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Kommentar Proteste am 1. MaiSolidarität ist mehr als Lohnerhöhung

Gereon Asmuth
Kommentar von Gereon Asmuth

Derzeit wird über Hartz IV und Umverteilung diskutiert wie schon lange nicht mehr. Wer da nur höhere Löhne fordert, verschenkt Protestpotential.

Nicht nur an die eigene Knete denken Foto: dpa

E s tut sich was. Das muss man ohne Zweifel feststellen. Seit die SPD erneut auf dem Groko-Dampfer eingeschifft wurde, steht sie überraschenderweise wieder im Mittelpunkt: die soziale Frage! Kevin Kühnert, die personifizierte Opposition innerhalb der Sozialdemokratie, darf dieser Tage nicht nur einen Mindestlohn von 12 Euro pro Stunde fordern. Das Krasseste daran: Er wird nicht gleich als wahnwitziger Spinner abgetan – obwohl er doch Juso-Vorsitzender ist und die Linkspartei das gleiche Revolutiönchen schon länger im Programm hat. Dann kommt der 1. Mai, heraus tritt der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und fordert: Tariflohn! Genauer gesagt: Tarifbindung! Dabei sei besonders die neue Bundesregierung gefordert, schallt es kämpferisch von den Podesten. Zu Recht, auch das ganz ohne Zweifel.

Dennoch muss man feststellen: Das, was der linke Rand der SPD und die Funktionäre der Gewerkschaften am Kampftag der Arbeiterschaft an Parolen raushauen, das ist nicht auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt. Das ist knietief im Dispo der sozialen Bewegung.

Im Arbeiterland Nordrhein-Westfalen hat der DGB am 1. Mai tatsächlich nochmal die Kohlekumpel in die erste Reihe gestellt. Das mag als schöne Geste an eine aussterbende Zunft gedacht sein, wirkt aber wie die Verweigerung jeglichen Gegenwartsbezugs. So richtig schlimm wird es, wenn man hört, mit welcher Verve die Gewerkschaften nun die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens verteufeln. Das grenzt schon an Denkfaulheit. Rückwärts immer, vorwärts nimmer.

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In diesem Jahr haben wir unser Angebot um ein Versuchsprojekt ergänzt, das es so noch nie gab: Mit der ganztägigen taz-#Maischalte, der größten Livestream-Konferenz der Republik. Was das soll, erklärt Martin Kaul im Hausblog.

Das ist umso schlimmer, als ja tatsächlich gerade eine einmalige Chance in der Luft liegt. Es wird landauf, landab über Hartz IV, Mietenpolitik, Geschlechtergerechtigkeit, Umverteilung diskutiert wie schon lange nicht mehr. Wer sich da nur auf die Lohnhöhe beschränkt, verschenkt nicht nur Protestpotenzial, sondern jede Chance auf konkrete Verbesserungen. Denn was nützt zum Beispiel die schönste Lohnerhöhung, wenn sie durch eine exorbitante Mietenexplosion gleich wieder aufgefressen wird? Dann hat man zwar eine echte Umverteilung erzielt – aber nur von den Arbeitgebern, die mehr zahlen, hin zu den Immobilienbesitzern, die mehr kassieren. Die, die es nötig hätten, gehen wieder leer aus.

Die soziale Frage verlangt wesentlich breiter gefächerte, komplexere Antworten, die nicht nur die beglücken, die schon Jobs haben. Und sie braucht sie bald. Denn wenn sie nicht von einer breiten gesellschaftlichen Linken kommen, die sich am Grundgedanken der Solidarität orientiert, dann kommen sie in brutaler Schlichtheit von den Rechtspopulisten.

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Gereon Asmuth
Ressortleiter taz-Regie
Leiter des Regie-Ressorts, das die zentrale Planung der taz-Themen für Online und Print koordiniert. Seit 1995 bei der taz als Autor, CvD und ab 2005 Leiter der Berlin-Redaktion. 2012 bis 2019 Leiter der taz.eins-Redaktion, die die ersten fünf Seiten der gedruckten taz produziert. Hat in Bochum, Berlin und Barcelona Wirtschaft, Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und ein wenig Kunst studiert. Mehr unter gereonasmuth.de. Twitter: @gereonas Mastodon: @gereonas@social.anoxinon.de Foto: Anke Phoebe Peters
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14 Kommentare

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  • Kohlekumpel - Motoradkorso, lauwarmes Bier und fette Würstchen. Michael Müller als Hauptredner. Man könnte meinen, die wollen die SPD retten. Keine Diskusion über zukünftige Arbeitsfelder der Gewerkschaften. Der Untergang kommt! Hier wird Stillstand demonstriert.

  • Gute Löhne sind Voraussetzung für einen angemessenen Lebensunterhalt zur öffentlichen Teilhabe einer Person oder einer Familie!

    Genauso wichtig sind Arbeitsstellen, in denen man angemessene, gute Löhne erzielen kann.

