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Pro & ContraGymnasium für alle?

Schleswig-Holstein hat die Gymnasialempfehlung wieder eingeführt, in Niedersachsen hat die SPD das verhindert. Können denn alle Kinder aufs Gymnasium?

Darf jeder aufs Gymnasium, der sich meldet? Foto: dpa

Ja

Sollen denn alle Kinder aufs Gymnasium und keiner lernt mehr diese schönen Handwerksberufe? Diese Zuspitzung trifft vielleicht noch nicht ganz das Problem, aber man kann es ja mal durchspielen.

Das derzeitige Schulsystem ist defizitorientiert. Es geht ja nicht bloß darum, wie diese elf- und zwölfjährigen Kinder gut lernen und eine gute Zeit haben können. Es geht darum, dass jeder einzelne das Recht darauf hat, auch auf späteres Durchstarten. Die Entwicklung von Intellektualität ist nicht auf 40 Prozent der Bevölkerung begrenzbar. Im Internetzeitalter, wo das Selbstlernen so leicht wird, schon gar nicht. Oder möchte vielleicht ein Akademiker seinen Status aufgeben zu Gunsten eines Nachrückers?

Dennoch wird jedes Jahr wieder die Ausgrenzung zelebriert. Die Party spielt scheinbar auf dem Gymnasium. Die einen gehören dazu, die anderen nicht. Wir haben in Deutschland eine nicht zu bändigende Lust an Kinderausgrenzerei. Adelstitel gibt es ja nicht mehr, mit Reichtum soll man nicht protzen, aber mit Bildung schon. Der Diskurs muss mal auf die Couch.

Die Hauptschulen sind heute leer, nicht weil der Staat sie vernachlässigte, sondern weil es eine Abstimmung mit den Füßen gab. Die einen arbeiten mit dem Kopf, die anderen mit den Händen, dieser Gegensatz ist überholt, wie auch neue duale Studiengänge zeigen. Die Waldorfschulen führen seit Jahrzehnten vor, das für beides Platz sein kann, tischlern und Goethe lesen. Und man hört, das bildungsbenachteiligte Kinder nicht automatisch gut werken. Feinmotorische Tätigkeiten fördern und fordern das Denken.

Abitur für alle muss nicht das Ziel sein. Aber es wäre gar nicht schlimm, wenn alle Kinder aufs Gymnasium gingen. Eine schlaue Schulorganisation fiele uns dafür schon ein. Das lästige Turbo-Abitur mögen die Eltern eh nicht. Und Werkräume können auch neben Lateinbibliotheken stehen. Kaija Kutter

Nein

Die Idee, jedeN aufs Gymnasium zu lassen, ist schädlich: für die Schüler, für die Schule und für die Schulpolitik. Bei Schülern mit fehlenden Voraussetzungen wird das Versagen programmiert. Die Schule wird mit Kindern konfrontiert, auf die sie nicht eingestellt ist. Und die Schulpolitiker können sich weiter Illusionen über den hohen Anteil angeblich Hochgebildeter machen, ohne dass sie die Chancengleichheit im Schulsystem wirklich verbessern.

Was ist schlimm daran, nach der vierten oder besser nach der sechsten Klasse zu entscheiden, ob jemand aufs Gymnasium darf oder nicht? Das Leben ist voller solcher Abzweigungen und die Frage ist eher, ob es ein „zu früh“ gibt, Kinder damit zu konfrontieren. Eine verbindliche Entscheidung durch Fachpersonal erspart den Kindern das schmerzhafte Scheitern am Gymnasium: die Schmach, gehen und sich eine Stufe tiefer eingliedern zu müssen.

Dass Lehrer gleich qualifizierte Kinder mit einem bildungsschwachen Hintergrund weniger häufig auf die höhere Schule schicken, mag ungerecht sein. Es ist aber realistisch, solange normal begabte Kinder nur mit Hilfe ihrer Eltern durchs Gymnasium kommen. Diesen Skandal einer bloß mit Krokodilstränen beweinten Bildungsungerechtigkeit gilt es zu beseitigen. Dann ließe sich über die Öffnung der Gymnasien schon eher reden.

So wie die Gymnasien heute sind, wären sie bei einer Öffnung lediglich schlechte Gesamtschulen. Es sind Schulen, die einseitig auf den Intellekt setzen und deshalb Kindern mit anderen Begabungsschwerpunkten in keiner Weise gerecht werden.

