Pädophile Neigung: Das Gefühl, falsch zu sein
Mike liebt David. Aber Mike liebt auch die Körper heranwachsender Jungs. Sein Leben ist ein Kampf gegen sich selbst.
Man trifft Mike im Büro von Jens Wagner. In einem Berliner Hinterhaus, vorbei an der halbherzig eingerichteten Raucherecke, die Treppe hinauf in den ersten Stock. Zwei Schreibtische, wenig Möbel, körniger blauer Teppichboden. Teil des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité Berlin. Mike macht eine Therapie beim Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden“, das sich an Männer und Frauen mit pädophiler Neigung wendet. Es ist einer der wenigen Schutzräume für sie. In der Luft der Duft von Kaffee.
Jens Wagner ist Sprecher von „Kein Täter werden“. Am Telefon hatte er mit freundlicher, ruhiger Stimme gesagt: „Viele haben ja das Gefühl zu wissen, wie Pädophile aussehen würden, als gäbe es da irgendwelche äußeren Erkennungsmerkmale. Dabei sind das ganz normale Menschen, die hier zu uns kommen.“ So wie Mike.
„Kein Tater werden“ wurde 2005 gegründet, heute gibt es in elf Städten Beratungsstellen. Anfang der nuller Jahre berichteten viele Medien anprangernd über Pädophilie und Hebephilie, losgelost davon, wie die Betroffenen tatsachlich mit ihrer Neigung leben. Das ist doch undifferenziert, dachten Sexualwissenschaftler_innen an der Berliner Charité. Sie wussten: Pädophilie und Hebephilie führen nicht gleich zu Missbrauch. Tatsächlich sind zwei Drittel der Missbrauchstäter_innen Ersatzhandlungstäter_innen. Das heißt: Sie fühlen sich zu Erwachsenen hingezogen, begehen aber dennoch sexuellen Kindesmissbrauch, etwa weil sie eine Persönlichkeitsstörung haben.
In dem Berliner Hinterhofbüro sagt Mike nun: „Ich hatte immer das Gefühl, falsch zu sein.“ Während er spricht, faltet er ein Blatt Papier, immer wieder. „Meine erste sexuelle Erfahrung war mit 14 Jahren, mit einem Jungen in meinem Alter. Das war wunderschön.“ Beide probierten sich aus, wie es Jugendliche in diesem Alter tun. Nämlich ohne genau zu wissen, worauf sie stehen und was genau das ist: Sexualität. Für Mike fühlten sich die Berührungen gut an. Zärtlich waren sie zueinander. Mike erzählt: „Manchmal denke ich: Vielleicht kommt mein Interesse an 13–15-jährigen Jungen auch daher. Die Erfahrung hat sich ganz stark verinnerlicht, weil es sich richtig angefühlt hat, während meine Homosexualität sich ansonsten falsch anfühlte.“
Mike wächst in Ostdeutschland auf. In seiner Familie, bei seinen Freunden, in seinem Ort ist es verpönt, schwul zu sein.
Du brauchst 'ne Freundin
Mike denkt zu dieser Zeit nicht daran, dass er hebephil sein könnte. Das wird ihm erst später klar. Als Junge steht er eben auf gleichaltrige Jungs – auch das wagt er sich nicht einzugestehen. „Ich erinnere mich an einen Moment, da saß mein Vater auf dem Balkon, und unten auf der Straße gingen zwei Männer Händchen haltend vorbei. Er sagte: Da sind die schwulen Säue“, erzählt Mike. Es macht ihm Angst. Davor, dass der Vater das Leben des Sohns ablehnen würde. Mike entwickelt Angst vor Erwachsenen. Er hat das Gefühl, er ticke nicht richtig. Hat Selbstzweifel, ist schüchtern. Will doch nur eins: normal sein. Mit seiner Homosexualität bleibt er allein. Mike hat wenig Freunde.
„Ich weiß noch, wie ich im Bett lag und gedacht hab: Du musst jetzt leben wie die anderen. Du brauchst ’ne Freundin“, erzählt Mike. Er findet tatsächlich eine Freundin. Verliebt sich sogar ein bisschen; nicht so, wie heterosexuelle Jungs sich in Mädchen verlieben. Es fehlt die Lust. Aber Mike lernt die Nähe zu einem Menschen schätzen, eine Beziehung zu führen. Dann lernt Mike Max* kennen.
Mike ist damals 23 Jahre alt, Max 15. Sie unternehmen Ausflüge, fahren Fahrrad, gehen baden, feiern. Werden Freunde. Max wird Mikes erste Liebe. Er erzählt gern davon, es geht leicht, und doch steckt darin ein Schmerz: „Ich hab sozusagen zwei Leben gelebt. Meine Freundin wusste nichts davon. Ich hab Max dann einen Brief geschrieben und erzählt, was ich fühle. Er gab ihn mir zurück und sagte, die Freundschaft sei ihm total wichtig. Gefühle wie ich habe er aber nicht.“
Eine Woche später küsst Max Mike auf einer Party. Verwirrung. Wenig später fahren sie zelten. Mike und Max fassen sich an, aber Mike merkt, dass Max das zwar schön findet, aber nicht wirklich darauf steht. Mike bricht den Kontakt ab. Zu schmerzhaft wäre es, weiter mit Max befreundet zu sein. „Dann hat meine Freundin den Brief gefunden, den ich Max geschrieben hatte.“ Sie trennen sich. „Es tut mir heute noch leid, wie sehr ich ihr wehgetan habe“, sagt Mike.