     

    Genau dort hapert es aber in unserer Wirtschaft, denn durch die Agenda 2010 sind Arbeitsplätze geschaffen worden, bei denen es nicht mehr möglich ist angemessene Löhne zu erzielen, welches von der schröderschen SPD und den Unternehmen so gewollt wurde!

     

    Diese prekären Arbeitsplätze sind angeblich geschaffen worden, um mehr Menschen in Arbeit zu bekommen, sieht man aber genauer auf die letzten 15 Jahre zurück, erkennt man, dass es erst in den letzten 3 - 5 Jahren zu einer Verringerung der Arbeitslosenquote gekommen ist.

    Die Agenda ist, im Rückkehrschluss, nur zur Steigerung der Gewinne der Unternehmen gestaltet worden.

     

    Alle die heute über einen höheren Mindestlohn oder Hartz IV debattieren, sollten sich einmal genau mit diesem Thema auseinander setzen, dann würden sie sehen, dass diese ganzen Debatten ins Leere führen!

     

    Durch die Erhöhung der Löhne, genauso wie das Grundeinkommen würden nichts an der Ungerechtigkeit des Arbeitnehmerverhältnisses zu den Unternehmen ändern.

    Weiterhin wäre der Arbeiter derjenige, der durch den Willen des Unternehmers eine Abhängigkeit einzugehen hat.

     

    Es müsste von der Politik darüber nachgedacht werden, wie man es schaffen kann, dass der Arbeiter nicht nur ein Auskommen für seine Arbeitsleistung erzielen kann, mit der er eben mal so gerade seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, sondern wie es möglich wäre dem Arbeiter auch in den unteren Einkommensschichten ein selbst bestimmtes Leben zu ermöglichen und zwar nicht nur über sein Erwerbsleben, sondern auch darüber hinaus!

     

    Dies ginge nur, wenn eine Solidarität zwischen den sogenannten Reichen und den sogenannten Armen erreicht würde!

     

    Dies wäre sehr schwierig zu bewerkstelligen, aber es fehlt allein der Wille der Reichen und vor allem der Politik!!!

    • @urbuerger:

      es sind nicht nur die reichen , welche den staat finanzieren , die obersten 10 % finanzieren 70 % , ähnlich wie 3 bundesländer 13 andere mittels finanzausgleich . da die gefühlte ungerechtigkeit grenzenlos ist , nimmt die lust auf solidarität ab . ca . mitte juli weiss der leistungsträger , juhuu , bis jetzt habe ich für die anderen gearbeitet , ab jetzt für mich .

      wohin soll dieses datum hin verscho-ben werden , oktober wie weiland in gb und schweden ?

      • @oliver pasch:

        Größtenteils gebe ich ihnen Recht, dass es nicht wünschenswert ist solange arbeiten zu müssen, um in die eigene Tasche zu wirtschaften.

        Überlegen sie aber mal, wie viel Geld die "Reichen" verdienen, bevor der 1. Tag des Jahres um ist, während sie den Rest des Jahres alles in die eigene Tasche stecken können und wie viele davon nicht einen Handschlag rühren brauchen um ihren Mittejahresstandard zu erreichen und wie wenig diese Leute durch Steuern

        an die Gemeinschaft zurück geben?

        Auch Aktiengewinne können nur durch die mit den Händen arbeitenden Menschen erzielt werden, denn wenn nichts produziert wird, gäbe es auch keine Gewinne an der Börse, denn die Firmen generieren ihren Wert durch ihre Wertschöpfungskette zu denen überwiegend der arbeitende Mensch und Konsument gehört.

         

        Es wird unendlich schwierig etwas am Status Quo zu ändern, aber wenn damit erst gar nicht begonnen wird, bleibt alles beim Alten und spätestens wenn es um die Altersversorgung geht, geht es jeden etwas an, auch diejenigen, die jetzt noch ein ziemlich geregeltes Einkommen erzielen können.

        Leider gibt es immer mehr gut ausgebildete Menschen, auch Akademiker, die nicht mehr von ihrem Einkommen in der Lage sind für eine bessere Rente selbst einzahlen zu können!

         

        Auf Dauer wird dies schiefgehen und durch diese Schieflage werden wir irgend wann auf unser ach so "Behütete Leben" verzichten müssen und keiner kennt die sich daraus ergebenden Konsequenzen!!!

  • dato fliessen 1 billion euro p.a. ins soziale . ab wann sind wir zufrieden , und , wer solls zahlen ?

  • „Solidarität ist mehr als Lohnerhöhung.“

     

    Wie Frau Kipping es auch zurecht feststellte, sein sehr viele Arbeitnehmer und arbeitslose Menschen bereit, eine Arbeit aufzunehmen unterschlechten Arbeitsbedingungen und vor allem mieser Bezahlung. Das wiederum trägt zu einem niedrigen Gehaltsniveau bei. Hartz IV also bringt das Lohnniveau nach unten.

