: Der nationalistische Artikel 7
Ein neues Bildungsgesetz soll ukrainische Schulen vor russischem Einfluss schützen, indem es als Unterrichtssprache Ukrainisch vorschreibt. Doch es trifft vor allem auch die ungarische Minderheit, die sowieso schon unter wachsendem Nationalismus leidet
Aus Uschgorod Bernhard Clasen
Camilla Mileant rutscht aufgeregt auf ihrem Stuhl hin und her. Die 16-jährige Schülerin ist dabei, ihr erstes Interview zu geben. Sie geht in die elfte Klasse des ungarischen Gymnasiums im westukrainischen Uschgorod – dort könnte ein neues Gesetz den Unterricht bald massiv verändern.
Ungeduldig sieht Camilla Mileant ihren Klassenkameraden hinterher, die lärmend zum Pausenhof rennen. Als es ruhig ist, spricht sie davon, wie ihr Leben nach der Schule weitergehen soll. Nach ihrem Abitur will sie Uschgorod und damit die Provinz Transkarpatien im Dreiländereck Ukraine-Ungarn-Slowakei verlassen, um Biochemie oder Ernährungswirtschaft in Budapest zu studieren. Dass sie auf eine ungarische Schule geht, bringt sie ihrem Ziel einen großen Schritt näher. Ungarisch ist hier neben Ukrainisch Unterrichtssprache. Camilla beherrscht vier Sprachen: Zu Hause und in der Schule spricht sie Ungarisch und Ukrainisch, mit ihren Freundinnen mitunter Russisch. Und in Englisch ist sie Klassenbeste. Ein gutes Jobprofil, sagt sie selbst.
Doch möglicherweise ist Camilla Mileant eine der letzten Schülerinnen und Schüler in der Ukraine, die in den Genuss eines fremdsprachigen Unterrichts kommen. Und das liegt an dem neuen Bildungsgesetz, das die ukrainische Regierung vergangenen September beschlossen hat und 2020 komplett umsetzen will. Der entscheidende Artikel 7 schreibt vor, dass ab der fünften Klasse nur noch in der Staatssprache Ukrainisch gelehrt werden darf.
Zwar soll es Ausnahmen geben, aber an der ungarischen Schule glaubt niemand daran, dass der Unterricht wie bisher weitergeht. „Man wird uns zwei, drei oder auch vier Fächer weiter auf Ungarisch unterrichten lassen“, sagt Schuldirektor Pejter Kowatsch. „Mehr nicht.“
Auch bei den Eltern stößt Artikel 7 auf Unverständnis: Nicht einmal in der Sowjetunion seien die Rechte der Ungarn in der Ukraine so eingeschränkt worden, schimpft die Mutter einer Fünftklässlerin. Sie hält wenig davon, dass man nach den ersten vier Jahren ab der fünften Klasse plötzlich in einer anderen Sprache unterrichten werden soll: Das fördere doch nur eine zweifache Halbsprachigkeit. Wer erst in der fünften Klasse mit Ukrainisch anfange, habe mehr Schwierigkeiten mit der Sprache als die, die sich bereits in der ersten Klasse intensiv mit Ukrainisch befassen. Gerade Ungarn fiele Ukrainisch wesentlich schwerer als Trägern einer slawischen Sprache.
Das neue Bildungsgesetz trifft viele ungarische Schulen. Allein in der Provinz Transkarpatien sind es 99 – jede sechste Schule. Dabei verfolgt die Aufwertung der ukrainischen Sprache zur alleinigen Staatssprache ein ganz anderes Ziel: Nicht die ungarische Sprache soll geschwächt werden – sondern die russische.
Im Osten der Ukraine und in der Region Odessa spricht die Mehrheit der Bevölkerung Russisch. Doch seit der Annexion der Krim durch Russland und Putins Unterstützung der Separatisten im Osten der Ukraine hört man die russische Sprache nicht mehr überall im Lande gerne. Noch vor wenigen Jahren waren zahlreiche staatliche Dokumente in der Ukraine in russischer Sprache verfasst. Doch mit dem Sieg der proeuropäischen Maidan-Revolte Anfang 2014 wurden Minderheitensprachen, in erster Linie Russisch, Schritt für Schritt zurückgedrängt. Das Bildungsgesetz ist nur eine von zahlreichen Maßnahmen der Regierung in Kiew.
So ist es seit Januar 2017 verboten, eine größere Anzahl von Büchern aus Russland im Gepäck mitzuführen. Ausnahmen müssen vom Staatlichen Fernseh- und Rundfunkamt genehmigt werden. Radiosender müssen per Gesetz mindestens 50 Prozent ihrer Inhalte – und 30 Prozent der Lieder – auf Ukrainisch senden. Vergangenes Jahr mussten mehrere Radiosender deshalb Strafgelder zahlen oder haben gar die Lizenz verloren.
Und damit nicht genug: Derzeit liegt dem ukrainischen Parlament ein Gesetzentwurf zur Staatssprache vor. Dieser sieht vor, dass alle Kulturveranstaltungen in ukrainischer Sprache stattfinden und alle Medien und Filme ukrainischsprachig sein müssen. Sollte dieser Gesetzentwurf eine Mehrheit finden, kann die Verunglimpfung der ukrainischen Sprache mit bis zu drei Jahren Haft geahndet werden. Außerdem sieht der Gesetzentwurf die Einführung von „Sprachinspektoren“ vor, die die Umsetzung des Gesetzes in Geschäften, im kulturellen und öffentlichen Leben kontrollieren sollen.
