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Neuanfang von Flüchtlingen in Athen„Wir sind nicht da, um zu faulenzen“

Familie Karimi gelang die Flucht von Afghanistan nach Athen – weiter westwärts will sie nicht. Nun möchte sie sich ein neues Leben aufbauen.

Griechenland steckt in der Krise – kann hier ein Neuanfang gelingen? Foto: imago/ZUMA Press

Athen taz | Mit der einen Hand balanciert Shasta Karimi ein Tablett mit Tee und Keksen, die andere schließt vorsichtig die Zimmertür. Die 47-Jährige trägt eine Stoffhose, ein helles T-Shirt, ein gemustertes Kopftuch. „Wir haben hier das Wichtigste, was wir brauchen“, sagt sie, „wir haben Frieden.“ Shasta lebt seit Kurzem in der griechischen Hauptstadt Athen, mit ihrer sechsköpfigen Familie ist sie aus Afghanistan geflohen. Nun teilen sich die Karimis eine Wohnung mit zwei anderen Familien, für jede ein Zimmer.

Aber die Karimis wollen in Griechenland bleiben, sie wollen nicht weiter Richtung Westen – anders als so viele andere. Seit 2015 leben sie nun in Griechenland. Ihre griechischen Papiere sollen jeden Tag kommen.

Ihr Zimmer ist klein, nur das Nötigste ist da. Zwei Hochbetten, die Laken sorgfältig glattgezogen. Auf dem Boden sitzen die sechsjährige Sadaf und der neunjährige Said Hakim, sie starren in den Fernseher. Ein Zeichentrickfilm. Ein Ventilator surrt, der Luftzug verwirbelt die Haare der Kinder. Mutter Shasta bringt das Tablett vorsichtig zu Boden, stellt es auf den beigefarbenen Teppich.

„Offiziell sind wir keine Flüchtlinge. Denn bei uns herrscht Terror, aber kein Krieg“, sagt sie leise. Shasta setzt sich auf ein Bett, neben ihren Mann Saidullah Karimi. „Aber in Afghanistan konnten wir nicht bleiben“, Shastas Ton ist nun energisch. Dort lebte die Familie in Masar-i Scharif.

Saidullah Karimi ist Arzt

Shasta arbeitete als Physiotherapeutin, ihr Mann als Orthopäde. Saidullah Karimi, auch er 47, erzählt: „Wir hatten viel Kontakt mit dem Ausland, durch Kongresse und Schulungen.“ Er lächelt wehmütig. Bei den Karimis gingen Deutsche, Engländer, Amerikaner ein und aus. „Und dazu noch eine Frau, die arbeitet“, sagt Saidullah, sein Kopf wiegt hin und her. Den Taliban und dem IS habe das gar nicht gefallen.

Immer schlimmer wurde es über das Jahr 2015. Immer häufiger wurden die Anschläge, die Entführungen. „Unserem Nachbarn wurde die Kehle durchgeschnitten und seine Frau haben sie mitgenommen“, flüstert Shasta. Den Karimis wurde klar: Sie mussten nun gehen.

Die Flucht führte sie wie Tausende andere erst in die Türkei, dann auf ein Boot mit Kurs gen Westen. Auf offener See kamen Helfer, sie brachten sie nach Samos, die griechische Insel vor der türkischen Küste. „Ich dachte, jetzt hätten wir es geschafft“, sagt Shasta.

Immer wieder reibt sie sich mit den Händen über das Gesicht, als wolle sie schlimme Erinnerungen wegwischen. Die Erlebnisse in der Heimat, die anstrengende Flucht – als die Karimis in Griechenland ankamen, ging es Shasta sehr schlecht. „Als wir in ein überfülltes Flüchtlingscamp geleitet wurden, brach ich fast zusammen“, erzählt sie. Die Familie müsse erst einmal dort bleiben, hieß es. Wie lange? Das könne niemand sagen.

Das Warten machte Shasta Karimi krank

Neun Monate Warten auf Samos wurden es. „Wir sind nicht mit anderen Flüchtlingen gleichgestellt, zum Beispiel nicht mit Syrern“, sagt Saidullah Karimi. Asylanträge von Syrern seien zügig bearbeitet worden, sie aber seien wieder und wieder vertröstet worden. Shasta Karimis Seele litt, dadurch bekam sie Rückenschmerzen. „Deshalb durften wir dann endlich nach Athen. Ich bin jetzt hier in Behandlung.“ Sie lächelt. Ja, es gehe nun etwas besser.

Es hilft auch, dass die Karimis nun in ihrem Zimmer leben, nicht mehr im Camp. Statt Essensausgabe kaufen sie selbst ein, mit Wertcoupons im Supermarkt. Alle lernen Griechisch, fünf Stunden am Tag in einer Sprachschule. „Das tut uns gut, gibt uns Struktur“, sagt Vater Saidullah.

Schnell und deutlich sei ihnen klar gemacht worden, dass sie keine Chance haben, in den Norden oder Westen weiterzureisen. Als Afghanen hatten sie kein Anrecht, am Umverteilungsprogramm des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen teilzunehmen. Das sendet Schutzbedürftige in einen anderen EU-Staat, um das kleine Griechenland mit seinen rund 11 Millionen Einwohner zu entlasten. Griechenland hat seit 2015 mehr als 9.500 Menschen Asyl gewährt.

