: 24 Stunden Hamburg
Proteste Noch bevor die Staatschefs kommen, eskaliert die Lage in der Stadt. Was ist passiert? Ein Tag im Kampf um die Bilder des Gipfels
Aus Hamburg Jean-Philipp Baeck, Malene Gürgen, Christian Jakob, Muriel Kalisch, Martin Kaul und Katharina Schipkowski
Fischmarkt St. Pauli, Donnerstag, 16 Uhr
Martialischer geht es kaum. „Welcome to Hell“ haben die Autonomen ihre Demo getauft. Die Hölle wollen sie an diesem Abend den Mächtigen bereiten, schließlich seien die es, die das Dasein auf Erden so vielen anderen zur Hölle machen. „Einen der größten schwarzen Blöcke, die es jemals gegeben hat“, kündigte Szeneanwalt Andreas Beuth an. Der Ton ist gesetzt.
Die Hafenkulisse am Fischmarkt füllt sich am Nachmittag mit Tausenden, die sehen wollen, was daraus wird, und Hunderten, die trotz strahlenden Sonnenscheins mit eng gerafften schwarzen Kapuzen aufmarschieren.
„Zeckenrapper“ Johnny Mauser rappt, es herrscht Open-Air Stimmung, nur langsam formiert sich der schwarze Block, hinter ihm gut und gern 10.000 Demonstranten. Sie kommen keinen Meter weit: Dreimal fordert die Polizei die ersten Reihen auf, ihre Vermummung abzunehmen. Ein paar leisten dem Folge, andere nicht.
Die Straße ist hier eine hunderte Meter lange enge Gasse zwischen Hafenboulevard und Hauswänden. Die Masse steckt darin fest. Der Polizei ist das egal: In die Mitte des Zuges stoßen Knüppeltrupps vor, von vorn die Wasserwerfer. Bei einer Massenpanik hätte es hier Tote geben können. Die Menschen rennen auseinander. Steine fliegen, Flaschen, Böller krachen; Pfefferspray und Wasser kommen zurück, Verletzte liegen am Boden. „Die von uns befürchtete Eskalation der Polizei ist genau so umgesetzt worden“, sagt Andreas Blechschmidt, Sprecher der Roten Flora. Polizisten aus Berlin seien von der Seite in die Demonstration eingedrungen, um „eine Reaktion zu provozieren“, sagt er.
Die Polizei sagt, sie habe lediglich versucht, den „schwarzen Block“ der Linksautonomen von den friedlichen Demonstranten zu trennen – dann hätte die Kundgebung fortgesetzt werden können.
Schanzenviertel, Donnerstag, 23 Uhr
Stundenlang ziehen kleine und große Gruppen von Gipfelgegnern durch St. Pauli, meist planlos, manchmal verfolgt von der Polizei. Versuche, einen neuen Demozug zu bilden, scheitern. Gegen 22 Uhr meldet ein Linken-Politiker die „Welcome to Hell“-Demo erneut an. Tausende sammeln sich auf der Max-Brauer-Allee. Diesmal immerhin kommen sie zwei Kilometer weit. Dann preschen Wasserwerfer vor und treiben die Demonstranten auseinander.Mittendrin steht die Linken-Bürgerschaftsabgeordnete Christiane Schneider, eine ältere Dame mit gelber Warnweste. Sie läuft zwischen Festnahmeeinheiten und Autonomen hin und her, will vermitteln, damit es irgendwie weitergeht. Es nützt nichts. Knüppeltrupps rennen in die Menge. „Das ist doch Scheiße“, sagt Schneider dann, wenige Meter neben dem Strahl des Wasserwerfers. „Ich weiß auch nicht, was ich dazu noch sagen soll“, sagt sie und seufzt.
Ein paar Minuten später. Die Menschen sind in unterschiedliche Richtungen gelaufen. Da kommen eine Prinzessin um die Ecke , und ein Prinz. Sie trägt ein rosafarbenes Kleidchen, er ein goldenes Jäckchen. Sie tänzeln vorbei, einmal entlang der Wasserwerfer und einmal über den Platz, verwunschen wie im Film. So als seien sie die letzten Protagonisten der Liebe. Sie lächeln alle an und verteilen Umarmungen. Hamburg, sagt er, müsse doch nicht so hässlich sein.
Elbchaussee, Altona, Freitag, 7.30 Uhr
Doch hässliche Szenen gibt es schon wenige Stunden später. Und die kriegen viele zu sehen: 30 schwarz vermummte Gestalten marschieren über die Elbchaussee. Sie wollen sich, das ist offensichtlich, für den Vorabend rächen. Sie schlagen Fensterscheiben ein und stecken rund 30 Autos in Brand. Bei etwa 10 davon hält ein Anwohner von oben die Kamera drauf. Kurz darauf stehen gleich mehrere Kopien des Videos auf YouTube. Einer der Clips kommt bis zum Mittag auf 130.000 Klicks. Andere Anwohner posten die Bilder ihrer Autowracks auf Twitter und sprechen von „bürgerkriegsartigen Zuständen“.
