Kolumne Behelfsetikett: Erinnerungen: süß und fruchtig
Die Erinnerung kann einen ganz schön trügen. Das betrifft Orte genauso wie Geschmäcker.
Mit Erinnerungen ist das so eine Sache. Man kann ihnen nicht trauen. Das habe ich zuletzt am Beispiel des Plänterwaldes erfahren. Weil es neuerdings Führungen über das marode, überwucherte Gelände des ehemaligen Vergnügungsparks aus DDR-Zeiten gibt, machten wir das auch Spreepark genannte Areal zum Thema einer unserer Wochenendausgaben. Wir suchten nach einem Text, der beschreibt, wie schön es dereinst im Plänterwald doch war. Von wegen fröhlicher Alltag im DDR-Sozialismus, Flucht aus dem grauen Einerlei oder so.
Kann ich doch selbst schreiben, dachte ich, wenn wir niemanden auf die Schnelle finden. Ich war da als Kind schließlich mal und fuhr im Riesenrad ein paar Runden und aß Zuckerwatte und Bockwurst. Aber wir fanden eine Kollegin, die einen tollen Text über das bunte Treiben im übrigens einzigen Freizeitpark der DDR schrieb.
War ich wirklich dort?
Tage danach begann es in mir zu arbeiten: War ich wirklich als Kind im Plänterwald? Mein Gehirn suggerierte das. Aber meine eine Berliner Tante, mit der ich da gewesen zu sein meinte, verneinte das: „Mit euch waren wir da nie“, sagte sie, „aber mal am Alexanderplatz auf dem Fernsehturm.“
Daran kann ich mich wiederum nicht entsinnen. Ich verbinde Besuche am Alex allein mit einer lukullischen Erinnerung namens Grilletta. Das war die DDR-Variante eines Hamburgers: Ein einfaches Brötchen wurde angewärmt, eine Grilletta – eine flach gebratene Bulette – hineingelegt, Ketchup und Salatblatt nebst Stücken eingelegter Gurke und Käse (zumindest in meiner Einbildung), fertig war ein wunderbarer Imbiss, den es in meiner Heimat im westlichen Mecklenburg nirgends zu kaufen gab. Dort war der Broiler das höchste der Gefühle. Die Imbissgaststätte in den Rathauspassagen am Alex hieß ebenfalls „Grilletta“ – mein Traumziel bei den alljährlichen Berlin-Besuchen zu DDR-Zeiten.
Meine andere Berliner Tante erzählt mir gerne von ihrem früheren Job. Sie kann sich gut erinnern, wie das in den 1970er und 1980er Jahren im Haus Budapest so war, das 1954 an der Ecke Karl-Marx-Allee/Friedensstraße eröffnet wurde. Wie hart die Arbeit in der Küche im Schichtsystem, wie nett die Kollegen, wie groß immer wieder mal der Mangel an bestimmten Nahrungsmitteln war und wie dankbar die Gäste. Bis zum Haus Budapest habe ich es zu DDR-Zeiten nie geschafft, obwohl es ja nicht weit vom Alexanderplatz entfernt lag. Heute fahre ich dort jeden Tag mit dem Rad auf dem Weg zur Arbeit in der taz vorbei. Wo es früher Gulasch und auch Soljanka gab, stehen jetzt Steaks auf der Speisekarte. Ich hab da aber noch nie gegessen.
Gegen eine leckere Soljanka habe ich auch heutzutage nichts einzuwenden. Etwas mehr schon gegen Hallorenkugeln, kleine runde Pralinen aus Halle (Saale), die angeblich aus der ältesten Schokoladenfabrik Deutschlands kommen, deren Geschichte bis 1804 zurückgeht. Zu DDR-Zeiten gab es immer nur eine Sorte. Von diesem Klassiker kann ich mal eine Praline aus nostalgischen Gründen essen, den Rest (und auch all die anderen neuen Sorten) verspeist dann mit Wonne meine angeheiratete Verwandtschaft aus dem Hessischen.
Und dann gibt es, was selten vorkommt, die Wiedergeburt eines alten Ostproduktes zu würdigen. Eine Berliner Firma hat „Travidyn“ erneut auf den Markt gebracht – so viele Jahre nach dem Mauerfall, irre. Es handelt sich dabei um einen Multivitamin-Sirup und Vitamin-Gummipastillen. Die Vitamine C, A und D sollen darin enthalten sein. Das Verkostungspaket ist längst aufgebraucht: Den Sirup, der mir viel zu süß war, hat die Familie einer Kollegin getestet. „Wir sind seit Wochen nicht mehr krank“, resümierte sie den kleinen Selbstversuch. Die Gummipastillen in den kleinen Gratisproben aber waren alle meine. Denn ich erinnerte mich beim ersten Kosten an den Geschmack von früher: Es schmeckte fruchtig und süß zugleich, ein Hauch exotisch. Und gar nicht nach DDR.
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