piwik no script img

Wagenplätze in LeipzigEinheizen für die Unabhängigkeit

Im Winter bestimmt der Ofen den Rhythmus in der Wagenburg. Sehnsucht nach einer Wohnung kommt dennoch nicht auf. Ein Besuch.

Winter auf dem Wagenplatz: Unabhängigkeit auf begrenztem Raum Foto: Flickr Montecruz Foto

LEIPZIG taz | An einem Tag, an dem die Minusgrade in Leipzig zweistellig sind, trägt Siegrun in ihrem umgebauten Lkw-Anhänger nur ein Spaghettiträgerhemd. Ihr Freund Samdi hat den Ofen zum Bollern gebracht und so ist es eher zu warm als zu kalt. Der Ofen ist eine Spur zu potent für das bisschen Wohnraum – das zur Frage, ob man sich denn nicht den Arsch abfriert zur Eisblumenzeit auf dem Wagenplatz.

Um welchen der knapp 20 Wagenplätze in Leipzig es sich handelt, soll nicht genannt werden. „Das müsste erst im Plenum besprochen werden“, sagt ein Bewohner. Private Geschichten seien aber okay. Siegrun und Samdi gewähren gerne Eintritt in ihr kompaktes Reich, das sich durch Treppe, Wand und Vorhang in Küche, Wohnstube und Schlafzimmer gliedert.

An diesem kalten Februartag liegt Siegrun, 41 Jahre alt, krank im Hochbett, trinkt Ingwertee mit Zitrone und Honig und beobachtet durch das aus Fenstern bestehende Dach wie Birkenzweige im Wind schwingen. Es ist ihr erster Winter ohne feste Wohnung. Vor einem Dreivierteljahr ist sie zu Samdi auf den Wagenplatz gezogen, der seit neun Jahren dort lebt und neun Jahre älter ist als sie. Ihre Kinder, zehn und zwölf Jahre alt, wohnen eine Woche bei ihr, eine Woche beim Vater.

Zuvor hatte Siegrun mit dem Gedanken gespielt aufs Land zu ziehen, um näher an der Natur zu sein. Aber dann hätte ihr die Stadt gefehlt, mit allem, was sie zu bieten hat. „Hier habe ich beides und das zu einem Bruchteil meiner früheren Miete“, sagt sie. Nach der Trennung vom Vater ihrer Kinder hat Siegrun in einer Zweizimmerwohnung gelebt, Sohn und Tochter haben sich ein Zimmer geteilt. „Eine größere Wohnung hätte ich mir nicht leisten können.“

Die taz im Neuland

Im Rahmen der „Zukunftswerkstatt“ der taz erscheint jeden Freitag statt der Neuland-Seite eine eigene Seite für Leipzig, die taz.leipzig: geplant, produziert und geschrieben von jungen Journalist*innen vor Ort.

Sie haben Anregungen, Kritik oder Wünsche an die Zukunftswerkstatt der taz? Schreiben Sie an: neuland@taz.de. Das Team der taz.leipzig erreichen sie unter leipzig@taz.de

Eine Kindheit auf dem Wagenplatz

Siegrun ist selbstständig und unterstützt psychisch kranke Menschen im Alltag, allerdings nicht in Vollzeit. „Lebensqualität hat nix mit Geld zu tun“, sagt sie. Zeit haben ist ihr viel wichtiger – Zeit für ihre Kinder, Zeit für ihren Freund, Zeit, um Geige zu üben.

Auf dem Wagenplatz hat jedes Kind nun einen eigenen Wagen. Das war Siegruns Bedingung und die Kinder finden das toll. Und dass sie jederzeit auf dem Platz herumstromern können, Hütten bauen, mit den Hunden spielen. Eine Kindheit wie in den Achtzigern. Schade nur, finden sie, dass es kaum Kinder im selben Alter gibt – die einen sind viel jünger, die anderen viel älter. Also bringen sie ihre Klassenkameraden mit, die sich auch eher für kleine Abenteuer als für Computerspiele interessieren.

Seit ich hier wohne, ist eine Sehnsucht in mir still geworden

Wagenplatzbewohnerin Siegrun

Auf den Wagenplatz zu ziehen sei eine gute Entscheidung gewesen, sagt Siegrun. „Seit ich hier wohne, ist eine Sehnsucht in mir still geworden.“ Hier sei man unmittelbar an den Dingen dran: Man muss etwas dafür tun, damit es warm wird oder dass es Wasser gibt.

