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Der Abend der Anarchie

Ausschreitungen Am Freitagabend bauten Vermummte im Hamburger Schanzenviertel Barrikaden und legten Feuer. Die Polizei traute sich stundenlang nicht hinein. Was genau ist passiert? Und was sind die Folgen?

Feuer, Rauch und Steine: Freitagabend in der Schanze Foto: Miguel Ferraz

Aus Hamburg Gereon Asmuth, Jean-Philipp Baeck, Sebastian Erb, Patricia Hecht und Katharina Schipkowski

Was passierte am Freitagabend im Schanzenviertel?

Protestierende tobten sich im Schanzenviertel aus, während die Polizei sich mit Wasserwerfern am Rand des Viertels aufhielt. Feuer loderten, Scheiben gingen zu Bruch, Läden wurden geplündert. An der Kreuzung neben dem Autonomen Zen­trum Rote Flora tanzten Menschen um das Feuer. Viele standen herum und tranken Bier. Erst als das Konzert für die Staatsgäste in der Elbphilharmonie vorbei war, kam Verstärkung für die Polizei. Warnungen vor Spezialeinheiten machten die Runde, die Redaktionen zogen ihre JournalistInnen ab. Gegen Mitternacht rückten SEKs mit Sturmgewehren an.

Wer hat eigentlich im Schanzenviertel randaliert?

Hier muss man zwischen Freitag und Samstag unterscheiden: Am Freitag sprachen im Schanzenviertel viele der Vermummten, die vom Schulterblatt aus die Polizisten besonders heftig angriffen, Französisch und Ita­lie­nisch, viele aber auch Deutsch. Zahlreiche Autonome wirkten sehr jung.

Aus der Hamburger autonomen Szene heißt es, Autonome aus Italien, Spanien und Frankreich seien am Freitag angereist. Auch Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) sprach am Sonntag von „angereisten“ Gewalttätern. Von rund 190 Menschen, die festgenommen wurden, stammten etwa 130 aus Deutschland, 7 aus Italien und 8 aus Frankreich, über die weiteren konnte die Polizei nichts sagen. Den Vermummten im Schanzenviertel schlossen sich am Freitag immer wieder bunt gekleidete Menschen an, die Parolen gegen die Polizei grölten; viele tranken Bier oder Schnaps. In diese Menge zogen sich immer wieder Autonome zurück. Während sich die Polizei nicht ins Schanzenviertel traute, ­wurden Geschäfte geplündert. Daran waren vermutlich auch kleinkriminelle Trittbrettfahrer beteiligt.

Anders am Samstag: Im Schanzenviertel agierte vor allem eine Menge aus oft bunt gekleideten, teilweise angetrunkenen Jugendlichen. Auch Hooligans waren darunter. Vom Vortag hatte sich herumgesprochen, dass man hier Gewalt erleben könne.

Wie viele Poli­zis­tInnen und Demons­tran­tInnen wurden verletzt?

Seit dem 22. Juni bis zum Sonntag habe es insgesamt 476 verletzte Polizisten gegeben, sagte Gesamteinsatzleiter Hartmut Dudde. 186 Menschen seien vorläufig festgenommen und 225 in Gewahrsam genommen worden. Wie viele Polizisten schwer verletzt wurden, konnte die Polizei am Sonntag nichts sagen. Ein Beamter sei durch einen Feuerwerkskörper an den Augen verletzt worden, zwei Hubschrauberpiloten durch Laserpointer. Laut hessischer Polizei nahmen allein 130 Polizisten an eigenem Tränengas Schaden. Zu verletzten Demonstranten konnte die Polizei keine Angaben machen.

Was sagen die Anwohner?

Viele sind erschrocken über die Gewalt – obwohl sie Auseinandersetzungen mit der Polizei im Viertel und vor der Roten Flora durchaus gewöhnt sind. Gewalt als politisches Mittel ist im Schanzenviertel nicht generell bei allen verpönt. Am Freitagabend kamen einige Menschen über Stunden nicht nach Hause oder saßen fest. Vereinzelt versuchten Anwohner, die brennenden Barrikaden zu löschen – ohne Erfolg.

