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Christian Ude über Flüchtlingspolitik„Nochmal schaffen wir das nicht“

Muss Deutschland jeden Afrikaner aufnehmen, der vor Armut flieht? Nein, sagt der frühere SPD-Bürgermeister Münchens. Er wirft der Linken Unehrlichkeit vor.

Münchens Ex-Oberbürgermeister Christian Ude bei der Präsentation seines Buches. Foto: dpa
Ulrich Schulte
Interview von Ulrich Schulte

taz: Herr Ude, Sie nennen die Flüchtlingspolitik in Ihrem Buch eine „Jahrhundertherausforderung“. Ist das nicht etwas übertrieben?

Christian Ude:Die Bevölkerung in Afrika wächst schnell, viele Menschen leben in bitterster Armut. Der Anteil junger Menschen ohne Perspektive nimmt explosionsartig zu. Sie sehen Europas schöne Warenwelt im Fernsehen, die EU ist die Verheißung einer leuchtenden Zukunft. Diese Entwicklung wird uns überrollen, wenn wir sie ignorieren.

Die Flüchtlingspolitik hat das Land gespalten, trotzdem spielt sie im Wahlkampf keine Rolle. Wie erklären Sie sich das?

Eine Allparteienkoalition im Bundestag kehrt die Flüchtlingspolitik unter den Teppich. Konservative wie Linke gehen den schmerzhaften Fragen lieber aus dem Weg, weil sie ihren eigenen Antworten nicht trauen und die Reaktionen der Wähler fürchten. Dabei wird unser Umgang mit diesem Thema unser Leben in den kommenden Jahren prägen. Es treibt viele Leute zu Recht um und verunsichert sie.

Soll Merkel zugeben, dass sie mit Seehofer über kreuz liegt? Da wäre sie schön dumm.

Stimmt. Eigentlich kann man ja nicht CDU wählen, wenn man Seehofers Positionen teilt. Und nicht CSU, wenn man Merkels Kurs stützen will. Also Friede, Freude, Eierkuchen statt Klarheit und Wahrheit. Parteitaktisch ist das clever. Aber es ist der bewusste Versuch, den Menschen ein zentrales Problem der nächsten Legislaturperiode zu verschweigen. Wer sich solchen Fragen verweigert, höhlt den politischen Diskurs aus.

Sie sind seit den 60er Jahren Sozialdemokrat. Was stört Sie am Kurs der SPD?

Auch die SPD hat noch keine Antwort auf die entscheidende Frage gegeben: Wollen und können wir jeden Afrikaner, der in seiner Heimat aus verständlichen Gründen keine Zukunft sieht, in Europa – und das heißt de facto oft: in Deutschland – aufnehmen? Im Moment ist die Haltung vieler Funktionäre innerhalb und außerhalb der SPD: Wer Nein sagt, ist ein Rechter. Aber so blöd, Ja zu sagen, sind wir auch wieder nicht. Also lassen wir alles im Unklaren.

Im Interview: Christian Ude

Christian Ude, 69, trat im Jahr 1966 in die SPD ein und war 21 Jahre lang Oberbürgermeister von München. In seinem neuen Buch kritisiert er PolitikerInnen, die Alternativlosigkeit predigen - und fordert eine Rückkehr zur Sachpolitik (Knaus Verlag, "Die Alternative. Oder: Macht endlich Politik!"). Ude ist Vorsitzender der Äthiopienhilfe "Menschen für Menschen", die der Schauspieler Karlheinz Böhm gegründet hat.

Ist das so? Dass Flüchtlinge ohne Asylgrund abgeschoben werden müssen, bestreitet doch kein führender Sozialdemokrat.

In der gesamten Linken, auch in der kirchlichen Szene, auch in der SPD hört man bis heute: „Kein Mensch ist illegal“ oder „Bleiberecht für jeden“. Das klingt sympathisch, ist aber intellektuell unbefriedigend, weil nicht zur Kenntnis genommen wird, dass das deutsche und internationale Recht das Bleiberecht von Asylgründen, Kriegsflucht oder Abschiebungshindernissen abhängig macht. Eine Ausweitung auf alle ist niemals politisch beschlossen worden oder auch nicht vorstellbar. Solche Fragen müssen rational diskutiert werden können, ohne dass man gleich in die rechte Ecke geschoben wird.

