Kommentar Ergebnisse des G20-Gipfels: Chaos draußen, Chaos drinnen
Der G20-Gipfel war ein Fehlschlag. Hinter den Randalen verschwand das Wichtigste: wie die Staaten bei allen drängenden Themen versagen.
J ahrelang hatte sich A68 auf diesen Termin vorbereitet, dann kam er doch drei Tage zu spät. Wäre der gigantische Eisberg schon am letzten Wochenende vom Larsen-C-Eisfeld in der Antarktis abgebrochen, vielleicht hätte er die mediale Katastrophe des G20-Gipfels von Hamburg noch verhindert.
Denn seit einer Woche sind alle Zeitungen und Talkshows voll von den Randalierern, die im Schanzenviertel Feuer legten. Aber niemand spricht von der mageren Bilanz der Chaoten, die in der Elbphilharmonie Beethovens „Freude, schöner Götterfunken“ hörten.
„Philharmonie“ ist die Liebe zur Harmonie. Die aber fehlte nicht nur im Schanzen-, sondern auch im Chancenviertel: Die Staats- und Regierungschefs der G20 haben während ihres Treffens keinen einzigen Fortschritt dahin gehend erreicht, dass die Welt besser oder sicherer würde. Weder beim Klimaschutz noch bei der Armutsbekämpfung, noch der verbesserten Bildung, noch dem Kampf gegen Seuchen, noch der Gleichstellung von Frauen hat Hamburg wirklich Spuren hinterlassen.
In den Debatten über freien Handel, ein sicheres Weltfinanzsystem, die Bekämpfung der Steuerflucht oder des Terrorismus gab es nichts Neues. Da galt es schon als Fortschritt, dass es keinen Rückschritt gab.
Das ist nicht nur eine Bankrotterklärung der Politik. Sondern bei manchen Themen schlicht falsch. Sicher gibt es Bereiche, wo Beschlüsse der G20 zweitrangig sind. Aber bei anderen Themen hat Nichthandeln schwere Konsequenzen. Wer die akute Hungersnot in Ostafrika nicht jetzt bekämpft, verurteilt Hunderttausende von Menschen zum Tod.
Die entscheidenden Jahre für den Klimaschutz
Wer nicht sofort in Bildung und Gesundheit investiert, schafft in vielen Ländern die nächste verlorene Generation. Und wer nicht sofort drastische Maßnahmen gegen den Klimawandel beschließt, wird bald noch viele Eisberge wie A86 abbrechen sehen.
Da kommt US-Präsident Donald Trump genau zur falschen Zeit. Zehn Jahre früher oder später hätte er kaum großen Schaden anrichten können. Doch genau in seine Amtszeit bis 2020 fallen die entscheidenden Jahre des globalen Klimaschutzes: Jetzt müssen die weltweiten CO2-Emissionen ihren Höhepunkt erreichen und schnell fallen, jetzt müssen die Investitionen in saubere Technik beschlossen werden, jetzt müssen technische und finanzielle Hilfen für die armen Länder konkret werden.
All das müssen die G19 umso dringender umsetzen, je ignoranter und gefährlicher die Politik aus Washington wird. Aber dafür bräuchte es mehr als Freude über die Selbstverständlichkeit, dass das Pariser Abkommen zum Klimaschutz gilt.
Zur miesen Bilanz von Hamburg gehört auch die Randale. Diskussionen über die Gewalt von Autonomen und Polizei sind berechtigt, drängen aber eine ehrliche Gipfelbilanz völlig in den Hintergrund. Wer meint, mit Krawallen stoße er eine Debatte über globalen Kapitalismus, über Flüchtlingspolitik und Klimawandel an, handelt falsch und lebt in einer Traumwelt.
Die Riots sind systemstabilisierend
Die Wohlstands-Riots in Hamburg haben mit den dringend nötigen Veränderungen auf der Welt nichts zu tun. Im Gegenteil, sie verstellen den Blick darauf, was die G20 in Hamburg hätten tun müssen. Sie sind in diesem Sinne systemstabilisierend, nicht etwa Teil einer ersehnten Revolution.
Für echte Veränderungen braucht es kluge Köpfe, Kompromisse und breiten Widerstand der Zivilgesellschaft. Der simulierte Bürgerkrieg verhindert genau das. Die nötigen Revolutionen kommen nicht durch brennende Autos im Schanzenviertel, sondern durch technischen und sozialen Fortschritt in den Industrie- und Schwellenländern, durch saubere Technik, weniger Korruption, mehr Transparenz, bessere Bildung, Hilfe durch Kapital(!)flüsse.
An diesen Aufgaben ist der G20-Gipfel wieder einmal grandios gescheitert. Wer beklagt oder sich freut, dass „Hamburg brennt“, sollte nicht vergessen: Der Rest der Welt steht noch viel mehr in Flammen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“
Geschlechtsidentität im Gesetz
Esoterische Vorstellung
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod