Kampf gegen den IS im Irak: Wo neuer Hass gesät wird
Vor drei Jahren rief IS-Chef al-Baghdadi das Kalifat aus. Nun ist seine Hochburg Mossul bitter umkämpft – der IS beinah besiegt. Doch es lauern neue Gefahren.
Von Mossul aus haben sie 2014 ihren Siegeszug angetreten. Am Dienstag jährte sich zum dritten Mal der Tag, an dem Baghdadi in der Nuri-Moschee in der Altstadt seinen großen Auftritt hatte: als frisch gebackener Kalif, selbsternanntes Oberhaupt und Anführer der Muslime in der ganzen Welt.
Mit langem, grauen Rauschebart, in schwarze Robe und Turban gehüllt, eine teure Uhr am rechten Handgelenk, rief er damals die Muslime zum Dschihad auf. Fünf Tage zuvor hatte der Sprecher der Extremisten, Abu Mohammed al-Adnani, die Welt wissen lassen, die von ihnen eroberten Gebiete im Irak und Syrien seien nun ein Kalifat, ein islamischer Staat.
Adnani, ein Syrer, wurde im August letzten Jahres durch einen Luftangriff der Amerikaner getötet. Baghdadi, ein Iraker, ließ sich seit seinem Auftauchen in der Nuri-Moschee nicht mehr in der Öffentlichkeit blicken. Zuletzt meldete er sich Anfang November zu Wort, kurz nach dem Beginn der Offensive auf Mossul.
In einer vom IS-Radio ausgestrahlten Rede rief er seine Anhänger auf, bis zum bitteren Ende um Mossul zu kämpfen, im Krieg gegen die Schiiten und das syrische Regime standhaft zu bleiben– und den Krieg nach Saudi-Arabien, in die Türkei und in andere Länder zu tragen.
Lebt ihr Chef? Und wo?
Ob der meistgesuchte Terrorist der Welt noch lebt, ist unklar. Sowohl die Russen wie das syrische Regime haben behauptet, sie hätten ihn getötet. Die Amerikaner, die ein Kopfgeld von 25 Millionen Dollar auf Baghdadi ausgesetzt haben – und ihn früher auch schon für tot erklärt hatten – glauben, dass er im irakisch-syrischen Grenzgebiet untergetaucht ist.
Ob tot oder lebendig, mit seinem Kalifat ist Baghdadi gescheitert. Vom Irak bis Syrien brachte der IS damals ein riesiges Gebiet unter seine Kontrolle; vielerorts schworen Extremisten „Kalif Ibrahim“, wie sich Baghdadi nun nannte, die Gefolgschaft und gründeten ihre eigenen Provinzen. Die Verheißung eines islamischen Staats lockte Zehntausende in das Kalifat. Viele, auch aus Europa, fanden die Brutalität mit Kopfabschneiden und Massenhinrichtungen nicht abstoßend, sondern cool.
Seit Beginn des Kriegs gegen den IS hat dieser knapp Zweidrittel seines „Staats“ im Irak und Syrien verloren. Seine syrische Hauptstadt Rakka ist inzwischen komplett von den von Kurden angeführten Syrian Democratic Forces umstellt. Diese meldeten am Dienstag, sie seien in die historische Altstadt vorgedrungen. Zuvor hatten irakische Eliteeinheiten das Quartier um die Nuri-Moschee in Mossul eingenommen. Iraks Regierungschef Haider al-Abadi erklärte den IS daraufhin für besiegt. Die Moschee ist freilich zerstört, von ihrem berühmten Hadba-Minarett steht nur noch der Sockel. Die Extremisten haben das Wahrzeichen in die Luft gesprengt und den Irakern ein weiteres Stück ihres reichen Kulturerbes geraubt. Sie brachten die irakischen Truppen aber auch um einen symbolischen Triumph.
Der IS ist keineswegs besiegt
So wichtig die Einnahme von Mossul ist, so wenig wird sie das Schicksal des IS besiegeln. Noch immer kontrollieren sie rund 40 Prozent ihres einstigen Kalifats. Im Irak sind das wichtige Gebiete westlich von Mossul, die Region Hawijah nahe der Erdölstadt Mossul und die Gegend um Kaim an der irakisch-syrischen Grenze.
Von dort erstreckt sich ihre Herrschaft über einen Großteil der syrischen Provinz Deir al-Sor, in der die Stadt Madayin liegt, in die sich ein Teil der Führungsriege abgesetzt hat. Zudem kontrollieren sie außer Rakka noch Gegenden um das historische Palmyra.
