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Debatte Zukunft der ArbeitDas Hirn braucht Leerlauf

Kommentar von Susanne Messmer

Immer, wenn die Arbeit härter wird, fordern Menschen verstärkt das Recht auf Freizeit. Richtig so – denn die besten Ideen hat man beim Nichtstun.

Einfach mal abhängen: Das Gehirn braucht neben dem Schlaf auch andere Auszeiten Foto: ap

E s gilt, ein Problem zu lösen. Man buddelt sich rein, man grübelt. Aber je zielgerichteter man versucht zu denken, desto ausgelatschter scheinen die Pfade. Nichts als Ideen, die schon hundertmal formuliert wurden, den ganzen Vormittag lang. Schließlich Resignation: Ab aufs Sofa, in die Wanne, in den Park. An nichts Besonderes denken. Und plötzlich: Heureka! Ein unverhoffter Geistesblitz!

1998 erbrachte der amerikanische Hirnforscher Marcus Raichle bei Studien mit dem Kernspintomografen den wissenschaftlichen Nachweis einer Vermutung, die Dichter und Denker bereits seit Aristoteles formuliert haben. Immer, wenn eine seiner Versuchspersonen sich auf eine Aufgabe konzentrieren sollte, nahm die Aktivität in bestimmten Bereichen des Gehirns ab. Umgekehrt nahm sie zu, sobald die Tests beendet waren.

Raichle fand heraus, dass das Gehirn Leerlauf braucht, um sich mit sich selbst zu beschäftigen, sich zu sortieren, Gelerntes zu verarbeiten. Man darf dem Kopf nicht nur im Schlaf erlauben, immer mal wieder in sich selbst spazieren zu gehen.

Viele Menschen sind für ihren Broterwerb auf gute Ideen angewiesen. Es ist also kein Wunder, dass Autoren schon immer besonders in jenen Momenten auf ihr Recht auf den schönen Schlendrian pochten, wenn sie sich bedroht fühlten – weil sich gerade die Arbeitswelt radikal änderte. Einer der ersten Kritiker der Arbeit ist Karl Marx’ Schwiegersohn Paul Lafargue, der in seinem Buch „Das Recht der Faulheit“ nicht nur auf das Arbeitsethos seines Schwiegervaters reagierte, sondern auch auf die Rationalisierung der Arbeit während der industriellen Revolution.

Damals entstand erst unser moderner Arbeitsbegriff, die Idee des Jobs, von dem es sich zu erholen gilt. Der junge Friedrich Engels hat beobachtet, dass beispielsweise die Weber vor der industriellen Revolution meist nur so viel arbeiteten, wie sie mussten. Erst später wurden sie stärker eingebunden und mussten täglich zwölf Stunden in dunklen, überfüllten Hallen die immer gleichen Handgriffe tun. Klar, dass sich damals auch Menschen darum zu sorgen begannen, die selbst keine Fabrikarbeiter waren.

Neue Arbeitsmarktinstrumente entmündigen

In den letzten zwanzig Jahren gab es vor allem einen großen Umbruch in der Arbeitswelt, und auch dieser wurde von interessanten, arbeitskritischen Debatten begleitet. Zunächst schien es so, als ginge es bei der Einführung von Hartz IV 2002 vor allem darum, den Druck auf Arbeitslose zu erhöhen. Darauf reagierte das von Guillaume Paoli herausgegebene, viel beachtete Buch „Mehr Zuckerbrot, weniger Peitsche“. Paoli, geboren 1959 und aufgewachsen auf Korsika, hatte bereits 1996 in seinem „Manifest der Glücklichen Arbeitslosen“ „die Beendigung aller Kontrollmaßnahmen gegen Arbeitslose“ gefordert.

Vielen gängigen empirischen Untersuchungen über negative psychische Auswirkungen der Arbeitslosigkeit zum Trotz behauptete Paoli, es mangele den Arbeitslosen nicht an Arbeit, sondern an Geld und gesellschaftlicher Akzeptanz, um glücklich zu sein. Anstatt die Arbeitslosen also zu disziplinieren und in prekäre Jobs zu treiben, sollte man die Arbeit lieber umverteilen. So bliebe ganz nebenbei auch noch für jeden genug Zeit, sich zu entspannen, einfach mal nichts zu tun.

Ich möchte lieber nicht.

Romanfigur Bartleby

Während sich die Kritik Paolis eher in der Empörung über die entmündigende Wirkung der neuen Arbeitsmarktinstrumente erschöpfte, gewann im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends die Kritik an den Deregulierungsmaßnahmen der Hartz-IV-Reformen die Oberhand: an prekären Minijobs, an Abstiegsängsten und Stress, die viele Arbeitenden angesichts der zunehmenden Flexibilisierung thematisierten.

