16 Stunden täglich online: Strandbad Instagram

Die Schweizer Journalistin Vanessa Nikisch liefert Kritisches über die „Generation Selfie“. Die Jugend aber weiß, was sie tut.

Junge Frau mit Handy und Teddy

Schlimm, schlimm – diese „Generation Selfie“ und ihre notorische Selbstbezogenheit Foto: SRF

Jedem Jahrzehnt seine eigene Mediendebatte. In den 1990ern sorgte für Aufregung, als im damals noch jungen Privatfernsehen erst der Filmemacher Rosa von Praunheim die Promis Alfred Biolek und Hape Kerkeling als schwul outete und dann der Moderator Harald Schmidt die Moderatorin Bettina Böttinger als lesbisch. Durften die das …?

Heute empören sich vor allem die alten Medien Zeitung und Fernsehen gerne mal etwas altväterlich über die „Generation Selfie“: Herzen und Likes sind die Währung des Internets. Je mehr, desto besser. Pathologische Gefallsucht konstatieren die Alten. So lässt sich in drei Sätzen der Inhalt der Dokumentation „Generation Selfie“ der Schweizer Fernsehjournalistin Vanessa Nikisch auf den Punkt bringen.

Das erschreckendste Bild des Films: Die 16-jährige Michelle Weller – eine von drei Protagonistinnen, die Nikisch begleitet hat – liegt auf einem Behandlungsstuhl und lässt sich die Lippen aufspritzen. Dabei hält sie das Smartphone mit ausgestreckten Armen weitest möglich von sich, um die Prozedur für ihre 5.000 Follower auf Instagram zu dokumentieren. Die Aufspritzer erlassen ihr dafür die Kosten von 350 Franken.

Notorische Selbstbezogenheit

Ein eingeblendeter Text – „Bei jedem fünften Bild oder Video auf Instagram geht es um Lippen.“ – liefert die statistischen Fakten, von denen Nikisch nicht preisgibt, woher sie sie hat. Dem 3sat-Publikum erklärt sie aus dem Off: „Häufig gehen Social-Media-Größen Kooperationen ein und werden gesponsert.“ Die jüngste Selfmade-Milliardärin aller Zeiten (Forbes Magazine) Kylie Jenner hat es vorgemacht. Michelle Weller hortet in ihrer Nachttischschublade Kylie-Jenner-Make-up, für das sie schon über 3.000 Franken ausgegeben haben will.

„Generation Selfie“, 20.15 Uhr, 3sat

Schlimm, schlimm also – diese „Generation Selfie“ und ihre notorische Selbstbezogenheit. Komischerweise handelt es sich um junge Menschen der gleichen Altersgruppe, die derzeit unter dem Label „Generation Fridays for Future“ – auch in den klassischen Medien – dafür gefeiert werden, dass ihr Blick in die Zukunft so viel verantwortungsvoller und altruistischer sei als der der vorangegangenen Generationen.

Der Schriftsteller Bret Easton Ellis wiederum schließt in seinem aktuellen Buch („Weiß“) die sozialen Medien und die neue Ernsthaftigkeit der jungen Leute miteinander kurz und folgert daraus auf eine „Generation Weichei“ (im englischen Original: „Generation Wuss“). Und wahrscheinlich war das plakative Ausrufen einer „Generation“ immer schon ein angreifbares Unterfangen.

„Die ganze Welt sieht dich im Bikini.“ Antwort: „Im Strandbad ist das auch so“

Wer sich über die „Generation Selfie“ (Texteinblendung: „Im Laufe ihres Lebens werden heute 18- bis 35-Jährige 27.500 Selfies machen.“) mokieren will, bekommt dafür von Vanessa Nikisch gutes Anschauungsmaterial geliefert. Michelle Weller hält sie vor: „Die ganze Welt sieht dich im Bikini.“ Antwort: „Im Strandbad ist das auch so. Es gibt keinen Unterschied zwischen Instagram und Strandbad.“

Auch die 21-jährige Sportstudentin Chiara Schober, die früher magersüchtig war und heute muskulös ist, präsentiert ihren Followern zahlreiche Belfies, Hintern-Selfies im String: „Damit bekommt man mehr Likes. Das ist heutzutage so.“ (Texteinblendung: „Auf Instagram werden jeden Tag 3,5 Milliarden Likes vergeben.“) Zum Zeitpunkt der Produktion des Films war noch nicht bekannt, was wir nun seit ein paar Tagen wissen: dass Instagram die Likes abschaffen will. Vielleicht.

Bemerkenswert ist am Ende, dass sowohl Michelle Weller als Auch Chiara Schober zwischendurch in der Lage sind, ihr Social-Media-Verhalten ebenso schonungslos zu reflektieren wie Younes Saggara, 17, der dritte Protagonist: Wenn er denn einmal Luft holen kann zwischen den Selfies, die Younes mit so vielen sehr jungen, schreienden Mädchen machen muss, dass die Großeltern vor dem Fernsehbildschirm sich an die Beatles erinnert fühlen könnten.

Nikisch nennt ihn „ein nationales Teenie-Idol“ in der Schweiz und möchte von ihm wissen: „Du bist der totale Mädchenschwarm. Wissen deine Fans, dass du schwul bist?“ Antwort: „Darüber möchte ich nicht reden. Ich finde, es ist mein Privatleben.“ Die Journalistin hat Frage und Antwort gleichwohl in ihren Film genommen – und das Outing damit vollzogen. Bei der Erstausstrahlung im Schweizer Fernsehen sorgte das zu Jahresbeginn für eine Mediendebatte: Durfte die das …?

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.