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Althistoriker über politische Vergleiche„Man baut wütende Barbaren auf“

Sind Geflüchtete Vorzeichen einer „Völkerwanderung“? Ein Gespräch mit dem Althistoriker Roland Steinacher über die Instrumen­talisierung der Antike.

Die meisten kamen nicht als Invasoren ins Imperium, sondern wurden als Söldner angeworben: das Kolosseum in Rom Foto: Imago / Imagebroker
Ambros Waibel
Interview von Ambros Waibel

taz: Herr Steinacher, die Antike wird aktuell mal wieder gern herbeizitiert, wenn es um Parallelen zu Krisen der Gegenwart geht. Eine dieser Kontroversen hat es im Sommer bis in den Guardian geschafft. Könnten Sie skizzieren, was da für Aufregung gesorgt hat?

Roland Steinacher: Es ging um einen Zeichentrickfilm für Schulen, der einen hohen römischen Soldaten im römischen Britannien zeigt – und zwar einen Soldaten mit dunkler Hautfarbe. Nachdem die BBC das Video hochgeladen hatte, warfen ihr Leute aus dem rechten Lager vor, Political Correctness zu betreiben, indem sie die moderne Multikultigesellschaft in die Antike projiziere. Richtig los ging es aber, als sich die ausgezeichnete Althistorikerin Mary Beard in die Debatte einschaltete – eine ausgewiesen politische Persönlichkeit. Der Film, sagte sie, entspreche den wissenschaftlichen Befunden, allein durch die gut belegten Rekrutierungspraktiken der römischen Armee sei es absolut möglich, dass schwarze Menschen in Britannien gelebt haben. Die zweite Stufe der Auseinandersetzung war dann, dass die Leute, die sich an dem Video gestört haben, nach der Genetik gerufen haben: Die möge doch jetzt Fakten vorlegen. Dies wiederum hat eine methodische Debatte ausgelöst, die die Grenzen dieser genetischen Methode aufgezeigt hat.

Und die wären?

Individuen oder kleinere Gruppen zu greifen, ist mit archäologisch-genetischen Methoden kaum möglich. Die britische Bevölkerung heute ist genauso schön ausdifferenziert wie alle anderen europäischen Bevölkerungen auch.

Und das heißt?

Das heißt schlicht, dass alle Europäer, mit leichten Verschiebungen und regionalen Schwerpunkten, miteinander verwandt sind. Und die größte Verwandtschaft von ihnen allen besteht zum Nahen Osten.

Im Interview: Roland Steinacher

geb. 1972 in Innsbruck, ist Althistoriker und Mediävist. Er lebt nach Jahren in Wien nun seit 2016 in Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die römische Geschichte und das frühe Mittelalter. Zuletzt erschienen: „Die Vandalen. Aufstieg und Fall eines Barbarenreichs“ (Klett-Cotta, Stuttgart 2016) und „Rom und die Barbaren. Völker im Alpen- und Donauraum (300–600)“ (Kohlhammer, Stuttgart 2017).

Also zu den Menschengruppen, die vor etwa 12.000 Jahren den Ackerbau erfunden haben und dann nach Europa eingewandert sind.

So postuliert es jedenfalls das Institut für Menschheitsgeschichte in Jena. Ob diese Ergebnisse haltbar sind, ist immer ein bisschen schwierig zu sagen. Zurzeit verfügt das Institut nur über einen Pool von Überresten von 1.000 Individuen. Die Laborkosten für eine Aufnahme des DNA-Materials sind nämlich erheblich.

Eine Kostenfrage also?

Auch. Patrick Geary vom Institute for Advanced Study in Princeton versucht derzeit sogenannte langobardische – da sind wir schon mitten in der Problematik – Gräberfelder in Norditalien im DNA-Material aufzuarbeiten. Da geht es um Budgets von mehreren Millionen Euro. Und die – auch privaten – Finanziers des Ganzen würden gern auf die Ergebnisse ein Etikett kleben, nach dem Motto: Das waren hier germanische Invasoren der sogenannten Völkerwanderung. Da kommt es dann zu Aussagen in der Presse wie „Gene lügen nicht“.

Stimmt das nicht?