Die nächsten Jahre sind schwierig. Mike plagen Schuldgefühle und Selbsthass. In dieser Zeit schaut er sich im Internet häufig kinderpornografische Seiten an. Für ihn ist es eine Flucht in die Erinnerung an seine erste sexuelle Erfahrung als 14-Jähiger. An die Zeit, als er sich begehrt, schön und richtig fühlte. Mikes sexuelle Neigung nimmt viel Platz in seinem Kopf ein. Er zieht sich zurück, wie so viele, die pädophile oder hebephile Neigungen verspüren.
Bin ich mehr als meine Neigung?
Vereinsamung und Isolation wiederum erhöhen das Risiko, dass Menschen Straftaten begehen, sagt Jens Wagner vom Präventionsnetzwerk. Mike erzählt: „Man reduziert sich auf die Neigung. Man fühlt sich krank und kann nichts dagegen tun. Man kann Nettigkeiten nicht annehmen, weil man sich als Monster empfindet. Dann schaut man sich die Videos an und blockiert das Negative, das von außen kommt.“
Zwei Wochen nachdem Mike im Büro Jens Wagners das erste Mal von sich erzählt, sitzt sein Ehemann David* in der Parkanlage der Charité auf einer weißen Holzbank. Am Morgen hatte es in der Hauptstadt geregnet, nun kämpfen sich Sonnenfetzen zwischen den Wolken hervor. David und Mike sind seit 13 Jahren verheiratet. „Wie ich ihn wahrgenommen habe, bei unserem ersten Treffen?“, fragt David. Er macht eine Pause. „Extrem liebevoll. Warmherzig und total interessant. Eine treue Seele.“ David ist ein groß gewachsener Mann Ende zwanzig. Hebephil ist er nicht. Er wuchs wie Mike in Ostdeutschland auf. Zu seiner Homosexualität bekennt er sich schon als Jugendlicher – in der Schülerzeitung. Er bekommt dafür Anerkennung von seinen Mitschülern und Lehrern.
Kurz nachdem David mit Mike zusammengekommen ist, findet er Videos mit kinderpornografischen Inhalten auf Mikes Laptop. Mike hat schreckliche Angst, verlassen zu werden. David bleibt. Er verlangt, dass Mike seiner Familie von der Neigung erzählt und eine weitere Therapie macht. Mike sagt heute: „Das war der größte Liebesbeweis, den man mir machen konnte. Auf einmal habe ich gemerkt, dass ich doch nicht nur die Neigung bin. Dass ich trotzdem liebenswert bin.“
Das war der Punkt, an dem Mike das erste Mal anfing, über seine Neigung zu sprechen, der erste Tag eines langen Prozesses. Im Wartezimmer des Therapiezentrums fühlt Mike sich komisch. Er denkt: Jetzt bin ich also wirklich gestört. Wirklich das Monster, von dem alle reden. Bei diesen Gedanken setzt die Therapie an.
Die Therapie will vermitteln, dass niemand für seine Neigung verantwortlich ist – aber jeder lernen muss, mit ihr verantwortungsvoll zu leben.
Wenn David weg ist, sucht Mike heimlich Pornos
„Die Sexualpräferenz entsteht in einem Mischgeschehen aus biologischen Dispositionen und sozialisatorischen Prägungen, die auf der psychologischen Ebene zu einer jeweiligen Ausprägung führen“, erklärt Dr. Christoph Ahlers, Mitbegründer des Präventionsprojekts „Kein Täter werden“. „Bisher gibt es noch keine hinlängliche wissenschaftliche Erklärung dafür, wie genau Besonderheiten der Sexualpräferenz zustande kommen“. Das heißt aber nicht, dass man nicht in der Lage wäre, verantwortungsvoll damit umzugehen. Man kann lernen, sich zu kontrollieren.
Mikes Zustand bessert sich. Jeder Tag ohne Videos ist ein Erfolg. Er findet sein Selbstwertgefühl wieder. Um Mike zu helfen, kontrolliert David ihn. Sie schließen beispielsweise das „olle Modem weg“, wenn David nicht da ist, gehen nur gemeinsam ins Internet. Sie installieren eine Software, die die Seiten sperrt, auf denen Mike sonst seiner Neigung Futter gab.
Doch manchmal, wenn David das Haus verlässt, umgeht Mike die Sperrung. „Auf der einen Seite gab es den Mike, der keiner Fliege was zuleide tun könnte, den liebevollen Sohn und umsichtigen Ehemann. Auf der anderen Seite den Mike, der fürchterlich geweint hat, aus blanker Verzweiflung.“
Mike macht eine zweite Therapie. Er lernt, sich Hilfe zu suchen, wenn er spürt, dass er schwach wird. David sagt: „Dazu musste ich mich auch öffnen und sagen: Wenn was ist, komm zu mir.“
Seit vier Jahren schaut Mike keine Videos mehr. Wenn es ihn überkommt, wenn es wirklich nicht anders geht, nimmt er Bilder von Kindern am Strand zur Hand, von denen er weiß, dass niemand missbraucht wurde, als sie entstanden. Loswerden wird er die Neigung nie.
Am Abend bricht Mike aus dem Büro im Hinterhof auf. Vor dem Abschied sagt er: „Wenn ich merke, ich hab ein soziales Netz und Menschen, die mich lieben, dann kann ich die Neigung gut unterdrücken. Wenn ich das aber nicht hätte, dann weiß ich nicht, ob ich nicht wieder rückfällig würde.“
*Name geändert
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