heute in hamburg: „Das Leid der Opfer wurde anerkannt“
Aleida Assmann, 70, ist Anglistin, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Seit den 1990er-Jahren beschäftigt sich mit den Themen kulturelles Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen.
Interview Adèle Cailleteau
taz: Frau Assmann, erinnert man sich heute noch an den Holocaust so wie vor 50 Jahren?
Aleida Assmann: Auf keinen Fall. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt das Vergessen als die bessere Option. Wegen des Kalten Krieges wollten die Alliierten die Deutschen nicht immer auf ihre Schuld ansprechen. Dazu kam die Vorstellung, dass ein neues Europa gegründet werden müsse – das war nur zu haben über die Aufgabe der Vergangenheit.
Wann kam der Wendepunkt?
Es blieb bei diesem sogenannten „kommunikativen Beschweigen“ bis in die 1980er-Jahre, dann hat es sich gedreht. Ein wichtiger Grund dafür war, dass eine jüngere Generation in die Mitte der Gesellschaft getreten ist. Die Kriegsgeneration hatte nicht mehr das Sagen. Diese neue Generation war auch diejenige, die diese deutsche Schuld an sich genommen und sich damit verbunden hat. Da sie selbst nicht mehr schuldig war wie die Generation ihrer Eltern, konnte sie die Schuld in Verantwortung umdeuten und neue Formen der Erinnerung aufbauen.
Es waren riesige Schritte für die Opfer.
Das war eine Wende, die auch von den Opfern ausgelöst wurde. Nach dem Krieg gab es Überlebende, die nur überlebt haben, weil sie gezwungen waren, zu Zeugen zu werden. In den 1980er-Jahren war die Gesellschaft bereit, sie mit mehr Empathie anzuhören. Das passte auch zum biologischen Rhythmus der Opfer, die im Alter noch stärker ihre Erinnerung öffentlich gemacht haben.
Sie wurden damals anerkannt.
In den 80er kam die Formel von der „Vergangenheit, die nicht vergeht“ hoch. Es ist eigentlich eine Beschreibung für Traumata. Und dieser Begriff wurde in dieser Zeit neu geprägt als ein medizinischer Begriff. Eigentlich kam er aus dem Vietnamkriegs-Kontext. Aber er hat für alle traumatisierten Opfer der Geschichte einen Durchbruch gebracht: Ihr Leid wurde anerkannt.
Was war die Beziehung zu anderen Opfern der Geschichte?
In den 1990er-Jahren sprach man von Opferkonkurrenz. Das war ein sehr unangenehmer Zustand. Mein Kollege Michael Rothberg entwickelte deshalb die „multidirectional memory“. Warum muss eine Erinnerung die anderen mundtot machen? Die Erkenntnis über ein Traumata kann man doch auf ein anderes übertragen, wie etwa die Erfahrung des Holocaust auf die Kolonialopfer. Damit haben sich die Deutschen bis jetzt nicht beschäftigt.
Vortrag „Erinnern oder Vergessen – die ethische Wende in der deutschen Erinnerungskultur“: 19 Uhr, Helmut-Schmidt-Universität, Gebäude H1, Hörsaal 5, Holstenhofweg 85
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