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Neue Spielzeit an der Berliner VolksbühneKörperlich empfangsbereit

Boris Charmatz eröffnet die neue Spielzeit der Volksbühne mit einem Tanzmarathon zum Mitmachen auf dem Tempelhofer Feld.

Der Volksbühnen-Sonntag begann auf dem Tempelhofer Feld mit einem „Public Warm-up“ Foto: dpa

Es war ein schöner Tag. Nicht mehr und nicht weniger hat Boris Charmatz für die Eröffnung der ersten Spielzeit von Chris Dercon (Intendant) und Marietta Piekenbrock (Programmdirektorin) an der Volksbühne Berlin inszeniert. Der französische Choreograf lud unter dem Titel „Fous de danse“ zehn Stunden lang zum Tanz auf dem harten Beton des Flugvorfelds im alten Flughafen Tempelhof. Mit Ballett, Modern Dance, zeitgenössischem Tanz, Hiphop, Soul, Clubbing, Voguing, türkischem Tanz; mit Profis und Amateuren.

17 Gruppen und Institutionen aus Berlin waren dabei, darunter die staatliche Ballettschule Berlin und Absolventen der Hochschule für zeitgenössischen Tanz. Viele Rückblicke in die Tanzgeschichte gab es und viele Formate, an denen sich das Publikum beteiligen konnte und das auch in großen Gruppen tat. Ein Highlight waren zwei Auftritte der Choreografin Anne Teresa De Keersmae­ker, die selbst ein inzwischen zum Klassiker gewordenes Solo, „Violin Phase“, von 1982 zur Musik von Steve Reich tanzte, 15 Minuten im Licht der späten Nachmittagssonne in einem weiten Kreis, den das Publikum um sie gebildet hatte, teils auf dem Boden sitzend, teil stehend.

Wie das Publikum sich bewegt, wie es Gruppen und Kreise bildet, ausschwärmt über die weite Fläche des Flugvorfelds, sich wieder zusammenzieht, wo es etwas zu sehen gibt, das zu organisieren begreift Boris Charmatz als Teil seiner choreografischen Arbeit. Er wollte eine möglichst offene Form finden für den Start der neuen Volksbühne – und das ist ihm gelungen. 13.000 Leute sollen gekommen sein, darunter, das erkannte man an den Flugdrachen im Rucksack oder den Skateboards unter dem Arm, nicht wenige von denen, die sonntags hier sowieso die Weite suchen und die Lust an der Bewegung. Dass nach zwei grauen Berliner Regentagen nun die Sonne schien, kam dem Tag zugute.

Seit 2009 leitet Boris Charmatz im französischen Rennes ein Zentrum für zeitgenössischen Tanz, dem er den Namen „Musée de la danse“ gegeben hat. Dort hat er zum einen an Formen der Wiederbegegnung mit Tanzgeschichte gearbeitet, oft auch mit der Frage, wie sich Zeitgeist und politische Stimmung in Bewegung niederschlagen.

Das fand sich am Sonntag in einem Teil der neun Soli von Protagonisten der jungen Berliner Tanzszene wieder, die den „Berlin Solo Forest“ bildeten und sich dabei auch auf das Bauhaus, die Ausdruckstänzerin Dore Hoyer oder Pina Bausch bezogen. Zum anderen hat sich Charmatz in Rennes der Öffnung der Kunstform Tanz gewidmet, einer breiten Kommunikation zwischen den Menschen und Plätzen einer Stadt. Bewegungen weiterzugeben, an Amateure und Laien, das kann Charmatz mit großem Charme.

Bestens organisierte Menge

So begann der Sonntag mit einem „Public Warm-up“ und zeigte als einen Höhepunkt „Levée“, eine Phrase von 25 Bewegungen für die 25 Buchstaben des Alphabets, die Charmatz gut zwei- bis dreihundert Leuten in mehreren schnellen Durchläufen beibrachte, bis sie „Levée“ zusammen einmal performen konnten. Es ist eine Bewegungsfolge, bei der eigentlich jeder auch ohne Vorkenntnisse mitmachen kann, die aber doch durch unterschiedliche Qualitäten von Energie, Tempo, Präzision und Improvisation von vertrauten und fremden Bewegungen führt. In einigen Momenten erzeugt die Choreografie die schöne Vorstellung, einer trotz unübersichtlicher Verhältnisse sich selbst bestens organisierenden Menge zuzusehen.

Einer der Mitstreiter, die Charmatz in Berlin gefunden hat, ist der Berliner Hiphopper Raphael Hillebrand, der jeweils für eine Stunde zu einem „Giant Soul Train“ und zu fünf verschiedenen „Social Dance“-Formen einlud. Kleine Kinder und Jugendliche zogen da ebenso mit wie ältere Leute. Und das passiert nicht so oft.