Den ganzen Tag werden in Hamburg weiter Autos angezündet.
Sind das die Bilder, die alles ändern?
Außenalster, Uhlenhorst, 8 Uhr
Über die Jahre hat die Interventionistische Linke eine Greenpeace-hafte Professionalität bei Massenblockaden entwickelt. Seit Monaten war die Gruppe durch die linken Zentren der Republik getourt. Nach Hamburg, fahren, sich den Herrschern der Welt in den Weg stellen, hatten sie empfohlen. „Color the Red Zone“ hieß das Ganze, designmäßig gebrandet und Social-Media-flankiert wie aus Agenturhand.
Kurz vor dem Gipfel durfte Sprecherin Emily Laquer zur besten Sendezeit im ZDF Ex-Innenminister Otto Schily – „Lassen Sie mich ausreden“ – darüber aufklären, warum Sitzblockaden die beste Antwort auf das Unwesen der G20 sind. Jetzt sitzen die 300 Demonstranten des „roten Fingers“ auf der Straße Schwanenwik, links die Alster, rundherum Polizei und Kamerateams, über ihnen Hubschrauber. Schwanenwik ist nicht irgendeine der vielen sogenannten Protokollstrecken: Zehn Minuten Fußweg von hier liegt das Gästehaus des Senats, aus dem in diesen Minuten kein Geringerer als US-Präsident Donald Trump in seiner Kolonne zum Gipfelort aufbrechen soll.
Eine Blockade auf Trumps Route – genau dieses Szenario hatte die Innenbehörde als Worst Case benannt. Der „Ernstfall“ sei dies, hatte Innensenator Andy Grote (SPD) gesagt, „auch wenn es sich nur um eine harmlose Demo handelt“. Die Präsidenten-Bodyguards verstünden „bei so was keinen Spaß“.
Über der Blockade kreisen Hubschrauber, fast 30 Minuten trotzen die Gipfelgegner dem Strahl des Wasserwerfers. Dann tragen bayerische Polizisten sie zur Seite und kesseln sie ein. Um 9.34 Uhr ist die Route wieder frei. Der Secret Service traut der Sache nicht: Trumps Kolonne fährt einen Umweg von fast drei Kilometern, nördlich um die Außenalster herum. Um 10 Uhr sollte der Gipfel beginnen, um 10.35 ist Trump immer noch nicht da.
Schlump, Eimsbüttel, 10 Uhr
Die anderen „Finger“, nach ihren Farben benannte Blockadezüge, haben weniger Erfolg. 1.000 tintenblaue Gipfelgegner sind im Morgengrauen von ihrem Zeltlager im Altonaer Volkspark aufgebrochen, einige Hundert grasgrün Gekleidete sammeln sich am U-Bahnhof Berliner Tor, nicht weit vom Kempinski Atlantic Hotel, in dem Angela Merkel und Justin Trudeau genächtigt haben. Die Polizei kesselt sie ein und lässt sie wieder ziehen, am Ende landen sie auf einer Kreuzung namens Schlump, nur 500 Meter entfernt von den Messehallen – dem Tagungsort des Gipfels, eingenässt von Wasserwerfern, aber am Ziel. Auf dem Weg haben sie noch kurz die Kolonne von Indiens Premierminister Narendra Modi aufgehalten.
An den Landungsbrücken in St. Pauli, sonst Ablegestelle für die Elbausflugsbarkassen auf ihrem Weg durch den Hafen, treffen sich am Morgen die lila gewandeten Genossen, in den Händen aufgeblasene Gummitiere und lila Flaggen. Eine Sambaband trommelt, ein DJ legt Gassenhauer aus den 80er Jahren auf, aus Bollerwagen gibt es Lunchpakete. Die Polizei würzt nach: Nach zweihundert Metern stellt sie sich in den Weg, sprüht Pfefferlösung aus großen schwarzen Kartuschen in Demonstrantengesichter. Die in Lila flüchten in den Alten Elbpark, die, die dort wieder herauskommen, machen schnell erneut mit dem Wasserwerfer Bekanntschaft.
In den nächsten Stunden ziehen sie in kleineren Gruppen durch die Innenstadt – wo die Innenbehörde alle Demonstrationen verboten hat. „Gewalt kommt immer von denselben: schwarzer Block mit schwarzen Helmen“, rufen sie, und die Polizei knüppelt. Am Ballindamm wird eine Person am Kopf getroffen, sie liegt blutend am Boden. Gipfelgegner umringen sie, legen eine Rettungsdecke über ihren Körper, die Polizei treibt derweil die anderen Protestierenden in eine Seitenstraße.
Autobahn Berlin–Hamburg, Freitag
Die Lage sei nun „völlig eskaliert“ vermeldet die Welt und zitiert einen Polizeisprecher: „Wir können nur hoffen, dass sich die Gerüchte in Luft auflösen, wonach internationale Linksextremisten parallel die Hauptstadt angreifen wollen.“ Dessen Social-Media-Team dementiert derweil auf Twitter, dass die Bundeswehr jetzt hinzugezogen werde.
