Theater in Prenzlauer Berg bedroht: „Die Kinder brauchen uns unbedingt“
Seit fast 40 Jahren residiert das Theater o. N. am Kollwitzplatz. Nun gibt es Lärmbeschwerden von Nachbarn, das Theater soll raus.
taz: Frau Lindner, Frau Domrös, der Mietvertrag des Theaters o. N. wurde nicht verlängert, angeblich haben sich Ihre Nachbarn über die Lautstärke Ihrer Stücke beschwert. Warum würden Sie gern bleiben?
Dagmar Domrös: Wir sind ein Repertoiretheater, dafür braucht es eine Spielstätte. Und solche Orte, an denen man sich begegnen kann, gibt es in Prenzlauer Berg nicht mehr allzu oft.
Uta Griseldis Lindner: Für mich ist das Theater einfach mein Zuhause. Ich habe hier um die Ecke auch 27 Jahre lang gewohnt. Als ich vor vier Jahren rausmusste und nach Pankow umgezogen bin, hat mich das unglaublich geschmerzt. Dank des Theaters merke ich immer noch: Das ist mein Boden. Wenn ich hier die Straße langgehe, begegnen mir andauernd Kinder, mit denen ich mal gearbeitet habe.
Sind Sie die letzten Mohikaner hier am durch und durch schicken Kollwitzplatz?
Lindner: Ich glaube nicht. Die anderen Mohikaner verstecken sich nur. Das merken wir gerade jetzt, da sich lauter alte Freunde melden, die noch immer hier unterwegs sind, hier leben und arbeiten und ihre Solidarität bekunden.
Sie sind seit 1984 Mitglied dieser Theatergruppe, die damals noch Zinnober hieß und die erste freie Theatergruppe der DDR war. Sie stellten alles auf den Kopf, was man bis dahin in diesem Land auf der Bühne gesehen hatte. Und Sie residierten 200 Meter von hier entfernt, in der Knaackstraße. Wie wichtig war der Kiez für Ihre Arbeit damals?
Lindner: Sehr wichtig! Die Bevölkerungszusammensetzung war hier sehr vielfältig. Es gab Penner, Alte, Studenten, Leute wie du und ich, die morgens zur Arbeit gingen, Künstler, die in den leeren Ladenwohnungen ihre sehr günstigen Ateliers hatten. Es gab viele interessante Leute. Da hat sich viel getroffen. Beim Theater o. N. sind immer noch drei Leute aus der Anfangszeit dabei.
Sie hatten in der Knaackstraße ein großes Schaufenster zur Straße, das direkt auf die Bühne ging. Wie gefiel Ihnen das?
Lindner: Da hier sehr sensible Dinge besprochen und ausprobiert wurden, haben wir natürlich oft das Rollo heruntergelassen.
Gilt das auch im übertragenen Sinne?
Lindner: Die Stasi ist tatsächlich zum Glück bei uns draußen geblieben. Aber es kam auch immer wieder ein Herr Müller oder ein Herr Meier vorbei, so hießen die ja immer. Die haben schon versucht, Kontakte zu knüpfen. Und da haben wir eben geguckt, dass immer zwei Leute zu den Gesprächen gegangen sind.
Was war das Spezielle am Theater Zinnober, dass es bis heute nachwirkt?
Domrös: Es ist uns Neuen, die wir erst um 2010 herum dazugekommen sind, sehr leichtgefallen, an den Kern dieses Theaters anzuknüpfen. Die Tradition ist für mich schon ganz klar der Grund, warum ich hier bin. Dieser offene, experimentelle Ansatz.
Lindner: Wir hatten damals die Absicht, anders Theater zu machen, als es sonst üblich war. Jeder von uns hatte schon mal an einem staatlichen Theater gearbeitet. Wir wollten nun etwas machen, wo wir das Gefühl hatten, dass wir uns wirklich ausdrücken können. So mussten wir aber auch lernen, verantwortlich mit den eigenen Fähigkeiten umzugehen. Am staatlichen Theater kann man die Schuld immer auf die anderen schieben.
Domrös: Heute ist unser Ensemble altersmäßig bunt gemischt. Das ist für die freie Szene schon etwas Besonderes. Wir haben Leute, die elf waren, als die Mauer fiel, und wir haben Leute, die im Westen sozialisiert wurden.
Dagmar Domrös, 1972 geboren in Hamburg, Studium der Germanistik, Amerikanistik und Politischen Wissenschaft, Ausbildung zur Verlagskauffrau. Gemeinsam mit Vera Strobel und Doreen Markert leitet sie das Theater o. N. und war Dramaturgin unter anderem bei „Der Teufelsschatz“/„HerzMonster“ (2010) und „hell erzählen“ (2013) in Hellersdorf.
Uta Griseldis Lindner, 1954 geboren in Magdeburg, Studium an der Staatlichen Schauspielschule Berlin, später Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. 1973–1977 externe Ausbildung zur Puppenspielerin am Puppentheater bei den Bühnen der Stadt Zwickau. Seit 1984 Mitglied – als Schauspielerin und Puppenspielerin – der freien Theatergruppe Zinnober in Berlin. Später beim Theater o. N., seit 1996 im Vorstand des Vereins Theater o. N.