Nicht um das ­Abgeschlossene ging es, sondern um Streuung, Öffnung, Geschehenlassen

Nicht um Perfektion, nicht um fertige Kunst, nicht um das Abgeschlossene ging es an diesem ersten Tag der neuen Volksbühne, sondern um Streuung, Öffnung, Geschehenlassen – alles Eigenschaften und Tugenden, die auch die Castorf-Bühne auszeichnete. Noch immer arbeitet die Initiative „Zukunft an der Volksbühne neu verhandeln“, die Ende August eine Petition mit 40.000 Unterschriften im Kulturausschuss des Berlin Parlaments eingereicht hat, gegen die von Tim Renner berufene Intendanz von Chris Dercon und Marietta Piekenbrock. Sie fordern die Aufkündigung der Verträge.

Eines der Argumente ist neben der Trauer um den Verlust dessen, was unter Castorf 25 Jahre lang zu erleben war, dass die Volksbühne „vor allem zum Gastspielort von Tanzproduktionen ohne Berlin-Bezug umgebaut“ werde – untermalt von einem Tocotronic-Zitat von 1995: „Ich weiß nicht, wieso ich euch so hasse, Tanztheater dieser Stadt.“ Wer so denkt, dem wird der Auftakt wohl kaum den Wind aus den Segeln seiner Dercon-Gegnerschaft genommen haben, auch wenn der Tag von der vielfältigen Verknüpfung mit Berliner Künstlern geprägt war.

In der Atmosphäre einer solchen Ablehnung zu starten ist nicht einfach. Dass es viel Kraft gekostet haben muss, sich auf das machbare Programm zu konzentrieren und nicht in Konflikten mit den Gegnern aufzureiben, ließ Marietta Piekenbrock bei einem Pressetermin drei Tage vor der Eröffnung ahnen. Auch Charmatz erzählte von dem Zögern, das ihn und sein Ensemble, die nach Dercons und Piekenbrocks Anfrage mit Begeisterung nach Berlin ziehen wollten, dann doch wieder befallen habe. In Rennes geht Charmatz’ Vertrag noch bis 2018, danach würde er mit seiner Familie und drei Kindern gern in Berlin ankommen.

„Die Volksbühne wird kein Tanzhaus“

Seine Beziehung zur Stadt, erzählte er, begann in den Sommerferien seiner Kindheit, als seine Eltern, Lehrer für Deutsch und Französisch, ihn nach Berlin mitnahmen. Hier habe er Punk und den Kalten Krieg erlebt, Hannah Höch und Kurt Schwitters entdeckt. Ein Großvater war aus Deutschland vor den Nationalsozialisten nach Frankreich geflohen. Charmatz war als Choreograf oft in Berlin zu Gast und am Aufbau der hiesigen Hochschule für zeitgenössischen Tanz beteiligt.

Boris Charmatz' „Levée“ sind 25 Bewegungen für die Buchstaben des Alphabets, bei der 30 Besucher mittanzten Foto: reuters

Mit „Fous de Dance“ und zwei weiteren Produktionen im September in Tempelhof, „A Dancers Day“ und „Dance de nuit“, eröffnet er nun die Spielzeit. „A Dancers Day“ folgt über sechs Stunden hinweg dem Tag eines Tänzers, vom Warm-up über die Probe, die Pause bis zur Performance, der Uraufführung von „10.000 Gesten“. Wieder können die Besucher an einigen Formen, wie Warm-up und Picknick in der Pause, teilnehmen, um dann körperlich empfangsbereit zu sein für die Suche nach 10.000 neuen Bewegungen, die sich nicht wiederholen dürfen. „Dance de nuit“ ist ein Gegenstück, das Bewegung in Dunkelheit erleben lässt, unvorhersehbar, auch verunsichernd und beängstigend. Es entstand als Reaktion auf die Zeit der Attentate, auf den Angriff auf den öffentlichen Raum.

Aber trotz dieses starken Aufschlags sagt Charmatz: „Die Volksbühne wird kein Tanzhaus.“ Im Oktober werden im Stammhaus am Rosa-Luxemburg-Platz Schauspielproduktionen zu sehen sein. Den Tanz an den Anfang zu stellen bleibt trotzdem eine symbolische Geste, schätzen doch Piekenbrock und Dercon das Potenzial des Tanzes, sich in den Raum zu öffnen; damit ist nicht nur ein öffentlicher Platz wie Tempelhof gemeint, sondern auch der soziale, gesellschaftliche und politische Raum.

Aber solch eine symbolische Überhöhung ist dann doch etwas hoch gegriffen für das, was am Tag der Eröffnung geschah. Berlin kennt große Raves und öffentliches Tanzen als Demons­trationsform. Besser ist es, „Fous de danse“ als einen freundlichen und netten Empfang zu sehen, aber auch als einen Beginn, aus dem man noch nicht besonders viel herauslesen kann.

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1 Kommentar

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  • Hoffentlich wird das nicht mit Steuergeldern gefördert.