Sie finden, dass Arme, die vor Verelendung geflohen sind, abgeschoben werden müssen?

In den nächsten Jahrzehnten entwickelt sich in Afrika ein Flüchtlingspotenzial von Hunderten Millionen Menschen. Die Lösung kann nicht heißen, dass wir alle in einer EU aufnehmen, in der alle Staaten außer Deutschland eine skeptische bis ablehnende Position vertreten. Schon die knappe Million des Jahres 2015 hat Deutschland nur schwer verkraftet. Alle, auch die Fluchthelfer, sagen: Noch mal schaffen wir das nicht.

Hunderte Millionen? Mit solchen Zahlen betreiben Sie Angstmache.

Das hat man vor den Rekordzahlen von 2015 auch gesagt – und ist widerlegt worden. Die Verdoppelung der afrikanischen Bevölkerungszahlen in den nächsten Jahrzehnten ist eine UN-Prognose. Der CSU-Entwicklungsminister sagt: Es ist unsere verdammte Pflicht, Milliarden in Afrika zu investieren. Um eine Infrastruktur aufzubauen, integrierte landwirtschaftliche Konzepte zu fördern, Ausbildungsangebote zu finanzieren. Für mich ist das schmerzlich, aber ich fühle mich Herrn Müller näher als manchen Träumern, die glauben wollen, die Aufnahme einiger Promille der zwei Milliarden Menschen in Armut auf dieser Erde sei eine moralisch überlegene Lösung.

Die CSU wirbt weiter für die Obergrenze für Flüchtlinge.

Die halte ich bei Asylbewerbern für verfassungswidrig und bei Kriegsflüchtlingen für völkerrechtswidrig. Bayerische Folklore fürs Bierzelt. Aber ein Marshallplan für Afrika könnte dort, vor allem im Norden des Kontinents, Zukunftschancen schaffen. Mit einer halben Milliarde Euro kann man bereits das Leben von sechs Millionen Menschen nachhaltig verbessern. Wenn Europa dies in großem Stil täte, wäre beiden Kontinenten geholfen.

Was würden Sie dem deutschen Diskurs über Flüchtlinge wünschen?

Mehr Ehrlichkeit, mehr Differenzierung, mehr Mut zu unbequemen Fragen. Den Moralisten würde ich raten, ihre Überheblichkeit abzulegen. Wir Deutschen wollten über Parteigrenzen hinweg lange Zeit das Flüchtlingsthema den überschuldeten Mittelmeerstaaten allein aufbürden und haben geschwiegen, als die Nahrungshilfen für Flüchtlingscamps halbiert wurden. Die Solidarität entdeckten wir erst, als sie uns entlasten sollte. Wir sind keine Heiligen, auch wenn wir uns gerne so fühlen. Schlimmer noch: Dass es hier wieder so ruhig ist, verdanken wir der Schließung der Balkanroute von Mazedonien bis Österreich. Wir müssen uns dafür nicht bedanken, aber zugeben sollten wir es schon.

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7 Kommentare

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  • Die ärmsten der Armen können gar nicht fliehen. Wer flieht sind diejenigen, die etwas haben, es aber durch politische Verfolgung oder wirtschaftliche Notlagen im Land zu verlieren drohen. Wer den ärmsten der Armen hilft, steigert zunächst einmal das Fluchtpotential, bevor es dann bei nachhaltiger wirtschaftlicher Besserung zurückgeht.