Das Theater o. N. ist ein freies Theaterensemble mit eigener Spielstätte und Repertoirebetrieb in der Kollwitzstraße 53 in Prenzlauer Berg. Ende März teilte das Theater mit, dass die Eigentümergesellschaft des Hauses den Mietvertrag nicht erneut verlängern wollen. Der Vertrag endet im Juli. (sm)
Hat es nie gekriselt im Kollektiv, zum Beispiel, als Sie kurz vor dem Mauerfall Unterstützung von Heiner Müller und Christa Wolf bekamen, einen Batzen Geld vom Kulturbund und Reisefreiheit?
Lindner: Das hat uns verunsichert. Aber es bröckelte auch aus anderen Gründen. Eine Kollegin wurde schwanger. Eine ging schon vor der Wende rüber. Sie war dann übrigens die Erste, die wieder zurückkam. (lacht)
Früher waren Sie ein Kollektiv, heute haben Sie eine künstlerische Leitung. War das eine Umstellung?
Lindner:Alles immer selbst zu machen – das wurde immer anstrengender für uns. Es war aber auch nicht einfach, abzugeben.
Domrös: Es war Arbeit, uns zu verstehen. Eigentlich haben wir bis heute kaum Hierarchien. Ich würde es eher so sagen: Wir bilden mit allen 14 Personen ein Kollektiv. Und innerhalb dieses Kollektivs bilden wir ein weiteres Kollektiv aus drei Personen, die in sehr enger Zusammenarbeit mit den anderen Entscheidungen treffen.
Woraus besteht inhaltlich dieser magische Kitt, der Sie alle zusammenhält?
Domrös: Es ist ganz eindeutig der biografische Ansatz. Die Theatergruppe Zinnober hat keine fertigen Theaterstoffe genommen, sondern Inszenierungen aus Märchen, eigenen Erfahrungen oder Träumen entwickelt. Das ist einer der wichtigsten Pfeiler unserer Arbeit geblieben.
Eines der berühmtesten Zinnober-Stücke war „Traumhaft“, das zum ersten Mal 1985 aufgeführt wurde.
Lindner: Wir waren alle ungefähr 30 Jahre alt, als „Traumhaft“ entstand. Wir waren so alt wie das Land DDR.In gewisser Weise spiegelten unsere Biografien die damalige Gesellschaft wider. Jeder bekam ein Solo mit Chor.
Worum ging es?
Lindner: Um Kindheitserinnerungen, Pionierdrill, Suizidgedanken. Werner Hennrich seifte sich mit Braunkohlenasche ein. Ich trug absurde Wortreihen vor. Wir waren Reisende auf der Stelle, zwischen Gehenkönnen und Bleibenwollen. Die DDR war zerrüttet.
Dagmar Domrös
Domrös: Dieses Stück ist so wichtig für uns, dass wir uns damit noch einmal auseinandergesetzt haben. 2015 war das, in dem Stück „Wachträume“ von Anja Michaelis. Anders als bei „Traumhaft“ ging es nicht mehr um Träume, sondern um Geschichten von Grenzüberschreitungen.
Und was waren die Parallelen zum ersten Stück?
Domrös: Die Arbeitsweise ist ähnlich geblieben: Der Prozess, diese Geschichten immer weiter zu entfremden und zu verdichten. Bei „Wachträume“ haben wir beispielsweise eine Auftaktwoche an den Anfang gestellt: Das gesamte Ensemble, inklusive Backstage und aller, die am Stück mitarbeiteten, ging eine Woche in den Wald.
Ist es nicht ein unfassbarer Luxus, sich so viel Zeit zu nehmen?
Lindner: Was heißt da Luxus? Für „Traumhaft“ sind wir drei Monate in Klausur gegangen! Das war Luxus! Wir hatten zwei Stücke, die für uns ausreichend viel Geld verdient haben. Wir hatten also ein gutes Polster.
Vor allem vor dem Hintergrund, dass das Leben in der DDR nicht so teuer war?
Lindner: 20 Euro Miete waren selbst mit einem niedrigen DDR-Gehalt nicht viel. Und die Lebenshaltungskosten waren auch nicht hoch. Wir konnten sogar eine Zeit lang allen Beteiligten Kindergeld zahlen. Und als das nicht mehr ging, da haben wir angefangen, Kindertheater zu machen.
Der heutige Schwerpunkt des Theaters hatte ökonomische Gründe?
Lindner: Auch. Der andere Grund war: Die meisten von uns kamen aus dem Puppentheaterbereich. Anfang der Achtziger gab es für Kinder aber nur den Kasper, und das war’s. Insofern hatten wir große Lust, auch in diesem Bereich Neues auszuprobieren, Geschichten neu zu erzählen, indem man zum Beispiel als Mensch dabei ist. Hinzu kam, dass wir den damals besten Puppenbauer der Republik bei uns hatten: Christian Werdin. Da konnte unsere Bühne dann schon mal aussehen wie ein Wachhäuschen an der Mauer. Das war bei dem Stück „Die Jäger des verlorenen Verstandes“ so. Wir haben Puppentheater für Erwachsene gemacht und knüpften damit an die ursprüngliche Kaspertradition an. Im 18. und 19. Jahrhundert konnte ein Kasper im Unterschied zu den großen Bühnen, die ja von den Adelshöfen betrieben wurden, aussprechen, was die Leute dachten.