Den Kritikern reichte die polemische Kraft der Forderung nach mehr Müßiggang nicht mehr, sie forderten nun die totale Karriereverweigerung. Eine der interessantesten Initiativen in diesem Zusammenhang ist das Berliner Autorenkollektiv Haus ­Bartleby, benannt nach einer Romanfigur Herman Melvilles. Der Schreibgehilfe Bartleby kopiert in seinem lichtlosen Büro an der Wall Street unermüdlich Verträge, lehnt aber eines Tages zur Überraschung seines Arbeitgebers jede Tätigkeit mit den Worten ab: „Ich möchte lieber nicht“ („I would prefer not to“).

Der Mensch braucht Muße

Die Autoren vom Haus Bartleby, darunter die Journalisten Alix Faßmann und Anselm Lenz, richten sich in ihrer Kritik auch gegen Anforderungen, wie sie die globale Vernetzung via Internet, E-Mail, sozialen Netzwerken hervorgebracht hat. Es geht schlicht um die Forderung in vielen Berufsfeldern, allzeit bereit zu sein, beispielsweise in der Bahn nach Hause nicht einfach mal den Blick schweifen lassen zu dürfen, sondern die letzten Nachrichten zu checken.

Dieser Kritik wird oft entgegengehalten, dass die Klage über die Veränderungen unseres Denkens bei jeder neuen Kommunikationstechnik laut wurde. Schon Sokrates, der sein Denken gern im Dialog entwickelte, schimpfte im 5. Jahrhundert vor Christus gegen die damals neue Unsitte des Schreibens. Er fürchtete, die neue Technik zerstöre die Fähigkeit des „erinnernden Verstehens“.

Vergleichbar besorgt äußerten sich andere bei der Einführung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert. Man dachte, gedruckte Bücher würden die geistige Faulheit fördern und die Macht der ­Kirche schwächen. Aber ist es nicht tatsächlich so, wie Ulrich Schnabel in seinem schönen Buch „Muße“ aus dem Jahr 2004 einräumt? Dass die Fähigkeit, sich ans gesprochene Wort zu erinnern, mit dem Aufkommen der Schrift abnahm, und dass der Buchdruck zur Emanzipation der Bürger beitrug?

Die Warnungen von Kritikern wie Guillaume Paoli, Alix Faßmann und Anselm Lenz mögen manchmal zugespitzt sein, aber sie haben auch einen wahren Kern. Je eingespannter wir sind, desto weniger fällt uns ein. Kein neuer Gedanke ohne wenigstens ein bisschen Leerlauf im Kopf. Der Mensch braucht Muße, und es wird immer schwieriger, sie zu verteidigen.

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Redakteurin taz.Berlin
Jahrgang 1971, schrieb 1995 ihren ersten Kulturtext für die taz und arbeitet seit 2001 immer wieder als Redakteurin für die taz. Sie machte einen Dokumentarfilm („Beijing Bubbles“) und schrieb zwei Bücher über China („Peking" und "Chinageschichten“).
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3 Kommentare

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  • Ach ja, übrigens: Sokrates hat sicher recht gehabt. Erinnerndes Verstehen ist heute leider keine all zu verbreitete Kulturtechnik mehr. Dialoge sind so sehr aus der Mode gekommen, dass überhaupt nur noch Monologe respektiert werden. Das könnte durchaus eine negative Begleiterscheinung des Schreibens bzw. des Buchdrucks sein, hat aber leider negative Auswirkungen auf das menschliche Gehirn und seine Leistungsfähigkeit.

     

    Sehn' wir es doch mal so: Das Buch spricht nicht. Es lässt sich von eventuellen Unmuts- oder Begeisterungsäußerungen seiner Leser nicht beeindrucken. Es schweigt und lässt die "Kundschaft" mit der Frage allein, ob das Gelesene „richtig“ verstanden wurde. So etwas prägt vermutlich irgendwie. Die Leser, meine ich. Ob auch die Bücher, werden wir nie wissen.

     

    Wie dem auch sei. Zum Glück hatten ja auch diejenigen recht, die erwartet haben, gedruckte Bücher würden „die Macht der Kirche schwächen“. Offenbar lassen sich Menschen lieber von stummen Druckwerken belehren, als von einer Institution, die jeden eventuellen Widerspruch umgehend schmerzhaft bestraft. Den Kirchen, jedenfalls, laufen die Gläubigen weg. Das sei, heißt es, ganz schlecht für die Moral.