    Wir lehnen Nationalismus und Rassismus selbstverständlich ab. Gerade, weil in der Vergangenheit unsere Rasse und unsere Nation viel Leid über andere gebracht hat. Geht es dagegen um diejenigen Rassen und Nationen, die gelitten haben, wird Rassismus auf einmal positiv bewertet. Wer in Neuseeland Vorfahren hat, die Maori sind, ist nicht nur stolz darauf, sondern kann Privilegien in Anspruch nehmen. Bei dem vielen Leid, welches die Kolonialherrschaft über die Menschen gebracht hat, wird vor allem kritisiert, dass Grenzen jenseits von Stammesgrenzen gezogen wurden. Wir sagen damit im Endeffekt aber, dass ein Leben in einer multikulturellen Gesellschaft eine Belastung und eine Grenzziehung nach ethnischen Kriterien besser wäre. Wer dies in Bezug auf Ausländer in Deutschland sagt, gilt zu recht als Rassist.

    Wir müssen uns entscheiden: Beinhalten die Menschenrechte auch den Schutz einer ethnischen Gemeinschaft vor Dominierung durch Zuwanderer? Wer das für Tibet bejaht, kann es für Deutschland nicht verneinen. Wer es aber für Deutschland verneint kann auch die Chinesen (dafür) in Tibet nicht verurteilen.

    Herr Ude hat recht. Hohe Moralvorstellungen, denen wir uns aber in der Praxis verweigern, müssen wir thematisieren. Frau Merkel dagegen weist uns den bequemen Weg des "weiter so". Ihr Innenminister spielt den hässlichen Kampfhund. Damit Erdogan die Flüchtlinge mit brutalen Methoden abhält, hat sie seine Diktatur mit Milliarden und Stillhalten gefördert. Dafür kann sie erklären, dass sie alle aufnimmt. Das ist Verlogen und wir wissen das. Es ist uns aber egal - Hauptsache wir können uns als die Guten fühlen.

  • Lieber Christian Ude, Sie verbreiten, gepflegt ausgedrückt, sachfremdes Zeug. Die hundert Millionen Armutsmigranten aus Afrika sind ein Schreckgespenst. Von den Geflüchteten der letzten Jahre, von denen die allermeisten aus Syrien, dem Irak, Afghanistan, Iran und Eritrea kamen, wurde die Mehrzahl anerkannt. Die Armutsmigranten der letzten Jahre kamen von westlichen Balkan - und sind inzwischen fast alle wieder ausgereist. Oder sie sind Roma aus Rumänien und Bulgarien, beides EU-Länder, dann sind sie noch hier. Weniger als 100.000 Menschen haben es in diesem Jahr bislang übers Mittelmeer nach Italien geschafft. Ob die alle Afrikaner sind und dann auch noch Armutsflüchtlinge ohne Asylgrund, weiß ich nicht und Sie mit Sicherheit auch nicht. Und wie auch immer, sie fallen allesamt unter Dublin und müssen wieder zurück nach Italien, sollten sie in Bayern bei Ihnen aufschlagen.

    Herr Ude, ich habe den üblen Verdacht, Sie wollen mit Gruselmärchen vom bösen schwarzen Mann ihr Buch unters Volk bringen. Ich kann Sie nicht dran hindern, aber wären Sie wenigstens so anständig, einen Teil der Profite Ihren alten Freunden in Pülümür, Dersim,Osttürkei, zukommen zu lassen? Die haben es bitter nötig, besonders jetzt, wo das Erdogan-Regime den Terror gegen die Bevölkerung dort immer weiter intensiviert.

  • "Hunderte Millionen? Mit solchen Zahlen betreiben Sie Angstmache."

     

    Die Bevölkerung Afrikas wird sich nach besten Schätzungen bis 2045 verdoppeln und in den 30 Jahren danach nochmals verdoppeln - also in 60 Jahren das Kontinent von viermal so vielen Menschen bewohnt.

     

    Zur Erinnerung: zwischen 1800 und 1900 hat sich die Bevölkerung Europas verdoppel, was eine der Gründe für Massenauswanderungen des späten 19./frühen 20. Jh. war.