Ziemlich praktisch, dass sich Prenzlauer Berg dann zu einem derart kinderreichen Bezirk entwickelt hat, oder?
Lindner: Ja, aber unsere Spezialisierung ist mir auch nicht immer leichtgefallen. Ich habe zunächst einmal immer gedacht: Mensch, die Kinder, die spielen das doch allein. Da reicht eine Anregung, und es funktioniert.
Und was denken Sie heute?
Lindner: Das ist nach wie vor so. Aber ich habe inzwischen gelernt: Trotzdem ist es nicht schlecht, sie mit Dingen vertraut zu machen, die darüber hinausgehen. Und es ist auch gut, dass sich die Eltern freuen, mit den Kindern gemeinsam etwas zu erleben, wo sie sich auch ästhetisch angesprochen und bereichert fühlen können.
Domrös: 2010 haben wir uns neben dem Theater für Erwachsene den Schwerpunkt gesetzt, Theater für Kinder ab zwei Jahren zu entwickeln. Damals war das in Deutschland noch relativ neu. Seitdem ist einiges passiert, aber verglichen mit anderen Angeboten, kann man da noch viel tun. Es ist künstlerisch reizvoll, für Kinder Theater zu machen. Man muss sehr genau sein.
Sind Kinder anspruchsvoller?
Lindner: Man muss sie doppelt ernst nehmen.
Warum?
Domrös: Man kann Kinder leichter einlullen. Andererseits melden sie sich direkter zurück. Sie sind ehrlicher, auch kritischer. Deshalb ist es sehr verantwortungsvoll, für Kinder zu arbeiten.
Kommen bei Ihnen auch die berüchtigten Mütter vom Kollwitzplatz zu Besuch?Domrös: Was genau war denn mit diesem Klischee gemeint, kann mich da kurz noch einmal jemand belehren?
Spätgebärend. Überbesorgt.
Domrös: Wir mögen unser Publikum! (lacht)
Lindner: Diese Klischeemütter existieren wirklich. Aber sie sind eine Minderheit. Ich arbeite seit etlichen Jahren an der Grundschule am Kollwitzplatz. Es sind wunderbar normale Kinder da. Mit ganz normalen Eltern.
Trotzdem arbeiten Sie auch außerhalb dieses Kiezes?
Domrös: Man kann als Künstler sehr schnell in einer Blase verschwinden. Und wenn man den Anspruch hat, etwas über die Welt zu sagen, aber gar nicht mehr so viel von der Welt mitbekommt, ist das natürlich schlecht. Deshalb machen wir auch partizipative Projekte, überwiegend in Marzahn-Hellersdorf.
Was machen Sie dort genau?
Domrös: Wir zeigen dort unsere Stücke, arbeiten aber auch mit Kindern aus dem Bezirk auf der Grundlage des biografischen Theaters. Mit dem Ziel, einer Bevölkerungsgruppe eine Stimme zu geben, die sonst nicht so gehört wird.
Wie unterscheidet sich die Arbeit mit Kindern in Prenzlauer Berg von der in Marzahn-Hellersdorf?
Domrös: Ich bin immer sehr vorsichtig mit pauschalen Aussagen. Aber meine ganz persönliche Beobachtung ist, dass die Kinder in Prenzlauer Berg oft von klein auf gewöhnt sind, sich auszudrücken, nach ihrer Meinung gefragt und einbezogen zu werden. Man muss die gar nicht mehr nach ihrer Meinung fragen, die sagen ihre Meinung sowieso.
Und in Hellersdorf?
Domrös: Da ist es anders. Am Anfang muss man erst einmal sehr viel Vertrauen und verlässliche Bindungen aufbauen. Wir müssen mehr Input geben und die Kinder dazu anspornen, mehr aus sich herauszugehen und etwas preiszugeben. Die Kids sind sehr zurückhaltend. Wir sagen ihnen: Häng dich raus, sag, wer du bist, zeig dein Gesicht.
Gegen dieses Milieu sind die Leute am Kollwitzplatz doch richtig satt. Vielleicht sollten Sie nach Hellersdorf ziehen?
Domrös: Wir verstehen uns explizit als Kieztheater.
Lindner: Die Kinder in Prenzlauer Berg brauchen uns unbedingt. Ich habe einmal einen Antrag auf Fördergelder für ein Projekt an einer Schule in Prenzlauer Berg gestellt. Da bekam ich die Antwort, dass die Kinder hier schon alles hätten. Ich finde, das stimmt nicht.
Domrös: Hier geht es ebenfalls um etwas. Man muss den Teamgeist stärken. Wir müssen anregen, dass eine Gesellschaft mehr ist als die Summe vieler Individuen.
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