    HARTZ IV und der Mindestlohn haben gegenseitigen Einfluss.

  • "So richtig schlimm wird es, wenn man hört, mit welcher Verve die Gewerkschaften nun die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens verteufeln. Das grenzt schon an Denkfaulheit. Rückwärts immer, vorwärts nimmer."

     

    Die Gewerkschaften verhandeln Gewerkschaftsverträge etc. Das Bedingungslose Grundeinkommen kommt da in die Quere. Oft allerdings werden die Gewerkschafte als ein verlängerter Arm der Geschäftsführung des jeweiligen Unternehmens wahrgenommen. Oft kommen einzelne Menschen unter.

    Auch wenn man die AfD vollkommen ablehnt, so muss man trotzdem zugeben, dass deren Kritik gegenüber den Gewerkschaften in Bezug auf einzelne Arbeitnehmer bzw. Mitglieder gerechtfertigt ist. Hier hat die AfD sich eine Nischenposition für sich allein leider gewonnen.

  • 7G
    76530 (Profil gelöscht)

    Der Artikel verkennt Entscheidendes: weder SPD noch DGB hatten in den letzten fünfzig Jahren auch nur ein Jota mit "Protestpotenzial" am Hut. Dies wird vor allem beim Umgang mit Arbeitslosen deutlich: Klientelpolitik für die, die Arbeit haben und - bestenfalls - Desinteresse gegenüber denen, die aus der Arbeitswelt herausgefallen sind/ wurden.

    • @76530 (Profil gelöscht):

      Da denken Arbeitslose wohl anders drüber. Die meisten von denen wählen imme noch die SPD

  • Sehr interessanter Gedanke! Dass AfD und Co die soziale Frage stellen könnten, hatte ich bisher nicht auf dem Schirm. In Österreich sind die FPÖ-Sozialpolitiker, die wegen ihres glaubwürdigen Anspruchs gewählt wurden, jedenfalls sofort kalt gestellt worden. Die SPD muss man mittlerweile den rechten Parteien zuordnen, dass Kevin Kühnert dies ändert, glaube ich nicht. Er wird eher, wie andere vor ihm, links blinken und rechts abbiegen. Da sich der Sündenbock Flüchtlinge so schön Wut kanalisiert, können wir die Reichen auch in den nächsten Jahren noch großzügig beschenken!

  • Komme gerade von unserer Maiveranstaltung, wieder nen Tag mit Agitation verballert, anstatt Führers Befehl zum kollektiven Wandertag gefolgt zu sein. Ich muss sagen, die Kritik ist mehr als berechtigt, den Tarifbindung und Tariflohnerhöhung locken echt keinen Hund nehr hinter dem Ofen hervor. Aber, es ging ja nicht nur darum, es ging um den Aufruf sich zu organisieren, denn allein, in persönlichen bilateralen Gesprächen mit dem AG, geht der gemeine AN sicher nie als Sieger vom Platz. Das ist auch kein Knaller, aber ohne durchgehend organisierte Arbeitnehmerschaften, gibt es nicht mal den Dreck unterm Fingernägel von den Herrschaften, die an den Fleischtöpfen sitzen.

    Stellt euch mal vor, wer und wie das Gesundheitssystem wirklich reformiert werden würde, wenn 80% der Altenpfleger*innen bei Verdi organisiert und nicht in kirchlichen Stiftungen rechtlos gemacht worden wären?

    Was mich aber regelrecht nervt, ist das Alle bis aufs Jota genau wissen, was Gewerkschaften, SPD und Linke hierin alles falsch machen. Von den Christsozialen Demokraten erwartet keiner mehr was, die sind halt so wie sie sind und gewählt werden sie dann trotzdem wieder. Das ist doch schizophren sich an denen abzuarbeiten, die man nimmer wählt, weil sie nicht das gemacht haben, was man will, aber dann die zu wählen, die das was Mensch wirklich braucht, sogar noch verabscheuen. Diesen Zwiespalt kriege ich intellektuell nicht mehr auf die Reihe, sorry, liegt wohl an mir.

    • 7G
      76530 (Profil gelöscht)
      @Weidle Stefan:

      Nee, nee und nochmals nee. Es liegt nicht nur an Ihnen. Auch Andere stecken in diesem Zwiespalt.

       

      Doch CDU und CSU werden nicht von linken Zweiflern, Kritikern und Bedenkenträgern gewählt. Diese Anderen tragen die Verantwortung dafür, dass bis heute die soziale Frage nicht in der notwendigen Weise debattiert wird.

    • 8G
      80198 (Profil gelöscht)
      @Weidle Stefan:

      Solange nicht den Superreichen etwas genommen wird, hat jeder Angst, dass Umverteilung ihn selbst trifft.

      • @80198 (Profil gelöscht):

        Eben. Solidarität ist etwas, was sich nur Superreiche leisten können.