  • „Sie sehen Europas schöne Warenwelt im Fernsehen, die EU ist die Verheißung einer leuchtenden Zukunft. Diese Entwicklung wird uns überrollen, wenn wir sie ignorieren.“ Und „ Konservative wie Linke gehen den schmerzhaften Fragen lieber aus dem Weg, weil sie ihren eigenen Antworten nicht trauen und die Reaktionen der Wähler fürchten.“

     

    Hier spricht Christian Ude eine ungeschminkte Wahrheit aus. Doch keine Antwort auf die gesellschaftlich notwendigen Aufgaben in der Bundesrepublik!

     

    Die Wahrheit wäre: Es bedarf eine wirtschafts- und handelspolitischen Umwälzung in Europa im Umgang mit Afrika! Zugleich müsste die kapitalistische deutsche Wirtschaft einen angemessenen Preis für Rohstoffe und Bodenschätze aus Afrika an die entsprechenden Regionen und Nationen zahlen, aber nicht an die dortigen korrupten Eliten!

     

    Damit dürften jedoch die am Handelsgeschäft beteiligten bundesdeutschen Konzerne und deren Wirtschafts- und Monopolverbände nicht einverstanden sein! Beruht doch deren Weltmarktstellung, deren Auftragslage und internationale Nachfrage nach hochwertigen Produkten aus Deutschland, auch auf der kostengünstigen und billigen Ausbeutung der Rohstofflieferanten. Hierbei auch im uneingestandenen Raub-, Korruptions-, Hinterziehungs- und Ausbeutungsgeschäft mit den jeweiligen einheimischen wirtschaftlichen und politischen Eliten!

     

    Nicht nur die Sozialdemokratische Partei, auch die anderen bundesdeutschen Parteien, müssten sich schon im Umgang mit der deutschen Wirtschaft und deren auswärtigen Handelsbeziehungen nachhaltig revolutionieren. Um hier eine Veränderung und damit eine Überwindung der Flüchtlingsproblematik Afrikas herbeizuführen!

     

    Aber dazu wird es niemals kommen, die Kapitalinteressen haben für alle kapitalliberalen Parteien Vorrang, vor gerechten Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit Afrika!

    • @Reinhold Schramm:

      Wie würde Sie denn den "gerechten" oder "angemessenen" Preis für Rohstoffe ermitteln? Außer dass er zu hoch sei, kann man dem Kommentar dazu nichts entnehmen. In einer funktionierenden Wirtschaft wäre es Aufgabe der Rohstofflieferanten einen angemessenen Preis durchzusetzen. "Nachhaltige Revolution der Handelsbeziehungen" hört sich für mich nach undurchdachter kommunistischer Traumtänzerei an.

  • Ich finde Herr Ude hat völlig recht. Natürlich werden die Menschen in immer grösserer Zahl hierher flüchten (was ich schon Ende der 70iger Jahre vorraussah). Inzwischen verschärfend ist natürlich die EU-Handelspolitik eingetreten, die systematisch die Wirtschaft Afrkas zerstört hat (Textil, Geflügel u.a.)

    Ok, nicht nur Europas Handelspolitik ist Schuld, die ganze Weltwirtschaftsweise, die ja nicht nur in Afrika Industrien zerstört hat.

    Also was tun? Denn die Flüchtlingszahlen werden ja nicht nur in Afrika wachsen. Leider sind viel zu viele Menschen einfachen Lösungsvorschlägen (wie Mauern errichten, Ideologien oder Religionen anhängen und damit nur Konflikte und Kriege auslösend, alle zurückschicken usw,) zugänglich. Mit solcher Art Lösungen werden wir die Probleme der Menschen immer nur verschärfen. Und das geschieht ja gerade im großen Stil. Überall Fundamentalisten, die auf der einen Seite die Notwendigkeit sehen, per Gewalt und Terror die Welt zu ändern und alle Ungläubigen auszulöschen und auf der anderen Seite ebenso fundamentalistisch alle anderen auszusperren usw.

    Was wir brauchen ist eine Fülle von Marshallplänen!

  • "Wer Nein sagt, ist ein Rechter. Aber so blöd, Ja zu sagen, sind wir auch wieder nicht. Also lassen wir alles im Unklaren."

     

    Sehr gut auf den Punkt gebracht....