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Bücher statt Kugeln

Mehr als eine Million Menschen demonstrieren in den USA gegen das laxe Waffenrecht. Es ist eine neue Bewegung, die da innerhalb weniger Wochen entstanden ist. Sie ist jung und stark. Und ihre Protagonisten rühren zu Tränen

Emma González, die das Massaker von Parkland überlebt hat, zählt in Washington die Namen ihrer erschossenen Schulkameraden auf Foto: Andrew Harnik/ap

Von Dorothea Hahn

Es ist ein Freudenfest. Groß, fantasievoll, emotional und getragen von der Jugend. Knapp sechs Wochen sind seit dem Massaker an der Marjory-Stoneman-Douglas-Schule in Parkland, Florida vergangen. 17 Menschen starben dort durch die Schüsse eines 19-Jährigen Amokläufers. An diesem Samstag folgen in den ganzen USA weit über eine Million Menschen dem Aufruf einer Gruppe von Überlebenden zum Protest gegen Waffengewalt. RednerInnen, von denen die jüngste 9, die meisten zwischen 16 und 18 und kaum einer über 20 Jahre alt sind, verlangen endlich Reformen, die von einem Verbot halbautomatischer Waffen bis zur Forderung reichen, dass Politiker Geldzuwendungen von der Waffenlobby-Vereinigung NRA verweigern müssten.

Falls das nicht passiere, so lautet die von Anchorage in Alaska über Milwaukee im Bundesstaat Wisconsin bis nach Phoenix, Arizona vielfach wiederholte Drohung, „werden wir uns im November erinnern“. Dann stehen Kongresswahlen an, bei denen viele AkteurInnen der neuen Bewegung zum ersten Mal abstimmen dürfen.

Trumps Trippelschrittchen

Das Gesetz: Einen Tag vor einer Großdemonstration für ein strengeres Waffenrecht hat die US-Regierung ein Gesetz zum Verbot sogenannter Bump Stocks vorgelegt. „Wir werden Vorrichtungen verbieten, die legale Waffen in illegale Maschinengewehre umwandeln“, schrieb US-Präsident Donald Trump am Freitag auf Twitter. Justizminister Jeff Sessions sagte, die neue Regelung stufe Bump Stocks als Maschinengewehre ein, die dem nationalen Verbot unterliegen.

Der Hintergrund: Mithilfe dieser Vorrichtung kann eine halbautomatische Waffe zu einer vollautomatischen Waffen aufgerüstet werden, mit der man in kurzer Zeit viel mehr Schüsse abgeben kann. Der Attentäter, der am 1. Oktober in Las Vegas 58 Menschen tötete und 850 weitere verletzte, hatte diese Technik verwendet. Sie zielt darauf ab, binnen kürzester Zeit möglichst viele Menschen zu treffen.

Das Prozedere: Die nun vorgelegte Regelung sieht vor, dass Waffenbesitzer ihre mit Bump Stocks hochgerüsteten Schusswaffen vernichten oder abgeben müssen. Binnen einer Frist von 90 Tagen dürfen Einwände gegen das Gesetz vorgebracht werden, was noch zu Änderungen führen könnte. Nach Ablauf dieser Frist tritt das Gesetz in Kraft. (afp, taz)

„Wir lassen uns nicht mit Brosamen abspeisen“, ruft Delaney Tarr, eine Überlebende von der Schule von Parkland in Washington ins Mi­kro­fon. „Wir haben entschieden, dass wir etwas tun, weil die Erwachsenen es nicht tun“, sagt Alex Wind, ein anderer Schüler aus Parkland. Zu der Vorstellung der NRA, möglichst viele Menschen in den USA zu bewaffnen, sagt Wind: „Das werden wir verhindern.“

In Washington bewegen sich etwa 800.000 Menschen bei der zentralen Demonstration ab Mittag über die Pennsylvania Avenue in Richtung US-Kongress. Auf ihren Transparenten ist zu lesen: „Books not Bullets“ (Bücher statt Kugeln), „Nur Republikaner sind einfacher zu kaufen als Schusswaffen“, „Wir brauchen keine Gedanken und Gebete, sondern Taten“ und „Ich bin ein Lehrer und kein Scharfschütze.“ Immer wieder danken ältere Demonstrationsteilnehmer den jungen Leuten: „Zum Glück haben wir unsere Kinder“, heißt es.