Im „ungarischen“ Städtchen Uschgorod sieht man die nationalistische Entwicklung im Land mit Sorge. Rund 7.000 Ukrainer mit ungarischer Nationalität wohnen hier. Sie berichten von vermehrten Anschlägen gegen ihre Community. Die Büroräume der „Gesellschaft für ungarische Kultur“ brannten Anfang des Jahres völlig aus. Mitte März wurden die Fensterscheiben von neun Autos im nahen, vorwiegend von Ungarn besiedelten Berehowe, zerschlagen. Die Wagen hatten ungarische Nummernschilder.
Josip Borto, stellvertretender Vorsitzender des Bezirksrates, berichtet gegenüber der taz von Nationalisten, die vermummt mit dem Ruf „Ungarn ans Messer“ durch Uschgorod gezogen seien. Zudem würden zentrale ukrainische Fernsehsender in einer Propagandakampagne die in der Ukraine lebenden Ungarn als „Separatisten“ diffamieren. „Doch wir wollen uns in die ukrainische Gesellschaft integrieren. Nur assimilieren wollen wir uns nicht.“
So ähnlich sieht man es auch an dem ungarischen Gymnasium. „An unserer Schule existieren mehrere Sprachen nebeneinander“, erklärt die stellvertretende Direktorin Eva Borisowa. Und das sei ein gutes Fundament für die Zukunft. Auch viele Eltern sehen in der Vielsprachigkeit keine Gefahr, sondern eine Chance.
Das sieht man der Schule an. Im Haupteingang hängen eine ungarische und eine ukrainische Fahne. Im Foyer sind die Texte der ungarischen und ukrainischen Nationalhymne aufgehängt. Man bemüht sich, ungarische und ukrainische Traditionen zu leben. So erhalten die Schüler bei ihrem Schulabschluss gemäß ungarischer Tradition ein kleines „Täschchen für den Lebensweg“. In diesem findet sich gesalzener Teig, etwas Kleingeld und ein guter Ratschlag. Außerdem müssen die Abschlussschüler an einem poetischen Schreibwettbewerb zu Ehren des ukrainischen Nationaldichters Schewtschenko teilnehmen.
An der Schule ist alles zweisprachig, ukrainisch und ungarisch: von den Lehrplänen bis zu den Brandschutzbestimmungen. Von den ukrainischen Bildungsbehörden fühle sich das Gymnasium indes vernachlässigt, sagt Rektor Kowatsch. Der ukrainische Staat würde nur für die Grundbedürfnisse aufkommen, also die Kosten für das Gebäude, Strom, Wasser und die Gehälter bezahlen. Ohne großzügige Spenden aus Ungarn und der ungarischen Community in den USA könnte sich die Schule keine Beamer, Computer, Theaterausrüstung und Renovierungsarbeiten leisten.
Die Schule dankt es mit Erfolg: 90 Prozent aller Absolventen des Gymnasiums erhalten nach Angaben des Schulleiters an einer Universität in der Ukraine oder Ungarn einen Studienplatz. Doch wie lange werden ungarische Unis noch Abiturienten aufnehmen, die ihre Muttersprache nur mehr zu Hause gelernt haben, nicht aber in der Schule?
Bezirksratsvorsitzender Iosip Borto, der selbst mehrere Jahre Schuldirektor war, ärgert sich über die ukrainischen Politiker in Kiew. Vor Verabschiedung des Bildungsgesetzes hätten sie niemanden vor Ort zu Rat gezogen. Zumal verletze es die ukrainische Verfassung. Die schreibe vor, dass neue Gesetze nicht Rechte von Minderheiten einschränken dürfen. Die im Gesetz festgeschriebene Ausnahmeregelung, der zufolge mehrere Fächer in einer Sprache der EU unterrichtet werden können, will er nicht gelten lassen. Wie das angewendet würde, wäre doch nur beliebig.
Mit ihrer Kritik steht die ungarische Community nicht allein da. Vertreter anderer Minderheitengruppen, etwa der Bulgaren und der Rumänen, haben sich im Parlament gegen das Bildungsgesetz ausgesprochen. Und auch die „Venedig-Kommission“, eine Einrichtung des Europarates, die dessen Staaten verfassungsrechtlich berät, stört sich daran. Sie weist in einem Gutachten darauf hin, dass eine ungleiche Behandlung von Nicht-EU-Sprachen problematisch sei. Das Urteil der Kommission: Die scharfe innerstaatliche und internationale Kritik an der Einschränkung der Minderheitensprachen in der Ukraine ist gerechtfertigt.
Noch hoffen viele Uschgoroder, dass das Bildungsgesetz am Ende nicht so streng umgesetzt wird wie befürchtet. Der Politologe Dmytro Tuzhanskyi weist auf eine Ausnahmeregelung des Gesetzes hin, die Unterricht in mehreren Fächern in Sprachen der EU möglich mache. Und vielleicht kommt das Gesetz auch einfach später. Derzeit liegt dem Parlament in Kiew ein Gesetzentwurf vor, der eine Umsetzung des Gesetzes von 2020 auf 2023 verschiebt.
Dann würden nach Camilla Mileant noch ein paar Klassen mehr bis zum Abitur in zwei Sprachen unterrichtet.
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