Sicher werden auch in handwerklichen Berufen abstrakte Fähigkeiten wie das Programmieren wichtiger. Doch es bleibt eine Diskriminierung, wenn eine Gesellschaft intellektuelle Bildung höher schätzt als handwerkliche Fähigkeiten. Das ist schon bei der Vernachlässigung der Haupt- und Realschulen zu sehen, die nicht zuletzt zu dem Run auf die Gymnasien geführt hat. Gernot Knödler

Den ganzen Schwerpunkt zur Gymnasialempfehlung finden Sie am in der Wochenendausgabe der taz nord am Kiosk oder hier.

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12 Kommentare

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  • "... es wäre gar nicht schlimm, wenn alle Kinder aufs Gymnasium gingen. Eine schlaue Schulorganisation fiele uns dafür schon ein." (Zitat aus dem Ja-Beitrag) - Genau, und diese schlaue Schulorganisation würde vermutlich auf ein Gymnasium für weniger Begabte und eines für Begabtere hinauslaufen. Womit wir eigentlich wieder das gleiche hätten, was es heute schon gibt.

  • Dankeschön für diese Gegenüberstellung von Pro und Contra zum Thema „Gymnasium“: verständlich, locker und doch systematisch unter Verzicht auf „–Ismen“ und „–istische Adjektive“ und unter weitgehendem Verzicht auf das (moralisierende) Modalverb „müssen“.

    Ich wünschte mir mehr davon in der taz!

    Martin Korol, Bremen

  • Zitat: „Eine verbindliche Entscheidung durch Fachpersonal erspart den Kindern das schmerzhafte Scheitern [...] die Schmach, gehen und sich eine Stufe tiefer eingliedern zu müssen.“

     

    Ich glaub‘ ich les‘ nicht richtig! Diese "Verbindliche Entscheidung durch Fachpersonal" (Selektion) "erspart" den Kindern das "Gefühl des Scheiterns" nicht, es löst dieses Gefühl überhaupt erst aus. Und zwar noch bevor das Kind auch nur den Hauch einer Chance hatte zu probieren, was es selbst will oder kann.

     

    Weder Eltern noch Lehrer sollten entscheiden. Die Schüler sollten es tun. Es geht schließlich um ihre Zukunft. Außerdem sind sie die einzigen, die wirklich wissen können, wer sie sind.

     

    Eltern sind oft entweder von Ehrgeiz oder Angst getrieben (Akademiker) oder sie haben selbst keine oder zu negative Erfahrungen mit dem Bildungssystem gemacht (Nicht-Akademiker). Sie entscheiden nicht objektiv und vielfach falsch, weil sie weniger ihr Kind und dessen Bedürfnisse sehen, als ihre eigene Verantwortung als Erziehungsverpflichtete, die eigenen Ziele oder Vorbehalte. Lehrer aber haben häufig mehr ihren Stoff im Blick, als ihre Schüler. Außerdem sind sie nur selten frei von Vorurteilen und Aversionen, Profitum hin oder her. Lehrer sind auch bloß Menschen.

     

    Nein, entscheiden müssen schon die Kinder. Menschen müssen ihre Zukunft von Anfang an selbst mitgestalten und verantworten dürfen. Nur dann haben sie eine. In einer hochtechnisierten, globalisierten Welt braucht niemand Untertanen. Der Staat schon gar nicht. Der braucht starke, selbständige Bürger. Aber um entscheiden zu können, müssen Schüler erst einmal (Lebens-)Erfahrung haben. Sie müssen sich und die Welt halbwegs richtig einschätzen kennen. Mit 10 oder 12 Jahren ist es noch viel zu früh für "Weichenstellungen" aller Art. Es ist bloß beinah schon zu spät für Lehrer und Eltern, über die Kinderköpfe hinweg entscheiden zu können.

     

    Empfehlung abschaffen? Gut. Entscheidung vertagen? Besser! Ganz darauf verzichten: Vernünftig.

    • @mowgli:

      Sorry, aber sie haben glaube ich von der Materie nur einen begrenzten Einblick.

      Zunächst ist es einfach mal so dass das Lerntempo und die Stoffmenge bzw. -komplexität am Gymnasium am höchsten ist. Das ist der alleinige Maßstab der bei der Evaluation von Schülern beim Übergang zur weiterführenden Schule zählt.

