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Senat sorgt sich um Kinder

In keinem Bundesland werden so viele Kinder misshandelt wie in Berlin. Der Senat soll nun ein Konzept zum Kinderschutz erarbeiten. Schon jetzt ist die Polizei in diesem Bereich sensibilisiert

von Plutonia Plarre

In der vergangenen Woche ist Berlin seinem Ruf als Hauptstadt von Kindesmisshandlungen einmal wieder gerecht geworden. Diesmal waren zwei Säuglinge die Opfer. Der eine war nach Angaben seiner Eltern an plötzlichem Kindstod gestorben. Bei der Obduktion fand ein Gerichtsmediziner an der Leiche jedoch zahlreiche Spuren von Misshandlungen. Gegen die Eltern ist inzwischen Haftbefehl erlassen worden. Der andere war mit Blutergüssen an Kopf und Körper ins Krankenhaus gekommen. Lebensgefahr bestand nicht. Als tatverdächtig gilt der 18-jährige Vater des Kindes. Der Mann erhielt Haftverschonung.

Solchen und anderen Fällen von Kindesmisshandlung soll der Senat nun mit einem integrierten Konzept zur Prävention und Krisenintervention entgegenwirken. Der Antrag von SPD und Linkspartei zur Verbesserung des Kinderschutzes ist gestern nahezu einstimmig im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses beschlossen worden.

Mit 398 registrierten Kindesmisshandlungen und 255 Vernachlässigungen lag Berlin 2004 im Ländervergleich bundesweit an der Spitze. 2001 wurden 267 Misshandlungen angezeigt. Diesen „erheblichen Anstieg“ führte Innensenator Ehrhart Körting (SPD) gestern darauf zurück, dass mehr Anzeigen erstattet werden – also mehr Taten aus dem Dunkel- ins Hellfeld rücken. Die Polizei geht davon aus, dass das Dunkelfeld bei Kindesmisshandlung noch höher ist als bei sexuellem Kindesmissbrauch. Dort wird von einer Dunkelziffer von bis zu 20 Taten pro angezeigtem Fall ausgegangen.

Seit Beginn der 90er-Jahre werde in Berlin viel für den Kinderschutz getan, sagte Körting mit Blick auf die Tätigkeit der Landeskommission gegen Gewalt sowie „vielfältige“ andere Netzwerke in diesem Bereich. Die Zusammenarbeit dieser Einrichtungen könne aber durchaus noch optimiert werden, begrüßte der Innensenator den Antrag.

Dass mehr Taten aus dem Dunkel- ins Hellfeld gerückt sind, führen Experten vor allem auf die Arbeit der Polizei zurück. Berlin ist das einzige Bundesland, das über ein Spezialkommissariat für Kinderschutzdelikte verfügt. Achtzehn Beamte sind allein für die Aufklärung von Kindesmisshandlungen zuständig. Weitere 43 befassen sich mit sexuellen Straftaten, wozu auch Kinderpornografie gehört.

Auch Aufklärung wird von den Beamten groß geschrieben. 2004 hat die Polizei eine aufwändige Plakataktion gestartet. Auf einem Poster sind drei Kinder in einer vermüllten Wohnung zu sehen. Unter dem Bild heißt es: „Verdreckt, hungrig, allein gelassen.“ Damit die Hinweise aus der Bevölkerung nicht im Ämterdschungel untergehen, hat die zuständige Kriminalhauptkommissarin ihre Telefonnummer auf die Plakate drucken lassen. Seit Beginn der Aktion sind über 100 Anrufe eingegangen.

Trotzdem sei es die Polizei, die die meisten Fälle aufdecke, verlautet aus dem zuständigen Kommissariat. In der Bevölkerung werde immer noch die Auffassung vertreten, Familie sei Privatsphäre – und da mische man sich nicht ein.

Polizeipräsident Dieter Glietsch verwies gestern darauf, dass alle Polizisten fortgebildet würden, um Fälle von Missbrauch zu erkennen. Auch Vernehmungsbeamte würden für den Umgang mit Kindern geschult. Und seit 1999 ist es möglich, die polizeiliche und richterliche Vernehmung der Opfer auf Video aufzuzeichnen. So bleibt die Zeugenaussage vor Gericht erspart, die eine Konfrontation mit dem Täter bedeutet.

Das Vorhaben, ein Konzept für den Kinderschutz verfassen zu wollen, wurde von den Oppositionsparteien gestern als „Schaufensterpolitik“ kritisiert. „Konzepte schreiben ist gut, wirksames Handeln ist besser“, so der innenpolitische Sprecher der CDU, Frank Henkel. Innensenator Körting konterte mit dem Hinweis, der Senat habe seit 1996 mehrfach Berichte zum Stand des Kinderschutzes vorgelegt. Statt die Berichte im Parlament zu beraten, hätten die Abgeordneten diese nur „weggeheftet“.

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