Es wird noch viele Monate dauern, bis es gelingt, den IS in all diesen Gebieten zu schlagen. Dabei zeigt der bisherige Krieg, dass der IS über eine Truppe verfügt, die bis zum Letzten kämpft. Allein, dass die Extremisten der Übermacht in Mossul so lange standhalten konnten, zeigt wie viel Kampferfahrung sie inzwischen haben. An dem Großangriff, der am 17. Oktober 2016 begann, sind Zehntausende von Soldaten und Mitglieder der paramilitärischen Polizei beteiligt. Elitesoldaten der von den Amerikanern angeführten Anti-IS-Koalition machen gezielt Jagd auf westliche Dschihadisten und IS-Führer. Und die Amerikaner und ihre Verbündeten fliegen Luftangriffe im Dauereinsatz. Der Krieg hat Tausende von Toten gefordert. Dabei wurden viele Zivilisten nicht Opfer von Morden des IS – am Montag wurden im Stadtteil Zinjili 50 Leichen entdeckt –, sondern des Artilleriebeschusses der IS-Gegner und der US-Luftangriffe.
Die britische Organisation Airwars schätzt, dass durch die Luft- und Artillerieangriffe 900 bis 1.200 Zivilisten getötet wurden. Ärzte an der Front und Hilfsorganisationen berichten, dass die Zahl der Toten und Verletzten zuletzt dramatisch zugenommen hat.
Dabei ist der IS zu einer neuen Taktik übergegangen: Er setzt Selbstmordattentäterinnen ein. Baghdadi hatte diese lange Zeit verboten, doch jetzt seien die meisten Selbstmordattentäter Frauen, sagt ein Oberstleutnant der Antiterroreinheit. Mindestens drei waren nach Angaben der Eliteeinheit noch im Mädchenalter, gerade einmal 12, 14 und 15 Jahre alt.
Selbst wenn die Schlachten um Mossul, Rakka und anderswo geschlagen sind, werden die Extremisten noch lange gefährlich bleiben. Im Gegensatz zu al-Qaida im Irak, aus der der IS hervorging, ist er heute eine international operierende Terrororganisation. Außer in Europa haben der IS oder Gruppierungen, die mit ihm verbündet sind, in diesem Jahr Anschläge in der Türkei, Ägypten, Afghanistan, Pakistan, Indien, Bangladesch und den Philippinen verübt. Trotz seiner Verluste auf dem Schlachtfeld habe der IS eine neue Schlagkraft erreicht, sagte Manuel Navarrette, Chef des European Counter Terrorism Centre kürzlich. Der IS könne jederzeit fast jedes Ziel angreifen.
Die Gefahr der Rache
Ohne eigenen „Staat“ werden sie im Irak dort weitermachen, wo ihre Vorgängerorganisation vor 14 Jahren begonnen hat: mit klassischem Terror. Das zeigen die Anschläge, die sie in den letzten Monaten verübt haben.
Das gleiche droht auch Syrien. Laut einer Studie der amerikanischen Militärakademie Westpoint haben die Extremisten in 16 Städten, die in den beiden Ländern „befreit“ wurden, fast 1.500 Anschläge und Angriffe mit Artillerie oder anderen Waffen verübt. Der militärische Sieg über den IS sei ein erster wichtiger Schritt, er reiche aber nicht, schreiben die Autoren der vergangene Woche veröffentlichten Studie. Um zu verhindern, dass der IS oder eine andere Terrororganisation, die aus ihm hervorgehen könnte, erneut erstarkt, müsse in den zurückeroberten Gebieten für Sicherheit gesorgt werden, der Wiederaufbau vorankommen und es brauche eine funktionierende Verwaltung.
Aber genau daran hapert es. In der Gegend um Rakka fehlen selbst Lebensmittel, um Zehntausende von Vertriebenen zu versorgen. Um der Not zu begegnen, hätten die Amerikaner 50 Tonnen Mehl und Lebensmittel in die Region gebracht, berichtete die New York Times. Im Irak liegen Städte wie Ramadi und Falludscha, aus denen der IS schon vor mehr als einem Jahr vertrieben wurde, immer noch in Trümmern.
Die Altstadt von Mossul ist weitgehend zerstört. Unter den Ruinen verwesen die Leichen von IS-Kämpfern, aber auch von Zivilisten. Mehr als die Hälfte der einst rund zwei Millionen Einwohner der Stadt wurden durch den Krieg vertrieben. Neben den vielen alten Konflikten, die durch den Krieg gegen die Extremisten nur überdeckt wurden, zeichnen sich bereits neue ab. Hunderten von Familien, aus deren Reihen Männer aufseiten des IS gekämpft haben, werden von IS-Gegnern bedroht. In einigen Gegenden verweigern Stämme ihnen die Rückkehr, in Mossul erklärte sie der Provinzrat zu unerwünschten Personen. Oft werden ihre Familien bedroht und aufgefordert, sofort zu verschwinden.
Das Verlangen nach Bestrafung der Täter ist verständlich. Aber derlei Kollektivstrafen schüren den Unmut und Hass. Genau darauf sind der IS und die irakische al-Qaida in der Vergangenheit gediehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Foltergefängnisse in Syrien
Den Kerker im Kopf
Parteiprogramme für die Bundestagswahl
Die Groko ist noch nicht gesetzt