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Zwei Bücher zum NSU-ProzessDie Sache stinkt

Zwei Nebenklage-Anwälte ziehen eine vernichtende Bilanz: Die Aufklärung werde ausgebremst, der Staat wisse mehr, als er preisgebe.

Vor einem Jahr zog ein Demonstrationszug für die Opfer des NSU durch Kassel Foto: dpa

Es war im vergangenen November, als Gamze Kubaşık im Münchner Oberlandesgericht vor die Richter trat, und – nach 390 Verhandlungstagen – im NSU-Prozess ihre Schlussworte sprach. Elf Jahre zuvor war ihr Vater, Mehmet Kubaşık, in Dortmund von den Rechtsterroristen erschossen worden. Nun zog seine Tochter eine Bilanz, eine bittere. Sie habe so viel Hoffnung in den Prozess gesetzt, habe Gewissheit ersehnt. Ihre Fragen aber seien geblieben, konstatierte Gamze Kubaşık. Warum starb gerade ihr Vater? Wer half dabei? Warum wurden die Terroristen nicht gestoppt? „Wir werden wahrscheinlich nie zur Ruhe kommen.“

Es sind diese Schlussworte, die Herausgeberin Antonia von der Behrens ihrem Buch „Kein Schlusswort“ mit voranstellt. Die Berliner Anwältin vertritt im NSU-Prozess die Familie Kubaşık. Zusammen mit neun anderen Nebenklage-Anwälten hat sie nun ihr Plädoyer dokumentiert. Die Gruppe gehörte im Prozess zu den Engagiertesten, forderte mit etlichen Beweisanträgen immer wieder Aufklärung ein. Nun ziehen auch sie eine vernichtende Bilanz. Bis heute werde die Aufarbeitung der Mordserie vom Verfassungsschutz „systematisch hintertrieben und verunmöglicht“. Auch die Ankläger in München, die Bundesanwaltschaft, täten alles, um die staatliche Verantwortung an dem Terror zu „verleugnen“.

Seit fast fünf Jahren verhandelt der Prozess in München die zehn Morde, drei Anschläge und 15 Überfälle des „Nationalsozialistischen Untergrunds“. Das Urteil warten die Opferanwälte nun nicht ab. Zu groß ist ihre Sorge, dass mit dem Schuldspruch gegen Beate Zschäpe und die anderen vier Angeklagten auch ein Schlussstrich unter die Aufklärung gezogen wird – und sich das Narrativ der Ankläger festsetzt: das des NSU als abgeschottetes Terrortrio.

Von der Behrens und ihre Kollegen stellen dem eine „Gegenerzählung“ entgegen. In akribischer Fleißarbeit listen sie auf, welche Neonazis sich um die 1998 abgetauchten Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt jahrelang tummelten. Die Trio-These ist für die Anwälte damit nur Selbstschutz des Staats – um nicht das wahre Ausmaß des rechten Terrors preisgeben zu müssen. Sie sehen im NSU vielmehr ein weitverzweigtes Netzwerk – das wohl auch direkt an den Tatorten half.

Ein weit verzweigtes Netzwerk

Beispiel Dortmund, Fall Meh­met Kubaşık. Als 2006 der Mord geschah, war just in der Stadt eine „Combat 18“-Zelle aktiv, waffenvernarrte Neonazis, die sich dem führerlosen Widerstand verschrieben und Kontakte nach Thüringen hielten. Oder Siegfried „SS-Siggi“ Borchardt, eine Dortmunder Szenegröße, der genau an der Straße wohnte, in der der Mord geschah. Ermittler fanden später im letzten NSU-Unterschlupf eine Patronenpackung mit der Aufschrift: „Siggi“. Auch hielt Zschäpe noch in Haft mit einem Dortmunder Neonazi Briefkontakt. Wurden diese möglichen Helfer überprüft? Man wisse davon nichts, kritisieren die Anwälte.

Auch glauben sie nicht, dass der Staat tatsächlich so ahnungslos über das NSU-Treiben war. Mehr als 30 V-Leute benennen die Autoren, die der Verfassungsschutz um das Trio herum postiert hatte. Und sie liefern eine Chronologie, welche Neonazis Hinweise zu den Abgetauchten gaben, wann Observationen liefen, wie Zielfahnder ausgebremst wurden. Fazit: Die Behörden mussten gewusst haben, dass die Flüchtigen in Sachsen waren, dass sie dort regen Kontakt zur lokalen Szene unterhielten.