     

    Aber ist nicht grade die Emanzipation eine Voraussetzung für die von Glaubenslehrern häufig geforderte Friedfertigkeit? Doch, ist sie, denke ich. Wer nur noch Selbstverteidigung betreiben braucht, lässt sich nicht gut als Waffe einsetzen von anderen. Schon gar nicht gegen seine eigenen Interessen. Und ganz nebenbei hat er plötzlich ne Menge Zeit und Muße. Mit etwas Glück kommt ihm in dieser Situation der eine oder andere hilfreiche Gedanke, der ihm bei der Verteidigung just jener Muße hilft, die er den Autoritäten und der eigenen Angst gerade mühsam abgerungen hat.

     

    Wir sehen also einmal mehr: Jede Medaille hat (mindestens) zwei Seiten. Manchmal sogar zwei bedruckte.

  • Zitat: „Vielen gängigen empirischen Untersuchungen über negative psychische Auswirkungen der Arbeitslosigkeit zum Trotz behauptete Paoli, es mangele den Arbeitslosen nicht an Arbeit, sondern an Geld und gesellschaftlicher Akzeptanz, um glücklich zu sein.“

     

    Das kann ich mir nicht vorstellen! Paolis Überzeugung, den Arbeitslosen fehle es nicht an der Arbeit selbst, sondern nur an der damit verbundenen Anerkennung und an dem dafür gezahlten Geld, widerspricht vermutlich NICHT den „gängigen empirischen Untersuchungen“. Sie trotzt allenfalls der Ignoranz gewisser Verfasser, die Arbeit und ihre Begleiterscheinungen höchst unwissenschaftlich in eins setzen, um leichter damit umgehen zu können.

     

    Dass Geld und Arbeit oder Arbeit und Anerkennung nicht zwangsläufig zusammenhängen, weiß jeder, der schon mal das WG-Klo geputzt hat. Leute allerdings, die im Auftrag der Regierung die Folgen der Arbeitslosigkeit untersuchen, wissen es seltsamerweise offenbar nicht einmal dann, wenn sie früher WG-Bewohner waren. Vielleicht kommt das da her, dass sie sich selbst gut bezahlen und intensiv loben lassen wollen für ihre Arbeit. Vielleicht ahnen sie aber auch, wie nahe sie diesen Zielen kämen, würden sie ihren Auftraggebern eine (demokratisch legitimierte) Umverteilung der Arbeit empfehlen.

     

    Angesichts der Hartleibigkeit bestimmter Auftraggeber finde ich es im Übrigen nicht weiter erstaunlich, dass Kritiker der aktuellen Zustände mittlerweile dazu tendieren, die totale Karriereverweigerung zu fordern. Auf einen groben Klotz gehört nun mal ein grober Keil. Und wer nicht hören will, der muss halt einfach fühlen. Zum Beispiel, wie weit er mit seiner Sturheit kommt. Die in der eigenen Freizeit ausgebrüteten Ideen von Leuten umsetzen lassen zu wollen, die sie für Schnapsideen halten und ihnen trotzdem ihre gesamte Freizeit widmen sollen, war wohl noch nie eine besonders gute Idee. So etwas ging schon immer nur mit viel Gewalt oder Betrug.

  • „Anstatt die Arbeitslosen also zu disziplinieren und in prekäre Jobs zu treiben, sollte man die Arbeit lieber umverteilen. So bliebe ganz nebenbei auch noch für jeden genug Zeit, sich zu entspannen, einfach mal nichts zu tun.“

     

    Na super! Das funktioniert allerdings nur, wenn Herr A. und Frau B. nicht nur je 50% der Arbeit tun, sondern sich auch mit je 50% des Arbeitslohnes zufriedengeben!

     

    Daraufhin heben einige Schlaumeier den Zeigefinger und zeigen auf die „Superreichen“, deren Reichtum man dann ebenfalls umverteilen müsste: Genau dann hätten wir Sozialismus / Kommunismus erreicht!

     

    Aber was ist, wenn der Reichtum der Handvoll Superreichen auf die Millionen „Armen“ umverteilt und nichts mehr übrig ist? Das wäre dann das Scheitern des Sozialismus / Kommunismus, das wir ab 1989 weltweit erlebt haben. Auch die Neuauflage in Venezuela, die konsequent nur auf Umverteilung beruht, kommt nicht voran, weil Umverteilung eben keinen Reichtum SCHAFFT!