Der Denkfehler ist: Man übersieht, dass auch Gene lediglich eine weitere Quelle zur Vergangenheit sind; und Quellen sprechen nie für sich selbst, sondern bedürfen immer der Interpretation. Wo die Genetik tatsächlich unheimlich wertvoll wäre, ist nicht bei der Unterscheidung in Volksgruppen – zugewanderte Langobarden oder einheimische Römer –, sondern bei der Frage nach den verwandtschaftlichen Beziehung der etwa 40 Personen, die dort bestattet sind. Ist das zum Beispiel eine Dynastie, über drei, vier Generationen? Denn die nächste Absurdität ist ja: Diese Volksnamen, die dann der DNA zugeordnet werden, stammen aus der traditionellen Geschichtswissenschaft. Es ist aber absurd, veraltete historische Fragestellungen, meist aus nationalistischen Narrativen des 18. und 19. Jahrhunderts, mit hochmoderner Genetik beantworten zu wollen. Denn da können immer Ideen von rassischer Reinheit, von besserem und schlechterem Genmaterial à la Thilo Sarrazin mit hineinspielen, immer mit der Sehnsucht nach eindeutigen Identitätserzählungen.

Was bleibt denn in Ihrer Sicht von der sogenannten Völkerwanderung übrig?

In der Spätantike haben Armeen von maximal 20.000 Soldaten aus der Peripherie des Römischen Reiches als privilegierte Elite die Strukturen von römischer Verwaltung und Militär übernommen, ob nun Langobarden in Norditalien oder die Vandalen im heutigen Tunesien, der damaligen römischen Provinz Africa. Die meisten von ihnen kamen nicht als Invasoren ins Imperium, sondern wurden als Söldner angeworben. Je mehr das Weströmische Reich aber in Bürgerkriegen versank, desto prominenter wurde die Rolle dieser Kriegergruppen, die das entstehende Machtvakuum füllten.

Und dann brach das Chaos aus?

Vielleicht war diese neue militärische Elite für den Durchschnittsbauern oder Kaufmann vor Ort sogar die angenehmere Variante, mit weniger Steuerdruck. Das ist, glaube ich, die beste Zugangsweise zu einem im 19. Jahrhundert so aufgeblähten Konzept einer Völkerwanderung.

Also das Gegenteil eines „Zivilisationsbruchs“ von der strahlenden Antike ins dunkle Mittelalter?

Genau. Es ist kaum zu leugnen, dass es Blutvergießen und sinkende Lebensstandards gab; aber heute glauben viele Historiker, dass dies vor allem durch innerrömische Prozesse verursacht wurde, die nicht durch Migration ausgelöst wurden. Wenn man die Analogie zur Jetztzeit richtig nehmen wollte, dann wären nicht die „Flüchlingsströme“ die entscheidenden Akteure, sondern es wäre etwa eine libysche Söldnermiliz, die den neuen Limes in der Sahara gegen die Flüchtlinge bewacht und dann, weil sie nicht bezahlt wird, Deutschland oder Frankreich übernimmt, wo zuvor Bürgerkriege die staatlichen Strukturen geschwächt haben müssten.

Ist das nicht ein zu idyllisches Bild der „Barbarischen Invasio­nen“, wie die „Völkerwanderung“ im romanischen Sprachraum genannt wird?

Das Konzept „Völkerwanderung“ kommt aus Metaphern der antiken Literatur, die eindringlich sind, fast schon hysterisch. Man baut den wütenden, kriegerischen Barbaren auf, als Gegenstück zum kultivierten römischen Zivilisten. Dem voraus geht aber eine Bildung von Armeeverbänden an den Grenzen des Reiches, die dort Ordnungsaufgaben im römischen Interesse übernehmen. Irgendwann sind die organisiert genug, um eine Rolle innerhalb des Reichs einnehmen zu können: als nämlich, und das stimmt schon, aus innerer Verteilungsproblematik die Zahlungen an diese Verbände nicht mehr funktionieren. Dann kommt man rein und nimmt sich den Teil, der einem zusteht, eben selbst. Das ist der historische Befund, den wir haben. Wobei das Individuum das natürlich durchaus anders erlebt haben kann, wenn etwa aus Gallien beschrieben wird, wie sich germanische Zuzügler ranzige Butter als Pomade ins Haar schmieren, saufen, tanzen und sich auch sonst rüde benehmen – Soldaten halt.