Dass die Sache stinkt, kann jeder riechen

Antonia von der Behrens, Autorin

Warum aber erfolgte keine Festnahme? Die Anwälte lassen dies offen, wollen nicht spekulieren. Sie erinnern aber an das Aktenschreddern des Verfassungsschutzes, an verdruckste V-Mann-Führer, an verheimlichte Dokumente. Dieses Muster spreche nicht für Fehler, sondern für „gezieltes Handeln“: Der Staat wisse mehr, als er bis heute preisgibt. „Dass die Sache stinkt, kann jeder riechen.“

Auch Mehmet Daimagüler spricht von Staatsversagen im Fall NSU, auch er rechnet hart mit dem Verfassungsschutz und der Bundesanwaltschaft ab. Daima­güler ist ebenfalls Nebenklageanwalt im NSU-Prozess, auch er veröffentlichte sein Plädoyer in Buchform: „Empörung reicht nicht!“. Ihn aber treibt vor allem ein weiterer „Angeklagter“ um, einer, der keinen Tag auf der Anklagebank saß: die Polizei. Nicht nur die Täter hätten rassistisch gehandelt, auch die Ermittler, so Daimagüler. Nur deshalb sei die Terrorserie jahrelang nicht gestoppt worden, bis zur Selbstaufdeckung.

Rassistische Polizeistrukturen

Die Rede von Pannen nennt der Anwalt „verlogen“. Es gehe um ein System. Daimagüler erinnert daran, wie die Polizei nach jedem Mord stets die Opfer und Familien verdächtigte, über Drogen oder die Mafia mutmaßte, Zeugenhinweise auf nordeuropäisch aussehende Täter indes ignorierte. Immer wieder, bundesweit. Wäre das bei „weißen“ deutschen Opfern auch so passiert? Daimagüler kennt die Antwort. „Wohl kaum. Und genau das ist das Problem.“

Den Vorwurf eines institu­tio­nellen Rassismus teilen auch die Anwälte um Antonia von der Behrens. Beide Bücher legen damit eine überaus kritische Bilanz der NSU-Aufklärung vor – und eine denkbar schwergewichtige. Denn kaum jemand kennt die Aktenlage zu der Terrorserie so genau wie die Autoren. Ihre Plädoyers sind deshalb auch ein dringlicher Appell: Die Aufarbeitung des NSU-Terrors dürfe mit Ende des Prozesses in München nicht vorbei sein. Im Grunde stecke sie bei all den offenen Fragen immer noch am Anfang fest. Es ist auch Gamze Kubaşıks Appell. Im Prozess richtete sie diesen auch an Bea­te Zschäpe: Sie werde sich persönlich für eine Haftverkürzung einsetzen – wenn die Angeklagte doch noch Helfer offenlege.

Die Bücher

Antonia von der Behrens (Hrsg): „Kein Schlusswort. Plädoyers im NSU-Prozess“. VSA, Hamburg 2018, 328 Seiten, 19,80 Euro

Mehmet Daima­güler: „Empörung reicht nicht.“ Lübbe, München 2017, 349 Seiten, 18 Euro

Letzte Hoffnung Zschäpe? Von der Behrens setzt auch auf die noch laufenden Untersuchungsausschüsse, auf Whistle­blower „mit Gewissen“ in den Behörden. Beim rechts­terroris­tischen Oktoberfestattentat von 1980 dauere die Aufklärung bis heute an, erinnert sie. Auch beim NSU-Komplex werde man auf Ausdauer setzen müssen, auf nicht nachlassenden öffentlichen Druck.

Mehmet Daimagüler formuliert noch einen anderen Appell. Er fordert eine gesellschaftliche Debatte über Rassismus, eine „schonungslose“. Das Phänomen sei allgegenwärtig, das Reden darüber aber bis heute ein Tabu in diesem Land. Soll es jedoch keinen zweiten NSU geben, müsse man an die gesellschaftliche Wurzel, dann müsse jeder widersprechen, wenn rassistische Vorurteile aufbrechen. Dann eben heiße es: „Empörung reicht nicht!“

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2 Kommentare

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  • Die Frage ist doch eher, hätte die Polizei anders handeln können, oder gab es Order vom Verfassungsschutz und die Polizei musste den wahren Grund ihres Handelns verschleiern?

  • Dran bleiben und Nazi-Strukturen zerschlagen!

    Siehe Thomas Kubans Buch: "Blut wird fließen" über Rechtsrockkonzerte, bei denen zwei Zivibullen teilnehmen ohne zu reagieren.