Lacans „Schriften“ auf deutsch: Sich und die anderen besser verstehen
Die „Schriften“ des Psychoanalytikers Jacques Lacan sind zum ersten Mal komplett auf Deutsch erschienen. Was sagen sie heute?
„Contre Marine Le Pen“: Im März veröffentlichten französische Psychoanalytiker im Onlinejournal Lacan quotidien einen Appell „Gegen Marine Le Pen und die Partei des Hasses“. Die Unterzeichner warnen vor der Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen und dem Front National als Feinden der Aufklärung und sehen sogar ihren eigenen Berufsstand gefährdet, sollte Le Pen die Wahl gewinnen. Denn ohne Meinungs- und Pressefreiheit oder eine offene Gesellschaft sei auch die Psychoanalyse nicht möglich.
Nur scheinbar ironisch daran ist, dass sich die Analytiker in einem Medium bemerkbar machen, das seinen Namen einem Denker verdankt, der hierzulande gern des Obskurantismus geziehen wird: Jacques Lacan. Linke Intellektuelle waren ihm gegenüber gleichwohl stets aufgeschlossener als rechte. Jetzt wurde Lacans einzige „richtige“ Buchveröffentlichung, seine „Schriften“, mit gut 50 Jahren Verspätung zum ersten Mal vollständig ins Deutsche übersetzt. Der Weg von Lacans Hauptwerk ins Nachbarland war, könnte man sagen, beschwerlich. Doch schon bei der Entstehung des Originals gab es einige Hürden zu überwinden.
Als die „Écrits“ von Jacques Lacan 1966 zum ersten Mal in Frankreich erschienen, war ihr Verfasser 65 Jahre alt. Er hatte sich zuvor lange geweigert, sein Werk einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Sein späterer Herausgeber François Wahl vom Pariser Verlag Éditions du Seuil hatte ihn schließlich überzeugen können, der Veröffentlichung zuzustimmen.
Monatelang waren die Texte von dem Psychoanalytiker in enger, oft kontroverser Zusammenarbeit mit Wahl ausgewählt und überarbeitet worden. Dabei blieb einer der bekanntesten Texte, Lacans Vortrag über das „Spiegelstadium“, in seiner ursprünglichen Version von 1936 unauffindbar. Man begnügte sich mit der Fassung von 1949.
Als die zwei Bände der „Schriften“ im Herbst 1966 ausgeliefert wurden, erreichten sie für ein theoretisches Werk mit nicht eben leichtem Zugang erstaunliche Verkaufszahlen: Mehr als 50.000 Exemplare der Erstausgabe wurden verkauft. Von der späteren Taschenbuchausgabe gingen ganze 120.000 Stück des ersten Bandes über die Ladentische.
Lacan kann bis heute einen festen Platz in den Buchläden Frankreichs behaupten. Zu seinen „Schriften“ kamen nach und nach die von ihm ursprünglich mündlich gehaltenen „Seminare“ hinzu, von denen längst noch nicht alle 27 Bände – offiziell – veröffentlicht wurden.
Intellektuelle Grundausstattung
Der große „Übersetzer“ der Freud’schen Psychoanalyse, der mit seiner Anverwandlung insbesondere strukturalistischer Ideen eine Neuinterpretation von Freuds Lehre des Unbewussten geboten hat, gehört in Frankreich zur intellektuellen Grundausstattung neben Namen wie Michel Foucault oder Jacques Derrida. Zusätzlich zu seiner klinischen Bedeutung hat er in die verschiedensten geisteswissenschaftlichen Strömungen hineingewirkt.
In Deutschland, wo eine unvollständige – und verwirrenderweise zum Teil durch andere Texte ergänzte – Übersetzung der „Schriften“ zwischen 1973 und 1980 erschien, hat Lacan bei Weitem nicht so stark Fuß fassen können. Seine „Schriften“ gab es zwar zwar stets im geisteswissenschaftlichen Fachhandel zu kaufen, zum Bestseller geriet er für die deutschen Verleger, zuletzt Quadriga, jedoch nie.
Mittlerweile erscheint sein Werk auf Deutsch beim Verlag Turia + Kant in Wien. Die längst vergriffene Quadriga-Ausgabe der „Schriften“ brachte dieser allerdings nicht einfach neu heraus, sondern ließ das französische Original vom Lacan-Experten Hans-Dieter Gondek vollständig neu übersetzen. Einige der Texte von 1966 erleben jetzt ihre Premiere im Deutschen. Darunter Lacans Vorwort „Eröffnung dieser Sammlung“.
Der Stil ist der Mensch
Für die erste deutsche Übersetzung hatte Lacan 1973 ein eigenes Vorwort beigesteuert. Während er dort seine Leser mit dem Satz „Der Sinn des Sinns (the meaning of meaning), man hat sich gefragt, was das ist“ empfing, lautet die Begrüßung in der Neuausgabe jetzt: „‚Der Stil ist der Mensch selbst‘.“ Mit diesem Zitat des Enzyklopädisten Georges-Louis Leclerc de Buffon hat Lacan sich selbst recht gut charakterisiert. Sein oft undurchdringlicher, von wortspielerischen Neologismen geprägter Stil war einer der Gründe für die Widerstände, die man seinen Texten in Deutschland entgegenbrachte.
Der Stil, das Wie des Sprechens der Menschen, ist zugleich das, was Lacan in den Mittelpunkt seines Denkens und seiner psychoanalytischen Praxis gerückt hat. Das Unbewusste ist nach einem bekannten Diktum Lacans „strukturiert wie eine Sprache“. Zum ersten Mal formulierte Lacan diesen Gedanken in „Die Lenkung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht“ von 1958. In Gondeks Fassung heißt es da, dass „das Unbewusste die radikale Struktur der Sprache hat“.
Jacques Lacan: „Schriften I & II“. A. d. Frz. v. Hans-Dieter Gondek. Verlag Turia + Kant, Wien 2016, 679 S., 60 Euro/ 480 S., 56 Euro
Zwar ist das Unbewusste keine eigene Sprache, seine Verlautbarungen folgen aber bestimmten syntaktischen Prinzipien der Verkettung, und diese hat sich Lacan zeitlebens zu benennen bemüht, um so das Unbewusste zu dechiffrieren. Die Schwierigkeiten, die er seinen Lesern bereitet, ihm in seinen Gedanken zu folgen, kann auch Gondek mit seiner Übersetzung nicht beseitigen. Diese Schwierigkeiten gehören zu Lacan dazu.
In der neuen Fassung werden dafür einige Formulierungen klarer, in ihrer Konstruktion besser nachvollziehbar. Die Gepflogenheit der ersten deutschen Fassung, die französische Syntax zum Teil auf Deutsch zu rekonstruieren, behält Gondek vereinzelt bei.
Was kann man mit den „Schriften“ – über Expertenwissen in lacanianischen Analytikerkreisen hinaus – heute anfangen? Wenn man sich auf die beschwerliche Lektüre einlässt, gibt Lacan einem Instrumente an die Hand, um auf den unterschiedlichsten Ebenen das Begehren zu befragen, mit dem man in der Begegnung mit anderen konfrontiert ist.
Sehr, sehr einfach gesagt, hilft Lacan einem, sich und die anderen besser zu verstehen. Selbst Marine Le Pen und ihre Politik lassen sich auf diese Weise analysieren. Eine mögliche Antwort auf deren rassistische Haltung könnte in etwa lauten, dass sie in ihrem eigenen Genießen verwirrt, sich selbst fremd ist. Das Erstarken des Rassismus hatte Lacan übrigens schon 1973 in einem Interview vorausgesagt.
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