Von ihrer Bühne aus, die von der Kuppel des Kongresses überragt wird, machen die RednerInnen klar, dass sie nicht weichen werden. In den sechs Wochen seit dem Massaker waren sie ununterbrochen unterwegs, haben an ihren Forderungen gefeilt, Manifeste geschrieben, das Land bereist, Interviews gegeben, PR-Beratung und hohe Geldspenden bekommen und dabei ein Profil gewonnen, wie es vor ihnen keine Gruppe von Überlebenden von Massakern jemals hatte. Statt der üblichen Betroffenheitsrituale ist eine politische Diskussion entstanden. Überlebende benennen die politisch Verantwortlichen und verlangen Konsequenzen.

„Wir haben entschieden, dass wir etwas tun, weil die Erwachsenen es nicht tun“

Alex Wind, Schüler von Parkland

In ihren ersten Auftritten nach dem Massaker von Parkland hatten Jugendliche aus der Schule noch erklärt, dass dies das letzte Schulmassaker gewesen sein werde. Das ist nicht wahr geworden: Seit dem 14. Februar sind mehr als 70 Teenager in den USA erschossen worden, darunter auch einige in Schulen. Aber nun erscheinen Reformen tatsächlich möglich. Selbst das waffenfreundliche Florida hat sich unter dem Druck der neuen Bewegung dazu gezwungen gesehen, eine Reform zu verabschieden, die das Zugangsalter zu halbautomatischen Waffen auf 21 Jahre heraufsetzt, dabei allerdings zugleich die Bewaffnung von LehrerInnen zulässt. Die Überlebenden reagieren darauf so: „Wir brauchen mehr und werden es durchsetzen.“

In den zurückliegenden Wochen haben sie sich mit anderen Opfern vernetzt: mit den Überlebenden anderer Schießereien an Schulen, mit Opfern von Bandenkriminalität wie auf der Southside von Chicago und mit Angehörigen der Opfer von Polizeigewalt, die sich gegen AfroamerikanerInnen und Latinos richtet. Am Samstag sprechen mehrere Vertreter dieser Gruppen in Washington. Edna Chavez aus Los Angeles sagt: „Ich habe viele meiner Lieben durch Waffengewalt verloren. Noch bevor ich lesen konnte, habe ich gelernt, mich unter Kugeln wegzuducken“. Auch ihr Bruder Ricardo wurde ein Opfer der Waffengewalt.

„Wer keine Waffenkontrollen einführt, wird abgewählt“, ruft David Hogg, ein Überlebender aus Parkland. Er wiederholt, was auch andere Redner betonen: dass sie die PolitikerInnen feuern werden, die Geld von der Waffenlobby NRA annehmen. Das allerdings trifft auf fast alle RepublikanerInnen sowie eine Handvoll DemokratInnen im Kongress zu. Am Rand der Demonstra­tionsrouten bemühen sich AktivistInnen darum, dass dies keine leere Drohung bleibt: Sie verteilen Material, um ErstwählerInnen zu registrieren. Sie haben sich vorgenommen, die extrem niedrige Wahlbeteiligung unter den jungen Leuten zu erhöhen.

Samantha Fuentes singt „Happy Birthday“ für einen erschossenen Freund, der an diesem Samstag 18 Jahre alt geworden wäre Foto: Chip Somodevilla/getty images/afp

Donald Trump hat vor einigen Wochen damit geprahlt, er wäre in die Marjory-Stoneman-Douglas-Schule hineingestürmt, wäre er Zeuge des Massakers gewesen. Am Samstag, als die SchülerInnen durch Washington laufen, zieht es der US-Präsident vor, die Stadt zu verlassen. Während die jungen Leute demonstrieren, spielt der 71-Jährige Golf in Florida. Auf dem Weg zu seinem Landsitz Mar-a-Lago fährt seine Kolonne einen Umweg und weicht damit einer örtlichen Demonstration aus.

Die ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton und Barack Obama danken den jungen Demons­trantInnen. Auch zahlreiche Prominente loben sie dafür, dass sie sich mit den Fehlern der Erwachsenen beschäftigen. George Clooney und seine Frau, die Menschenrechtsanwältin Amal Clooney, spenden 500.000 Dollar. Aber Trump würdigt die Proteste mit keinem einzigen Tweet.