Trotzdem haben wir Berichte, dass etwa in Trier die zugezogenen Barbaren an der Funk­tions­weise der römischen Fußbodenheizung verzweifeln und sie dann einfach ein Loch in den Boden hauen und Feuer machen. Sehen Sie nicht die Gefahr, dass Sie so sehr differenzieren, dass am Schluss das Offensichtliche nicht mehr einzuordnen ist?

Dass es teils zu tiefen Brüchen kam, ist klar. Trotzdem bleibt die Frage nach der Feinheit der Erklärungsmuster. Trier, das Sie ansprechen, war lange Zeit Kaiserresidenz. Sobald kein Kaiserhof mehr da ist, bricht die Struktur runter auf das lokale Niveau, das sie in den Vororten die ganze Zeit hatten: eines, wo es die – enorm brennstoffintensiven und von Sklaven bewirtschafteten! – Fußbodenheizungen nie gab. Eine Reregionalisierung also. Gleichzeitig haben sie in Konstantinopel, in Norditalien, in der Provinz Africa dieses Überregionale sehr wohl weiterhin. Im Ganzen ist die Kontinuität also größer als der Bruch.

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5 Kommentare

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  • "Das heißt schlicht, dass alle Europäer (...) miteinander verwandt sind."

    Oh Gott! - Also wenn ich da so an die Eine oder den Anderen aus meiner unmittelbaren Verwandtschaft denke, dann drehe ich aber vorsorglich den Schlüssel gleich zweimal im Schloss rum.

    Ob ich deswegen auch gleich noch die AfD wählen sollte? Möglicherweise ist sie ja eh nur eine Selbsthilfe-und Therapiegruppe gegen ein irgendwie geartetes 'Sippen-Syndrom'.

  • Dass Geschichte instrumentalisiert wird, ist nicht neu. Es liegt in der Natur der Sache.

     

    Menschen sind keine Immobilien. Sie bewegen und entwickeln sich. Dabei wollen sie das Gefühl haben, entscheiden zu können. Sie brauchen also eine Vorstellung von Gerichtetheit, eine Art Vektor. Der aber bedarf eines Gestern und eines Morgen, nicht bloß eines Heute.

     

    Aus dem Bedürfnis heraus, die Richtung der Bewegung zu bestimmen, haben Menschen die Geschichtsschreibung erfunden. Wer wissen will, wie es gestern war, kann Quellen auslegen. Wobei die Quelle praktischerweise keinen eigenen Willen hat. Man kann also – sofern die Macht reicht – Milliarden für die Beschaffung und Interpretation bestimmter Quellen ausgeben. Oder aber nichts.

     

    Die Zukunft ist nicht halb so attraktiv für Machtmenschen. Die Zukunft stellt nämlich keine Quellen zur Verfügung. Sie lässt sich nicht „beweisen“. Über Zukunft kann man gleichberechtigt streiten. Geld und Macht helfen einem nicht dabei, sie glaubwürdiger zu interpretieren. Geschichte schreiben deshalb immer die Sieger. Utopien schreiben meistens die Verlierer. Außer in Hollywood.

     

    Die Identitären suchen ihre Identität kurioserweise nicht in sich selber, sondern in homogenen Gruppen. Alleine fühlen sie sich offenbar zu ohnmächtig. In Vorbereitung auf eine unsichere Zukunft möchten sie sich deshalb quasi massenhaft klonen. Von der archäologischen Genetik verlangen sie, dass sie die Zukunft mit den Mitteln der Geschichtsschreibung beweist und ihnen so Macht verleiht.

     

    Ein grober Unfug, das. Nichts am Menschen ist individueller als seine genetische Ausstattung. Man könnte 800.000 Menschen in Deutschland (1% der Bevölkerung) testen und wüsste anschließend immer noch nichts über die restlichen 99%, ihre Vergangenheit und/oder ihre Zukunft.

     

    Nein, Gene lügen nicht. Sie sagen einem nur nicht zwingend, was man gern hören möchte. Sie sind ja schließlich keine Untertanen.