„Sie akzeptieren uns hier“

Saidullah macht es nichts aus, in Athen zu bleiben, „ich mag das warme Wetter hier.“ Er lächelt. Die Griechen seien sehr freundlich, „sie akzeptieren uns hier und behandeln uns gut“. Der Familienvater erzählt, dass viele andere ihre Kinder Schleppern übergäben, um sie nach Deutschland oder Schweden zu schleusen. Dann sollten sie dank Regeln für Familienzusammenführung ihre Angehörigen nachholen. „Ich könnte das nicht“, murmelt er, schaut zu seinen kleinen Kindern. Ihm gehe es nur darum, mit seiner Familie und in Sicherheit zu sein.

Aber Saidullah plagen Sorgen, er schläft nicht gut, ihn quälen Zukunftsängste. Der Afghane weiß, dass seine neue Heimat tief in der Wirtschaftskrise steckt. Firmen gehen Pleite, Arbeitsplätze verloren. „Ich mache mir Sorgen, dass ich keine Arbeit finde. Ich mache mir Sorgen, dass ich meinen Kindern keine gute Ausbildung ermöglichen kann.“ Dabei ist der 47-Jährige Arzt, mit 20 Jahren Berufserfahrung.

Er wischt auf seinem Smartphone durch die Fotos, einige zeigen ihn in weißem Kittel in seiner Praxis. „Ich möchte wieder eine eröffnen. Außerdem würde ich gerne einen kostenlosen Workshops anbieten, zu dem alle mit orthopädischen Problemen kommen können – Flüchtlinge wie Griechen.“ Die Karimis haben immer gern gegeben. In Afghanistan behandelten sie Arme kostenlos, „und ich habe gesehen, dass sich auch in Griechenland viele keine Behandlung leisten können“.

Griechisch pauken statt Pilotenausbildung

Nun kommt Said Azim ins Zimmer, der 18-jährige Sohn. Er war noch mit ein paar Freunden draußen. Seit ein paar Monaten geht er in der neuen Heimat zur Schule, hat nun auch griechische Freunde. „Ich war überglücklich“, erzählt der junge Mann vom Schulstart, „endlich hatte ich Kontakt zu griechischen Gleichaltrigen, endlich konnte ich wieder lernen.“

Musik hilft Said Azim Karimi (r.): „Ich vergesse dann die schlimmen Dinge, die ich gesehen habe“ Foto: Theodora Mavropoulos

Gerade sind Sommerferien, Said Azim hat viel Zeit. Er grübelt, seine Schuleuphorie schwindet. Auf seinem Stundenplan steht meist Griechisch, Sport oder Computertechnik. Für Mathe, Physik oder Chemie reicht sein Griechisch noch nicht. Das frustriert den Jungen, er hatte schließlich mal große Pläne: „Als ich 15 war hatte ich vor, die Schule mit 17 zu beenden, dann zur Uni zu gehen und dort mit 21 Jahren meinen Abschluss zu machen.“ Der lange Junge mit dem warmen Lächeln wollte Pilot werden, „jetzt ist die ganze Planung dahin und ich bin mit meinen 18 Jahren fast wieder auf Anfang wegen der Sprachbarriere“.

Said Azim tritt an einen Schrank, nimmt einen Violinenkoffer heraus, winkt seinen kleinen Geschwistern noch einmal zu. Er eilt die Treppen aus dem dritten Stock herunter, überquert den großen Platz mit den hohen Bäumen. Einen kurzen Sprint später springt er in den Bus. Der bringt ihn in die Innenstadt Athens, zum Geigenunterricht.

„Wollen nicht faulenzen“

Seit einem guten Monat nimmt Said Azim am Programm der Organisation El Sistema teil. Einmal pro Woche bekommen jugendliche Flüchtlinge und Migranten Geigenunterricht im Impact Hub Athens, einem Netzwerk, das auch soziale Projekte miteinander verknüpft. Sein neues Hobby begeistert Said Azim. Er übt viel, und das hilft ihm: „Wenn ich Violine spiele, tut mir das gut. Ich vergesse dann die schlimmen Dinge, die ich gesehen habe, die in meinem Kopf festsitzen.“

Das Sterben in Afghanistan geht ja weiter, über Facebook erfährt Said Azim auch in Athen, wer in der alten Heimat verletzt, wer getötet wurde. In der Musik gewinnt er Abstand, kann das Grauen ausblenden, endlich Entspannung finden.

Neun Schülerinnen und Schüler zwischen zwölf und 18 Jahren haben sich im Halbkreis um ihren Lehrer postiert. Der Musiker erklärt, die Jugendlichen lauschen und üben. Für ein paar Wochen lernen spielt Said Azim gut, der Lehrer lobt ihn. Auf dem Programm steht heute Beethovens neunte Sinfonie – deren Schlusschor ist die offizielle Europahymne. In Friedrich Schillers Liedtext heißt es: „Alle Menschen werden Brüder.“

Nach der Geigenstunde plaudert Said Azim noch ein wenig mit den anderen, dann macht er sich auf den Rückweg. Nach den Musikstunden trägt ihn immer die Euphorie – die sein Vater zurück im Familienzimmer nicht teilt. Er findet, der Sohn solle etwas Vernünftiges lernen.

Saidullah Karimi fürchtet, dass aus ihm in Europa nur ein Geigenspieler wird. „Wir wissen, dass Einzelfälle das Image der Flüchtlinge stark beschädigt haben“, sagt der Arzt, „doch wir sind nicht hergekommen, um uns von Europa versorgen zu lassen, zu essen, zu trinken und hier zu faulenzen.“ Said Azim wird energisch. „Nein – wir wollen unbedingt arbeiten und uns in die Gesellschaft einbringen. Wir brauchen nur die Chance dazu“.

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