„Noch bevor ich lesen konnte, habe ich gelernt, mich unter Kugeln wegzuducken“

Edna Chavez aus Los Angeles

Zu den stärksten Momenten am Samstag gehört der Auftritt von Emma González. Im Februar, kurz nach dem Massaker von Parkland, hatte die junge Frau mit einer leidenschaftlichen Rede für weltweite Aufmerksamkeit gesorgt. In Washington bewegt sie die Menge durch ihr Schweigen. Zunächst zählt sie die Namen ihrer erschossenen SchulkameradInnen auf und berichtet von den Dingen, die sie nun nicht mehr mit ihnen zusammen unternehmen könne. Dann schweigt sie, während ihr Tränen über das Gesicht laufen, fast unerträgliche sechs Minuten und zwanzig Sekunden lang, ähnlich lange, wie das Massaker am Valentinstag gedauert hat.

Eine andere junge Überlebende, die bei dem Massaker Schussverletzungen im Gesicht erlitten hat, muss sich während ihrer Rede übergeben. Doch Samantha Fuentes taucht schon wenige Sekunden später wieder hinter ihrem Pult auf und setzt ihren Auftritt mit der Bemerkung fort: „Ich habe gerade vor den internationalen Fernsehkameras gekotzt.“ Zum Abschluss singt sie ein bewegendes „Happy Birthday“ für einen Freund, den am 14. Februar erschossenen Nick Dworet, der an diesem Samstag 18 Jahre alt geworden wäre. Die Menge singt das Geburtstagslied für den Toten mit.

800.000 Menschen sind allein in Washington zum Protest gegen die Waffenlobby zusammen­gekommen Foto: getty images/afp

In New York, wo rund 150.000 Menschen zusammengekommen sind, ist die Upper West Side voll von DemonstrantInnen. Mit von der Partie ist auch Ex-Beatle Paul McCartney, der ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift „Wir können die Waffengewalt beenden“ trägt. Einem Reporter sagte McCartney, dass er an dieser Stelle einen seiner besten Freunde durch Schusswaffengewalt verloren habe. Sein Bandkollege John Lennon war 1980 am Eingang des Dakota-Gebäudes am New Yorker Central Park erschossen worden.

In Washington hat Bürgermeisterin Muriel Bowser das Tragen von Schusswaffen in der Umgebung der Demonstrationsroute am Samstag verboten. In New York sind Waffen auf der Straße ohnehin nicht zugelassen. Doch an anderen Orten kommen Bewaffnete ganz nahe an die DemonstrantInnen heran. Sie wollen den zweiten Verfassungszusatz aus dem Jahr 1791 verteidigen, der zur Begründung des laxen Waffenrechts herangezogen wird. Ohne ihre Waffen, so lautet eines ihrer Argumente, könnten sie sich nicht gegen Tyrannen verteidigen. In Boston und Salt Lake City sind einige Waffenfreunde mit einem Gewehr auf der einen Schulter und einem Transparent in der anderen Hand zu sehen. Auf einem heißt es lakonisch: „Komm doch und nimm es mir weg“.

Yolanda Renee King, Enkelin von Martin Luther King, ruft: „Wir werden eine großartige Generation sein!“ Foto: Andrew Harnik/ap

Doch das sind am diesem Samstag Randerscheinungen. Bei der zentralen Demonstration in Washington sorgt die Schülerin Jaclyn Coryn, eine Überlebende aus Parkland, für einen Höhepunkt, als sie nach ihrer Rede hinter die Bühne geht, um, wie sie es ankündigt, eine „Überraschung“ zu holen. Sie kommt mit Yolanda Renee King an der Hand zurück. Die Neunjährige hat ihren vor einem halben Jahrhundert ermordeten Großvater Martin Luther King nicht persönlich kennenlernen dürfen. Aber mit ihr kommt eine Verbindung zu einem anderen historischen Moment in der US-Geschichte auf die Bühne. Auch in der schwarzen Bürgerbewegung spielten Teenager eine zentrale Rolle – bei den Busboykotten, bei den Besuchen in „verbotenen“ Restaurants und den Demonstrationen.

Die King-Enkelin nimmt das Mikrofon in die Hand, strahlt in die Menge der 800.000 und spricht über ihren Traum von einer waffenfreien Welt. Dann lässt sie die DemonstrantInnen gemeinsam dreimal ihre Botschaft rufen. Sie lautet: „Wir werden eine großartige Generation sein!“

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