  • Teil II.

     

    Zu den schwarzafrikanischen Vorfahren der Deutschen!

    {...}

     

    Möglicherweise war die römisch-antike Vernetzung, der eroberten und über Jahrhunderte gehaltenen Gebiete und Kolonien, den wirtschaftlichen und kapitalistisch-imperialistischen Eroberungen unserer kapitalistischen Neuzeit, der letzten Jahrhunderte, so in unserer historischen Zeitrechnung, weit überlegen. Die heutigen Städte römischer Gründung in Zentraleuropa sind Zeitzeugen einer relativ stabilen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, unter römisch-imperialer Vorherrschaft. Blicken wir doch nur auf den Ursprung der römischen Militäreinrichtungen, Wirtschaftszentren und Stadtgründungen, in den (heutigen) west-, mittel-, nordeuropäischen Regionen. Heute ein Teil der nationalen Territorien und Regionen von: Frankreich, Deutschland, Britannien u.a.m.

     

    [- unvollständig.]

  • Zu den schwarzafrikanischen Vorfahren -nicht nur- der Deutschen!

     

    [Teil I. von II.]

     

    Auch schwarzafrikanische Söldner und Truppenverbände beteiligten sich über Jahrhunderte an der Eroberung von Römisch-Germanien und hatten auch sexuelle Beziehungen zu ortsansässigen germanischen Frauen! So auch gemeinsame Kinder! Die ursprünglichen Vorfahren der heutigen Deutschen und auch der heutigen Nationalisten und ethnischen Rassisten!

     

    Die „alten Ägypter“ bedienten sich schwarzafrikanischer Söldner in der ihnen bekannten Welt und bei regionalen Wirtschaftskriegen und wirtschaftlichen Eroberungszügen. Die römischen Patrizier und Feldherren nutzten bei der wirtschaftlichen und militärischen Eroberung der nordafrikanischen Gebiete, das örtliche und regionale Angebot von Arbeitskräften und deren freiwillige Eignung für die militärische Ausbildung und zum militärischen Einsatz. Die von den römischen Legionen gebotene relative soziale Sicherheit für Angehörige ihrer kämpfenden Verbände, führte nicht wenige und militärisch geeignete schwarzafrikanische Söldner zum maximalen Verbleib in ihren Jugendjahren in die Truppe.

     

    Bestand doch auch in historischer Zeit, die Möglichkeit, entsprechend der damaligen Entwicklung, beim altersbedingten Ausscheiden aus der kämpfenden Legion, für den Erwerb einer relativen Familien- und Altersabsicherung. Gewiss nicht unähnlich, den gebürtigen römischen und römisch-regionalen Soldaten, erhielten auch die „verdienten“ Söldner aus den -über Generationen- besetzten Gebieten, eine soziale und materielle Abfindung. Gegebenenfalls auch als dauerhafte Leibrente oder als (bäuerlichen) Landbesitz. Zugleich wurde damit die Anbindung von sozial und materiell begünstigten Bevölkerungsteilen in den römischen Kolonien, an „Rom“, die römische Wirtschafts-, Militär-, Kolonialmacht gefestigt.

    {...}

     

    Siehe auch Teil II.

  • Werden dabei nicht zwei Ebenen miteinander vermischt, die kulturelle und die genetische? Da gibt es zwar Korrelationen, es sollte aber unterschiedlich betrachtet werden. Es gab sicher Übernahmen kultureller Standards ohne nennenswerte genetische Vermischung, und eben auch große genetische Einflüsse ohne kulturellen Fußabdruck.

    Die Völkerwanderung hat stattgefunden, aber eben sehr wenig auf dem Gebiet der germanischen Völker, sondern mehr von da weg, jedenfalls im historischen Zeitraum bis zurück zur Antike. So gesehen ist der Hinweis auf einen römischen Einbruch natürlich naiv. Viel interessanter ist der Blick nach Osten, die slawischen Einflüsse und die aus dem erwähnten nahen Osten. Wer sich da aber wissenschaftlich heran traut, ist wohl auch versucht, Salz im Meer auf seine regionale Herkunft zu ergründen.