Rund 20.000 Polizisten waren zunächst zur Sicherung des Gipfels eingeplant worden. Die reichen offenbar nicht mehr: Hundertschaften aus dem gesamten Bundesgebiet sind unterwegs, allein zwei aus Berlin. Der taz sagt eine Sprecherin, dass viele der Polizisten die ganze Nacht im Einsatz gewesen seien. Der Einsatz nach der „Welcome to Hell“-Demo habe viel länger gedauert als erwartet. Obwohl die Eskalation absehbar war, habe die Polizei zunächst nicht mehr Beamte angefordert. „Wir wollten nicht vorab das gesamte Bundesgebiet in Hamburg versammeln.“
Köhlbrandbrücke, Steinwerder, 10 Uhr
Die G20-Präsidenten als Verkörperung des Übels der Welt – einigen Hundert Demonstranten ist dies zu einfach. Statt sich an den Präsidenten abzuarbeiten, nehmen sie, wie es sich für theoriegestählte Jungkommunisten gehört, lieber die „Logistik des Kapitals“ ins Visier: Das „… ums Ganze!“-Bündnis ruft für den Freitagmorgen zur Stilllegung des Hamburger Hafens auf, statt sich in vulgärmarxistischer Gipfelstürmerlogik auf die „Charaktermasken“ des Kapitals zu stürzen.
Dass Systemkritik einem viel Geduld abverlangt, weiß jeder aus dem Marx-Lesekreis. So auch jetzt: Den ganzen Vormittag ziehen insgesamt rund 1.000 DemonstrantInnen vom S-Bahnhof Veddel bis zum Fuß der Köhlbrandbrücke. Rihanna läuft als Begleitmusik, es gibt Milchreis für die Picknickpause. So friedlich bleibt es bis zum Schluss – trotz der anhaltenden Begleitung durch die Polizei.
Die wichtige Verkehrsachse ist gesperrt, zahlreiche Lkws mit Containern stauen sich. Der Hafen ist tatsächlich dicht. Abgesehen vom Stau verläuft der Ablauf auf seinen Terminals reibungslos, heißt es von dem Unternehmen HHLA, der Lagerhausgesellschaft, die drei der vier Hamburger Containerterminals betreibt.
Erst gegen 11 Uhr erblicken die DemonstrantInnen erstmals echte Hafenarbeiter, da geht es schon durch Wilhelmsburg zurück zur S-Bahn-Station. Hier, in dem alternativen Stadtteil, freuen sich viele AnwohnerInnen über die Parolen – gegen Staat, Nation und Kapital. Die Demo-Route führt entlang der Deiche und Güterverkehrsschienen durch das ziemlich leere Industriegebiet. Die Fotografen freuen sich: die Kräne, die Container, das echte Hamburg. Viele DemonstrantInnen erkundigen sich, wie es eigentlich nördlich der Elbe so aussieht – hinter der Silhouette der Hafenkräne kreisen seit einiger Zeit schon die Polizeihubschrauber über dem Stadtgebiet. Nach Ende des Marsches gegen Mittag zieht es viele dann auch dorthin.
Innenbehörde, 15 Uhr
Die Zahl der bei den G20-Protesten in Hamburg verletzten Polizisten ist auf 159 gestiegen, sagt Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) in einer Zwischenbilanz. Die Einsatzkräfte nahmen 45 Menschen fest, 15 weitere kamen in Gewahrsam. Die Zahl der verletzten DemonstrantInnen ist bislang unbekannt.
Millerntor, St. Pauli, 16 Uhr
Es geht jetzt um die Musik, den Sound, der diesen G20-Gipfel im Laufe des Abends begleiten wird. Am Millerntorplatz, in Sichtweite des Fußballstadions des FC St. Pauli, wo an Wochenenden Fußballfans die Schlachtrufe der Zweiten Fußballbundesliga brüllen, kommen gerade acht Glitzer-Einhörnchen an. Es sind Frauen mit silbernen Plastikhörnern auf dem Kopf. Sie tragen pinkrosa Röcke und lila Masken und haben Trommeln dabei, und jetzt geben sie den Rhythmus für die nächste Welle des Protests an. Einige Tausend GipfelgegnerInnen stehen um sie herum, und ihr Ziel heißt Elbphilharmonie.
Dort sollen am Abend die G20-Staatschefs die imposante Architektur bestaunen und die Akustik genießen. Und diejenigen, die hier am Millerntorplatz stehen, wollen das verhindern. Sie wollen zur Elbphilharmonie und dort die Zufahrtswege blockieren. Eine Weile trommeln die Einhörnchen hier noch, dann wird ihr Rhythmus abgelöst. Tausende klatschen nun in strengem Takt und rufen die Schlachtrufe der antikapitalistischen Bewegung.
Der Abend wird zeigen, welcher Rhythmus sich durchsetzt. In der Elbphilharmonie will das Staatsorchester Hamburg unter Kent Nagano Beethovens Neunte geben. Die Sinfonie in d-Moll op. 125 wurde 1824 uraufgeführt. Als Text wählte Beethoven Schillers Gedicht „An die Freude“.
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