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Urteil zu Amoklauf von Reutlingen„Da gibt's nichts zu verstehen“

Im Sommer 2016 schreckt die Gewalttat die Öffentlichkeit auf. Zeitnah fanden zwei Anschläge statt. Doch dabei handelte es sich nicht um Terrorismus.

Spurensicherung am Tatort im Juli 2016 Foto: dpa

Tübingen taz | Ein Mann rennt mit einem Dönermesser durch die Innenstadt von Reutlingen. Erst verletzt er einen Mann, dann erschlägt er seine Geliebte und attackiert wahllos weitere Passanten. Es ist eine Tat, die auch dann Schlagzeilen gemacht hätte, wenn sie nicht nur wenige Tage nach dem Amoklauf in München und dem gleichen Tag wie der Selbstmordanschlag von Ansbach stattgefunden hätte. Selbst dann, wenn der Täter nicht ein anerkannter Asylbewerber aus Syrien gewesen wäre. „Jeder dachte, nun ist der Terror in der Provinz angekommen“, sagt der Richter.

Doch der „Dönermesser Mord von Reutlingen“ im Sommer 2016 schien sich nur scheinbar nahtlos in eine Serie mit anderen Taten einzureihen, die man heute vielleicht als Wendepunkt in der Willkommenskultur bezeichnen kann. Mit dem Geständnis und dem Urteil ist klar, es gab bei Mohammed H. kein terroristisches Motiv. Eifersucht war das Motiv, das den 22-jährige zu seiner Gewalttat getrieben hat, aber was hat ihn zur Raserei gegen Unbeteiligte getrieben? Der Vorsitzende Richter, Ulrich Polachowski, der auch den Amoklauf von Winnenden verhandelt hat, sagt am Ende in seiner Urteilsbegründung, er sei nach den beiden Verfahren zum Schluss gekommen, „Bei Amok gibt es nichts zu verstehen.“

Am letzten Prozesstag beschreibt die Vertreterin der Nebenklage noch einmal diesen blutigen Sommertag in Reutlingen. Ihre Mandantin sei einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, sagt sie. Nur weil sie mit dem Auto den Fluchtweg von Mohammed H. Gekreuzt habe, durchschlug der das Seitenfenster und habe der Frau mit dem Messer eine tiefe Schnittwunde zugefügt. Danach schlug er auch die anderen Scheiben ein, versuchte den Beifahrer der Frau zu verletzen, bis es den beiden gelungen ist, davonzufahren. Es seien Szenen wie aus einem Horrorfilm gewesen, die ihre Mandantin noch lange im Traum verfolgte, sagt die Anwältin.

Und so bleibt das Seelenleben des Angeklagten dem Gericht bis zum Schluss ein Rätsel. In der Urteilsbegründung beschreibt es ihn als unsicheren Menschen. Der psychiatrische Gutachter spricht von einem „undurchschaubaren Mann“. Im Alter von 17 Jahren schliesst er sich in Syrien einer kurdischen Befreiungsgruppe an. Um ihn aus der Schusslinie zu bringen, schicken ihn seine Eltern zu Verwandten in die Türkei. Dort arbeitet er drei Jahre lang, bevor er von Schleppern nach Deutschland gebracht wird. Er wird als Asylbewerber anerkannt, fällt durch Kriminalität und Drogenhandel auf. Als er in einem Dönerrestaurant zu arbeiten beginnt, lernt er Jolanta K. kennen.

Im Verfahren hatte Mohammed H. Versucht, sein wahres Alter zu verschweigen, um nach Jugendstrafrecht verurteilt zu werden. Er hatte „eine Stimme in seinem Kopf“ angeführt, die ihm den Auftrag zur Tat gegeben habe. Erst als der renommierte Forensiker Peter Winckler in seinem Gutachten dies für unwahrscheinlich erklärt hatte, war Mohammed H. überraschend zu einem Geständnis bereit. Er habe Jolanta K. aus Eifersucht ermordet. Die 45-jährige habe einen weiteren Freund gehabt. Bei dem Treffen hinter dem Döner-Restaurant habe sie ihm zudem „sexuelle Vorwürfe“ gemacht.