„So etwas habe ich hier noch nicht gesehen“, sagte eine ältere Frau, die am Samstagmorgen durch den Kiez spazierte. Seit 1967 wohne sie hier in dem Viertel, immer wieder habe es Ausschreitungen gegeben. Von dem, was am Freitag passierte, sei sie allerdings ­schockiert. Die Straße sei voller Menschen in Schwarz gewesen. Die hätten ein Straßenschild rausgerissen. „Ich hatte Angst, dass die jetzt los­ziehen und alle Fenster einschmeißen. Polizei war nicht da.“

Am Samstag fingen viele Anwohner engagiert an, wieder aufzuräumen. Und am Abend schritten sie ein: Es kam zu einzelnen Schlägereien mit vermummten Autonomen. Die Polizei bat über Twitter, nicht einzugreifen, sondern dies den Beamten zu überlassen. Am Abend gossen Anwohner Wasser aus Eimern auf die Herumstehenden.

Es gab auch Solidarität mit den Randalierern. Ein Augenzeuge berichtet davon, wie eine Anwohnerin rund 20 Autonome aus verschiedenen Ländern am Freitag in ihre Wohnung bat, wo sie gemeinsam auf den „politischen Erfolg“ anstießen.

Und wie reagiertdie linke Szene?

Eine steile mediale Karriere hat mit einem Zitat zu den Krawallen Andreas Beuth hingelegt, Anwalt der Roten Flora. Er hatte vor laufenden Kameras gesagt: „Wir als Autonome und ich als Sprecher der Autonomen haben gewisse Sympathien für solche Aktionen, aber bitte doch nicht im eigenen Viertel, wo wir wohnen. Also warum nicht irgendwie in Pöseldorf oder Blankenese?“ Damit schaffte er es unter anderem auf das Cover der Welt am Sonntag. Ansonsten jedoch distanzierten sich viele aus der Szene deutlicher von den Aktionen. „Wir sagen immer, dass die bewusste Regelübertretung Teil autonomer Politik sein muss“, sagte Flora-Sprecher An­dreas Blechschmidt. „Aber wir sagen auch, es gibt Kriterien dafür und auch rote Linien. Die Art und Weise, wie hier agiert worden ist, hat aus unserer Sicht diese rote Linie überschritten.“ Die Rote Flora sei an Gewalttaten nicht beteiligt gewesen.

Sowohl Beuth als auch Blechschmidt betonten aber auch die Rolle der Polizei bei den Gewaltausbrüchen. Das Nulltoleranzkonzept der Polizei gegenüber den Gipfelgegnern habe sicher beigetragen, es der Polizei heimzahlen zu wollen, so Blechschmidt. „Das ist aber keine Rechtfertigung dafür, wahllos Geschäfte anzugehen.“

Von der ­Interventionistischen Linken (IL), die im Vorfeld vor allem zu den Aktionen zivilen Ungehorsams aufgerufen hatte, war seit Freitagnacht keine Stellungnahme mehr zu bekommen. Während der Mobilisierung hatte sich die IL zwar auf die Formulierung „Von uns geht keine Gewalt aus“ geeinigt – zugleich aber auch betont, sich von anderen Aktionen nicht zu distanzieren.

Warum wurden Spezial­kräfte eingesetzt?

Der Einsatz der Spezialkräfte am Freitag sei nötig gewesen, weil die Polizei Hinweise auf einen Hinterhalt vom Dach aus gehabt habe. Von einem Haus, an dem sich ein Baugerüst befand, sei sie mit Stahlkugeln aus Zwillen beschossen worden.

Ein Video, das Einsatz­leiter Dudde am Sonntag Journalisten vorführte, zeigte Bilder aus einer Wärme­bild­kamera, auf denen laut Dudde zu sehen ist, wie ein Demonstrant einen Molotowcocktail auf einen Wasserwerfer wirft. Um auf dem Dach einzugreifen, seien Spe­zialkräfte angefordert worden, die eigentlich zur Terrorabwehr und zum Schutz der Gipfelgäste eingeteilt waren.

Dazu, dass auch Samstagnacht Spezialkräfte mit Sturmgewehren auf einer Kreuzung standen, sagte Dudde, diese hätten wegen der Ereignisse des Vortags bereitgestanden. Und: Bei einem solchen Ausmaß von Gewalt müsse man sich auch künftig auf den Einsatz von Spezialkräften einstellen.

Bereut die Politik, G20 nach Hamburg geholt zu haben?

