piwik no script img

Proteste in ArmenienMarschieren gegen Serzh Sargsjan

Der ehemalige Präsident wird vom Parlament zum neuen Regierungschef gewählt. Nach einer Verfassungsreform ist er damit mächtiger als zuvor.

Proteste gegen Serzh Sargsjan am Montag in Jerewan Foto: reuters

Berlin taz | Tausende aufgebrachte Demonstranten, die durch Jerewan ziehen und gewaltsam in öffentliche Gebäude einzudringen versuchen. Ansammlungen von Zelten zum Zeichen des Protests, die auch nachts nicht verwaisen. Polizisten in geschlossenen Reihen hinter Schutzschilden und Stacheldraht, die auch schon mal kräftig hinlangen: Im Zentrum der armenischen Hauptstadt herrscht Aufruhr.

Grund für die Wut, die die Menschen bereits den fünften Tag in Folge auf die Straßen treibt, ist eine Rochade an der Staatsspitze der besonderen Art. Am Dienstag wurde Serzh Sargsjan vom Parlament mit 76 zu 17 Stimmen zum neuen Regierungschef gewählt. Sargsjan war am 9. April zurückgetreten, um nach acht Jahren im Amt des Staatspräsidenten seinem Nachfolger Armen Sargsjan (die beiden sind nicht verwandt) Platz zu machen.

Frei nach dem Motto „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern“ hatte der Ex-Präsident noch 2014 vollmundig angekündigt, nicht den Posten des Premiers anstreben zu wollen, sollte Armenien von einem präsidentiellen zu einem parlamentarischen Regierungssystem übergehen.

Ein Jahr später wurde dieser Schritt vollzogen, nachdem eine Mehrheit der WählerInnen in einem fragwürdigen Referendum mit Ja gestimmt hatte. Laut Verfassung ist der Regierungschef jetzt mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet. Im März dieses Jahres brachte Sargsjans regierende Republikanische Partei ein Gesetz auf den Weg, das die Sicherheitsdienste der direkten Kontrolle des Premiers unterstellt.

Unbeliebter Politiker

In Armenien ist Sargsjan einer der unbeliebtesten Politiker überhaupt. Viele Armenier halten ihn, wie viele andere Politiker auch, für korrupt. Und sie nehmen es ihm bis heute übel, dass er 2013 im Alleingang und quasi über Nacht ein bereits unterschriftsreifes Abkommen mit der EU über den Haufen warf und sich stattdessen der von Russland dominierten Eurasischen Wirtschaftsunion anschloss.

Die hat dem Land, in dem ein Großteil der Menschen an der Armutsgrenze lebt, bisher nicht die versprochenen Wohltaten gebracht. Das dämmert mittlerweile auch Sargsjan. Im vergangenen November unterzeichnete die Regierung mit der EU ein Partnerschaftsabkommen, das die Regierung in Jerewan noch in diesem Monat ratifizieren will. Brüssel sieht darin auch eine Möglichkeit, dem Land zu mehr Stabilität zu verhelfen und einen Reformprozess anzustoßen.

Doch das scheint den Demonstranten derzeit egal zu sein. Sie wollen, dass Sargsjan abtritt, und zwar endgültig. Einer der Anführer der Proteste und der wenigen Oppositionspolitiker im Parlament ist Nikol Paschinian. Für ihn hat mit diesen Demonstrationen eine Kampagne totalen Ungehorsams begonnen, die fortgesetzt werden muss. Bislang gibt es mehrere Dutzend Verletzte und über 20 Festnahmen. Doch dabei dürfte es nicht bleiben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!