      Sie unterstellen akademisch geildeten Lehrern dass sie nicht fähig sind Schüler die sie vier Jahre lang in und auswendig kennengelernt haben dahingehend objektiv zu beurteilen. Das ist schon sehr starker Tobak. 10-jährige Schüler haben nicht mal ansatzweise die Fähigkeit sich selbst dahingehend zu beurteilen, sie können bestenfalss Wünsche äussern. Die noch in disen Fällen durchweg davon beeinflusst ist was die jeweiligen Mitschüler machen.

      Ausserdem ist es so dass unser Schulsystem nach 'oben' hin extrem durchlässig ist. Deshalb kommt es ja auch immer wieder vor dass z.B. Realschüler in der Orientierungsstufe doch noch ans Gymnasium gehen. Warum? Weil die Realschullehrer dies empfehlen.

      Zudem können sie auch später noch jederzeit! das Abitur nachholen, auf ganz vielfältige Weise.

      Was sie wollen ist die Einheitsschule. Weil ihnen die ganzen vermeintlichen "Elitenkinder" am Gymnasium ein Dorn im Auge sind.

  • das am anfang des lebens entschieden wird, was im rest möglich ist oder nicht, ist einfach falsch.

  • Gymnasialempfehlung - Frei nach dem Motto: Selektion find' ich gut.

    Ist ja nur die Bildungsrampe.

     

    Selbst die OECD konstsktiert, dass wir in Deutschland einBildungssystem haben, in dem der Erfolg von der sozialen Herkunft abhängt. Ach ja,dann wird wegen Fachkräftemangel gejammert. Hauptsache, die Konkurrenz uas denunteren/mittleren Schichten wird aus selektiert.

  • Der Arbeitsmarkt wird's richten. Es dauert nur zwanzig Jahre.

     

    Im Moment sind viele Leute im Glauben, ein akademischer Abschluss sei die Fahrkarte zu gutem Job und Einkommen. Das war lange so, und im öffentlichen Dienst ist es noch heute so, wenn auch die dortigen Jobs kaum noch zu bekommen sind. Dementsprechend wollen Eltern ihren Kindern den entsprechenden Weg bahnen.

     

    In zwanzig Jahren werden gute Klempner und Schreiner (insbesondere Meister) mehr verdienen als Lehrer. In Großbritannien ist das schon heute so.

    • @Huck :

      "Mein Sohn ist Fliesenleger und verdient mehr als ich". Zitat meines Deutschlehrers Anfang der 90er, Gymnasium. War während einer Diskussion in der Klasse, bei der es darum ging, daß "die Schüler vom Stoff aller Fächer nur noch erschlagen werden" und man quasi kaum noch Freizeit hätte und bei der dieser Lehrer versucht hatte, zu erklären, daß es "ein Leben ohne Abitur geben kann" und man sich doch von der Idee verabschieden solle, daß ein Abitur sozusagen ein Pflicht wäre. "Es ist Ihr Leben, Sie entscheiden, und wenn SIE das Gefühl haben, es wächst Ihnen über den Kopf, dann müssen SIE eine Entscheidung treffen. Sie müssen weder Ihrem Umfeld,noch Ihren Eltern etwas beweisen. Ich ziehe vor Jedem den Hut, der den Schneid hat, zu sagen, daß er es nicht mehr packt und die Konsequenzen zieht und mit der Mittleren Reife seinen Berufsstart macht. Das ist mir lieber, als Jemand, der mit aller Gewalt bis zum Ende mitgeschleift werden muß und dann, mit Glück, gerade so ein grottenschlechtes Abitur schreibt, nur damit er den Wisch vorzeigen kann." Dem habe ich Nichts hinzuzufügen.

    • @Huck :

      handwerker, besonders klempner sterben auch heute schon nicht arm, zumindest solange sie eine eigene firma haben. aber es geht nicht nur ums geld, es geht auch darum aus dem eigenen umfeld herauszukommen und damit selbst zu entscheiden, was man will. wenn es letztlich ein handwerksberuf ist, was spricht dagegen?

      • @nutzer:

        was spricht dagegen auch Handwerker an den Hochschulen auszubilden ?

         

        Arzt, Jurist und Betriebswirt sind auch Lehrberufe bei denen das Pauken an der Uni stattfindet, und kaum jemand im Studium forscht.

        • 4G
          4813 (Profil gelöscht)
          @Alreech:

          Weil Handwerker was praktisches lernen müssen, das geht an keiner Hochschule..

          • @4813 (Profil gelöscht):

            Ich glaube, Ärzte sollten auch Praktisches lernen...