Mohammed H. stürzte in das Restaurant und riss das machetenartige Messer von der Wand. Mit dem Werkzeug, das in der Türkei zum Zerteilen von Lämmern benutzt wird, verletzt er zunächst einen Mann im Restaurant, den er für den zweiten Liebhaber seiner Freundin gehalten haben will. Dann folgen die tödlichen Hiebe gegen die Frau und die Angriffe auf weitere unbeteiligten Passanten.

Auch diese Erklärung Mohammed H.s lässt Fragen offen. Die Polin und der Syrer konnten offenbar nur bruchstückhaft miteinander reden. Im Prozess war die Rede von einer Beziehung auf rein sexueller Ebene. Hat er sich in seiner Ehre verletzt gefühlt, oder sind auch Traumata aus dem Syrischen Bürgerkrieg aufgebrochen? H. will in syrischen Gefängnissen gefoltert worden sein, seine Familie, mit der die Ermittler auch während des Prozesses mehrfach per Handy telefonieren, wissen nichts von Gefängnisaufenthalten des Sohnes. Die Narben an seinem Oberkörper könnten auch von Selbstverletzungen stammen.

Das Schwurgericht lässt die entlastenden Erklärungen nicht gelten. In einem bemerkenswert detailliert begründeten Urteil verurteilt es Mohammed H. zur schwersten Strafe, die es verhängen kann. Wegen Mordes und gefährlicher Körperverletzung muss er lebenslang ins Gefängnis. Die Strafkammer stellt zudem die besondere Schwere der Schuld fest. Er solle die lange Haftzeit nutzen um Deutsch zu lernen und eine Berufsausbildung zu machen, rät ihm der Ulrich Polachowski. Er könne für ihn nur hoffen, dass er irgendwann in ein friedliches Syrien abgeschoben werde, ergänzt der Vorsitzende. Sein Aufenthaltsrecht als anerkannter Flüchtling hat Mohammed H. durch seine Tat und die Verurteilung verloren.

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4 Kommentare

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  • 1G
    12649 (Profil gelöscht)

    „Er könne für ihn nur hoffen, dass er irgendwann in ein friedliches Syrien abgeschoben werde, ergänzt der Vorsitzende. Sein Aufenthaltsrecht als anerkannter Flüchtling hat Mohammed H. durch seine Tat und die Verurteilung verloren."

     

    D.h. die Abschiebung erfolgt nach Verbüßung der lebenslangen Haftstrafe? Man möge mich aufklären.

    • Benno Stieber , Autor des Artikels, taz-Korrespondent BaWü
      @12649 (Profil gelöscht):

      Ja, zumindest ein großteil der Strafe wird verbüßt Davon abgesehen, wird natürlich in ein Land wie dem heutigen Syrien nicht abgeschoben, auch kein verurteilter Mörder.

  • Nichts verstehen zu wollen ist, wie im sinkenden Boot nicht nach dem Leck suchen zu wollen und zu erwarten, daß das Wasser gefälligst draußen bleibt.

    • @Bodo Eggert:

      Ihr Vergleich hinkt, verehrter BODO EGGERT. Ulrich Polachowski sitzt als Vorsitzender Richter nicht in einem Boot. Es kann ihm nicht nur egal sein, wo das Loch ist, durch das Wasser eindringt, es erleichtert ihm sogar die Arbeit. Wer postuliert, dass es gar nichts zu finden gibt, der braucht auch nicht zu suchen.

       

      Aber es erwartet ja auch niemand, dass die Tat erklärt oder wenigstens aufgeklärt wird. Wenn dieser Irre weggesperrt werden kann, sind alle übrigen Beteiligten vollauf zufrieden, schätze ich.

       

      Soll er doch ruhig unerklärlich bleiben! Dann ist es leichter, ihn als das gruslige Andere zu denken, das, was man selber niemals werden wird. Und siehe da: unaufgeklärt lebt es sich sehr viel ruhiger. Auch deshalb, weil nun außer einem Kerl, der erst eingebuchtet und dann abgeschoben wird, niemand Schuld haben braucht. So etwas hat die Volksgemeinschaft immer gern.