcam-Videos als Beweismittel zugelassen.

Szene aus dem Wilden Autofahrerwesten – hier in Berlin-Kreuzberg Foto: Tobias Schulze

Am 22. März 2017 um 8.50 Uhr wäre ich beinahe gestorben. Zumindest hätte ich mir das Genick brechen können oder vielleicht einen Arm.

Es geschah auf dem Weg zur Arbeit: Ich fuhr auf dem Radweg neben der Wiener Straße in Berlin-Kreuzberg (vorfahrtberechtigt!), mittlere Geschwindigkeit, und wollte gerade die Lausitzer queren – als mir von dort ein blauer Peugeot-Kombi in die Bahn rollte. Die Fahrerin hatte nicht geschaut. Ich also: erschrockener Schrei, Lenker zur Seite, Vollbremsung. Erst einen Meter vor dem Wagen kam ich zum Stehen.

Ich kann das so genau erzählen, weil ich alles auf Video habe. Solche Aufnahmen gehen ganz einfach: Das Handy per Halterung an den Lenker stecken, die Kamera auf die Straße richten und dann eine App öffnen. Meine heißt „DashCam 2“. Sie zeichnet die Straße vor mir jeweils eine Minute lang auf, danach wird der Clip automatisch gelöscht, es sei denn ich drücke auf „Speichern“, weil etwas Spannendes passiert ist. Zum Beispiel ein Beinahe-Unfall mit einem blauen Peugeot.

Zahlreiche Nahtoderlebnisse

Der Bundesgerichtshof hat am Dienstag ein Urteil zu solchen Dashcam-Videos gesprochen. Permanentes Aufzeichnen ohne Anlass verstößt den Richtern zufolge zwar gegen den Datenschutz. Kommt ein Unfall vor Gericht, zählen die Videos trotzdem als Beweis. Im konkreten Fall ging es zwar um einen Konflikt zwischen Autofahrern. Großartig ist die Nachricht aber vor allem für Radfahrer.

Neben Fußgängern sind sie im Straßenverkehr die marginalisierteste Gruppe. Die Infrastruktur drängt sie an den Rand, motorisierte Verkehrsteilnehmer empfinden schon ihre pure Existenz oft als Provokation. Von Nahtoderlebnissen kann jeder erzählen, der regelmäßig in Städten aufs Rad steigt: Beifahrer öffnen Autotüren, ohne auf Radwege zu achten. Autofahrer überholen ohne Sicherheitsabstand. Lkw-Fahrer biegen ab, ohne in den Spiegel zu schauen. Wer solche Situationen unverletzt übersteht, sollte es besser nicht wagen, sich hinterher zu beschweren: Nur wer Glück hat, bekommt eine Entschuldigung. Wer Pech hat, wird bedroht und beleidigt. Dann die Polizei zu rufen, bringt auch nichts: Im Normalfall steht Aussage gegen Aussage.

Es sei denn, alles ist auf Video festgehalten. Technisch gibt es dafür verschiedene Möglichkeiten: das Handy am Lenker, eine Action-Cam auf dem Helm oder sogar Fahrradlichter mit USB-Anschluss und integrierter Kamera. Wer den Verkehr damit aufzeichnet, kann sich dank des Karlsruher Urteils in Zukunft viel einfacher vor Gericht wehren. Die Kamera am Rad wird zum Instrument des Empowerments, die Machtlosigkeit gegenüber Verkehrsteilnehmern mit schwereren Fahrzeugen wird überwunden.

Und es ginge sogar noch mehr: Wenn die Parlamente gesetzliche Hürden absenken und auch die Veröffentlichung von Verkehrsaufnahmen erlauben würden. Die prekäre Lage von Radfahrern würde dann nicht nur für Richter, sondern auch für die Öffentlichkeit sichtbar.

Auf YouTube gibt es massenhaft Videos aus anderen Ländern, in denen Radfahrer ihre Unfälle zeigen. Am besten ist ein Clip aus England. Titel: „Road Rage Driver Attacks Cyclist! **FUNNY**“. Ein Autofahrer überholt ohne Abstand, der Radfahrer stellt ihn an der nächsten Kreuzung zur Rede und kassiert dafür eine Beleidigung: „You are a fucking little bycicle!“ Die Situation schaukelt sich auf, bis der Autofahrer aussteigt, dem Radfahrer hinterher rennt, nach ihm tritt – aber ins Leere stößt, stolpert und auf die Nase fällt.

Schauen Sie sich das mal an. Danach wollen Sie auch so eine Kamera.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

4 Kommentare

 / 
  • Super, dann kann man auch endlich Videos der realen Zustände in der Berliner Innenstadt aufzeigen: Radfahrer, die keine Gelegenheit auslassen gegen die StVO zu verstossen und geltendes Recht zu ihren Gunsten zu beugen. Gerechtigkeit ist ein Schwert mit zwei Schneiden.

  • Auch ich finde das Urteil gut. Aber der (Online) Pranger für rüpelhafte Autofahrer? Ernsthaft? So sieht heutzutage das "Empowerment" von "marginalisierten" Gruppen aus?

    • @Der Mann, der unter einen Stein hervorkroch:

      Danke.

       

      Es fehlte nur der Hinweise auf kleine Kinder und Senioren in der Kampfschrift. Als Kommentar, obwohl doch reichlich persönlich, ist es nicht gekennzeichnet.

       

      Und ja, ich habe auch einige tKm mit diversen Fahrradtypen durch die Stadt zurückgelegt.

  • Wenn schon denn schon oder doch nicht?

    "Allein mit der schwammigen Begründung, eine „drohende Gefahr“ abwehren zu müssen, soll die Polizei im Freistaat künftig die gesamte Bandbreite an Überwachungsmaßnahmen rein präventiv, also noch bevor eine Straftat oder ähnliches passiert ist, einsetzen dürfen. Seit 1945 hat es in Deutschland keine Ausweitung polizeilicher Befugnisse in dieser Größenordnung gegeben!“ So stand es im Demo-Aufruf für die Große NoPAG-Demonstration in München, also über 30.000 Personen gegen die Verschärfung demonstriert haben. Die „drohende Gefahr“ ist der zentrale Begriff der geplanten Reform, über die der bayerische Landtag am heutigen Dienstag abstimmt."