Offiziell nicht. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die sich vom Gipfel schöne Bilder im Wahljahr erhofft hatte, kommentierte die Wahl des Ortes im Nachhinein nicht öffentlich. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte am Sonntag in Hamburg: „Wir müssen uns als Demokraten überlegen, ob wir uns wirklich von einigen Gewaltbereiten vorschreiben lassen, ob, wo und mit wem solche Konferenzen stattfinden.“ Ein demokratisch gefestigtes Land wie Deutschland müsse das Selbstbewusstsein haben und derartige Konferenzen ausrichten.

Bürgermeister Olaf Scholz (SPD), der die Entscheidung für Hamburg vor dem Gipfel monatelang verteidigt hatte („In Hamburg haben wir Erfahrungen mit Demonstratio­nen“), äußerte sich nur noch indirekt zum Standort, indem er den „heldenhaften“ Polizeieinsatz verteidigte. Zwar finde er es „bedrückend“ und er sei auch „erschrocken“ darüber, dass er sein den Bürgern gegebenes Sicherheitsversprechen nicht gehalten habe. Dennoch sei „alles gut vorbereitet“ gewesen und die Polizei habe alles getan, was man tun könne.

Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) und SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz plädierten für eine Verlegung künftiger G20-Gipfel zu den Vereinten Nationen in New York. Dabei gehe es allerdings nicht um Kritik am Veranstaltungsort, hieß es – „sondern um den Versuch, die G20 wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen“. Schon jetzt ist klar: Die Gewalt in Hamburg wird im Bundestagswahlkampf Thema sein.

Wer muss jetzt ­zurücktreten?

Wahrscheinlich niemand. Falls es aber doch ein Bauernopfer gibt, wird vermutlich Innensenator Andy Grote (SPD) herhalten müssen. Er hat kaum Rückhalt in seiner Partei. Der Senator, der auf St. Pauli wohnt, gilt als szenenah und war zumindest bislang auch unter Linken für einen Innensenator verhältnismäßig beliebt. Die Linksfraktion hatte schon am Montag Grotes Rücktritt gefordert. Der Polizeigewerkschafter Rainer Wendt forderte am Sonntag ­Grotes Rücktritt. Aus Ko­ali­tions­kreisen sind noch keine solchen Forderungen zu hören. Und die an der Regierung beteiligten Grünen fallen in Gipfelangelegenheiten ohnehin vor allem durch Schweigen auf.

Welche Rolle spielten ­Schaulustige?

Viele, die an den Abenden vor und während des Gipfels auf Hamburgs Straßen mit der Polizei konfrontiert waren, hatten kein Interesse, selbst zu randalieren. Mit anderen Worten: Es wimmelte vor Schaulustigen. Das ist in einem Wohnviertel nicht verwunderlich. Sowohl bei der autonomen „Welcome to Hell“-Demo als auch bei den Ausschreitungen im Schanzenviertel standen Tausende am Rand, beobachteten das Geschehen, fotografierten und filmten mit ihren Smartphones, tranken Bier, liefen ab und zu vor der Polizei weg, um sich dann wieder dem Ort des Geschehens zu nähern und auch mal die ein oder andere Parole mitzurufen.

Der Polizei ging das gegen den Strich. „Entfernen Sie sich vom Geschehen!“, forderte sie das Publikum immer wieder per Lautsprecher auf. Und nachdem die meisten den Anweisungen keine Folge leisteten: „Ab jetzt gibt es keine Unbeteiligten mehr. Wer sich in diesem Bereich aufhält, kann unmittelbar von Zwangsmaßnahmen betroffen werden.“

Wie frei konnten ­Journalisten berichten?

Mehreren akkreditierten Journalisten wurde der Presseausweis aus der Hand geschlagen, manche wurden geboxt oder getreten oder einfach nicht durchgelassen. Einigen Berichterstat­tern wurde am Freitag ihre offizielle Akkreditierung entzogen, als sie das Medienzentrum betreten wollten, darunter auch zwei Journalisten, die auch für die taz arbeiten. Manchen wurde gar keine Begründung genannt, andere bekamen nur pauschal zu hören, es gebe „sicherheitsrelevante Erkenntnisse“. Alle Akkreditierten waren vorab sicherheitsüberprüft worden. Die schwarze Liste von Journalisten, mit der Polizisten vor dem Medienzentrum die Namen abglichen, war anderthalb Seiten lang. Die Journalistengewerkschaft DJU spricht von knapp 10 bekannten Fällen, sie plant nun, mit den Betroffenen vor das Verwaltungsgericht Berlin zu ziehen.

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