Das meiste Holz für diesen Winter haben sie von einem Handwerker geliefert bekommen, den Siegrun auf einer Baustelle angesprochen hat. „Der hätte sonst 40 Euro pro Container für die Entsorgung zahlen müssen.“ So hatten beide etwas davon. Damit der Ofen nachts nicht ausgeht, muss alle paar Stunden Holz nachgelegt werden. „Man muss öfter mal raus, weil man nicht alles im Wagen lagern kann, das ist im Winter wie eine kalte Dusche, aber da helfen Poncho und Croqs“.

Gemeinschaftstrockenklo für die Unkompliziertheit

Das Wasser müssen Siegrun und Samdi kanisterweise holen, und wer das muss, reduziert sich automatisch. Das Geschirr spült Siegrun einmal in der Woche, gebadet wird einmal in der Woche in einem Gemeinschaftshaus mit Wanne und Badeofen, für Katzenwäsche steht im Wagen eine Emailleschüssel bereit.

In eine ordinäre Wohnung mit Wasserspülung statt Gemeinschaftstrockenklo wünscht Siegrun sich nicht zurück. „Vieles funktioniert hier unheimlich gut“, sagt sie. Sie genießt die Unkompliziertheit, den spontanen Austausch bei Kaffee, Mittagessen oder Bier, die vielen kleinen Begegnungen auf dem Platz. „Das Einzige, was ich schade finde, ist, dass ich mein Klavier nicht mitnehmen konnte. Das hätte sich wegen der starken Temperaturunterschiede schnell verstimmt.“

Wenn es wärmer wird, möchte Siegrun sich einen eigenen Wagen ausbauen. Auf Dauer ist es zu zweit in einem Wagen schon sehr eng. „Bei Konflikten kann man sich kaum aus dem Weg gehen.“ Im Winter noch weniger als im Sommer.

Fünf Jahre Wagen statt Wohnung

Ein paar Wagenplatzwinter mehr in den Knochen hat der 28 Jahre alte Nele. Er ist vor fünf Jahren hergezogen, um seine Wohnung gegen einen Wagen einzutauschen. Seit drei Jahren arbeitet er freiberuflich als Zirkuspädagoge. Am Leben auf dem Wagenplatz reizt ihn die Unabhängigkeit. „Dass ich einen eigenen Raum habe, den ich selbstbestimmt gestalten kann, aber auch die Gemeinschaft habe.“ Vor einiger Zeit ist auch seine Freundin auf den Platz gezogen. „Wie doll man sich einbringt, liegt an jedem selbst.“ Man könne auch viel Zeit alleine verbringen, wenn man das will.

Der erste Schritt in diese Unabhängigkeit war ein Praktikum bei jemandem, der Wagen ausbaut. Den Wagen, in dem Nele lebt, hat er sich bis auf das Fahrgestell selbst gezimmert. Reine Arbeitszeit: etwa vier Monate.

Was die Aufteilung angeht, könnten sich Mikroapartment-Ausstatter etwas abschauen. Ohne dass es vollgestellt wirkt, finden im rechten Teil eine Schrankwand, Bett, Computertisch und ein Hängesessel Platz, im linken Teil Esstisch, Ofen und die Küchenzeile mit Herd, Kühlschrank und fließendem Wasser, das man per Pedal aus einem Kanister in die Spüle pumpt. Zwei 25-Liter-Kanister reichen Nele etwa anderthalb Wochen.

Den Ofen befeuert er seit etwa zwei Monaten durchgängig. Gegen 23 Uhr legt er das letzte Mal Holz oder Holzbriketts nach. Nach etwa vier Stunden geht der Ofen dann aus. „Morgens habe ich noch zehn Grad im Wagen.“ Mit Kohlebriketts würde der Ofen die Nacht über durchhalten. „Aber im Plenum haben wir beschlossen: Keine Kohle wegen der Luft.“ Das tägliche Anheizen mache ihm nichts aus. „Nur wenn man krank ist, ist es etwas hart.“ Das Einzige, was Nele manchmal abgeht, ist ein größerer Raum zum Jonglieren. „Ansonsten vermisse ich nichts.“

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

5 Kommentare

 / 
  • 8G
    80576 (Profil gelöscht)

    Wer's mittelalterlich mag...

  • Da fehlt noch ein bißchen Lagerfeuerromantik...

  • Hat der Ofen denn eine Feinstaubplakette?

  • 9G
    98589 (Profil gelöscht)

    Schön! Viel Glück für alle in der Wagenburg!

  • Hoffentlich entspricht der Ofen auch den Anforderungen des Bundesimmissionsschutzgesetzes. So ein "Bollerofen" darf ohne Filter nur betrieben werden, wenn er schon sehr lange an Ort und Stelle steht und deshalb Bestandsschutz genießt (vor ca. 1950). Ansonsten handelt es sich um eine CO2- und Feinstaubdreckschleuder.