Die Wahrheit: Ich als fotografierende Geschwister
Generation Prä-Selfie: Schizophrenes Aufwachsen mit alten Geräten.
I n einem anderen Leben war ich ein minderjähriges Geschwisterpaar, bestehend aus Bruder und jüngerer Schwester (Namen unbekannt). Der Bruder neigte stark zum Fotografieren, und die Schwester hantierte bisweilen ebenfalls mit der Kamera. So entstanden im Laufe der Jahre zwangsläufig viele Familienbilder, die meisten davon in unserer großen Wohnung im Stadtzentrum. Mein Bruder- und mein Schwester-Ich fotografierten einander hin und wieder, ein paarmal sogar beim Fotografieren. Da es zahlreiche Aufnahmen gab, die beide Geschwister zugleich zeigten, muss vermutet werden, dass ein weiteres Familienmitglied sie gemacht hat.
Wir hatten eine Mutter und eine mutmaßliche Großmutter, doch weder die eine noch die andere pflegte zu fotografieren. Wie es sich mit einem Vater verhielt, weiß ich nicht. Gelegentlich war da ein Mann in Mutters Alter, doch der sah uns kaum ähnlich genug, um unser Vater zu sein. Gleichwohl konnte mein Schwester-Ich wenigstens seine Vierschrötigkeit geerbt haben. Der Mann hatte irgendetwas mit dem Reisebüro unter unserer Wohnung zu tun, vielleicht war er sogar der Inhaber. Wie es schien, unternahm er des öfteren gemeinsame Weltreisen mit Mutter. Von diesen Reisen gab es anschließend immer Erinnerungsfotos, die laut Mutter besagter Mann gemacht hatte. Er könnte also auch welche von uns Geschwistern gemacht haben.
Beim Bleigießen, beim Anmalen von Gegenständen, beim Schreiben und Lesen, beim Sitzen an Tischen, beim Herumstehen mit und ohne Aktentasche, bei chemischen Experimenten, beim Rührlöffelablecken und auf der Straße. Ein einziges Mal nur ist dieser Mann selbst auf einem Bild zu sehen, zusammen mit meinem Bruder-Ich und einer großen Eisscholle, die beide hochhalten wie eine Anglertrophäe. Vermutlich hat mein Schwester-Ich das Foto gemacht. Näheres hierzu ist nicht überliefert.
Es war auf Dauer sehr anstrengend für mich, zur selben Zeit zwei Personen sein müssen. Als dann die Schwester zur Tanzschule und der inzwischen volljährige Bruder zum Militärdienst sollten, war es endgültig soweit. Unausweichlich kam der Tag, an dem das Fass überlief. Mein Schwester-Ich schwang sich, immer vierschrötiger werdend, vor der Wohnzimmerschrankwand zu einer gar klumpigen Ekstase auf, und mein Bruder-Ich sprang von früh bis spät bellend an die Decke. Das hätte jemand fotografieren müssen!
Entweder unsere Mutter oder besagter Mann brachte uns zur Graafschen Heilanstalt. Diese Heilanstalt, die vielleicht gar keine war, sondern etwas Geheimes und Monströses, füllte die Etagen sämtlicher Häuser einer Straße in Bahnhofsnähe. Durch eine so einfache wie geniale Maßnahme, bei der eine kleine Gummipuppe zum Einsatz kam, konnten die Geschwister zum Abklingen gebracht werden. Was übrigblieb, war ein Strunk von einem Einzelbewusstsein, das sich gut zum Kuchenessen und Schlafen eignete.
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