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Gastbeitrag zu Flüchtlingen in SerbienDas Elend von Belgrad

Kommentar von Katja Kipping

Wohin Obergrenzen für Flüchtlinge und das Gerede darüber führen, hat unsere Gastautorin in Serbien gesehen. Sie besuchte ein wildes Flüchtlingslager.

Afghanische Flüchtlinge sitzen in Belgrad fest Foto: dpa

A lles, was er will, ist, einen Beruf zu erlernen und davon zu leben. „We are humans like you. We have the right to learn and to live“, „Wir sind Menschen wie ihr. Wir haben auch ein Recht darauf, zu lernen und zu leben“, sagt Arasch zu uns. Wir stehen inmitten der Lagerhallen in Belgrad, in den sogenannten baracks, in denen sich 500 bis 1.000 nichtregistrierte Flüchtende aufhalten.

Der Geruch von Rauch und giftigen Dämpfen hängt schwer in der Luft. Noch vor einer Woche herrschten hier Minusgrade. Um nicht zu erfrieren, warfen die Flüchtenden alles Brennbare ins offene Feuer. Oft konnte man vor lauter Rauch nicht weiter als einen halben Meter sehen.

Arasch ist 19 Jahre alt, will Inge­nieur werden und kommt aus einem Dorf in der Nähe von Kabul. Dort toben die Kämpfe. Er erzählt, er habe lieber mit einem Stift in der Hand als Ingenieur Gutes tun wollen, anstatt mit der Waffe in der Hand gezwungen zu sein, Menschen zu töten. Also machte er sich auf den Weg nach Europa. Seit acht Monaten ist er auf der Flucht und hängt nun in Belgrad fest. Während wir uns mit ihm unterhalten, verteilen Freiwillige der Initiative „Hot Food Idomeni“ warme Mahlzeiten. Für viele Refugees die einzige Mahlzeit am Tag. Es gibt keinen Strom, keine Heizung, keine sanitären Anlagen.

Wohin die Obergrenzen führen

Katja Kipping

geboren 1978, ist seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestags und eine der beiden Bundesvorsitzenden der Partei Die Linke. Sie ist Gründungsmitglied des Instituts Solidarische Moderne e. V. (ISM).

Wir schreiben Ende Februar 2017. Gemeinsam mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung bin ich nach Belgrad gefahren, um mit eigenen Augen zu sehen, wohin Obergrenzen am Rande Europas führen. Um uns ein umfassendes Bild zu machen, sprechen wir auch mit Vertretern der serbischen Regierung, der deutschen Botschaft, dem Leiter des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Serbien, mit NGOs und Solidaritätsinitiativen. Zudem besichtigen wir ein offizielles Flüchtlingscamp sowie die Baracken im Stadtzentrum.

In den offiziellen Camps ist die Situation schlecht, aber deutlich besser als in den Baracken. Warum scheuen so viele der Flüchtenden die offizielle Registrierung? Die Camps in der Nähe der Hauptstadt sind meist überfüllt. Davon können wir uns selbst überzeugen, als das Team der örtlichen Hilfsorganisation „Info Park“ versucht, einen Platz für eine Familie zu finden, die vollkommen entkräftet in Belgrad angekommen ist. In den Unterkünften, die noch an diesem Abend erreichbar sind, ist nichts frei.

Zudem gibt es Berichte, dass Geflüchtete während des Transports in die offiziellen Camps von staatlichen Einsatzkräften mit Gewalt zurück nach Bulgarien abgedrängt wurden. Das gewaltsame Zurückdrängen ist zwar (noch) keine offizielle serbische Politik, aber es kommt trotzdem vor. Nachrichten über diese Vorfälle werden von den Schleppern umgehend verbreitet. Auch weil die Skepsis gegenüber den Regierungsstellen ihre Geschäfte florieren lässt. Außerdem hat es sich herumgesprochen, dass Ungarn kaum noch jemanden offi­ziell ins Land lässt. Also bleiben einige Geflüchtete auch deshalb im Stadtzentrum, weil sie dort eher die Schlepper erreichen.

Wer untätig bleibt, wenn ein EU-Mitgliedstaat Geflüchtete misshandelt, macht sich mitschuldig
Bild: dpa
Katja Kipping

geboren 1978, ist seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestags und eine der beiden Bundesvorsitzenden der Partei Die Linke. Sie ist Gründungsmitglied des Instituts Solidarische Moderne e. V. (ISM).

Alle hier wissen, mit welchen Gefahren das inoffizielle Überwinden des Zauns zwischen Serbien und Ungarn verbunden ist. Doch viele versuchen es trotzdem immer wieder. Einige zeigen uns die „Souvenirs“ der ungarischen Polizei: Blutergüsse an den Beinen und andere Verletzungen. Gezielte Schläge auf den Oberschenkel gehören zur Standardbehandlung. Einem jungen Afghanen wurde aufs Auge geschlagen.

Die ungarische Polizei scheint sich inzwischen auf Misshandlungen spezialisiert zu haben, die keine Narben hinterlassen – zumindest keine sichtbaren. Zu diesen Misshandlungen gehört, dass Geflüchtete gezwungen wurden, sich auszuziehen, mit Wasser übergossen und dann ohne Kleidung hinterm Zaun ausgesetzt wurden – und das bei Minusgraden.

Diese Misshandlungen finden in einem EU-Mitgliedstaat statt. Sollten die offiziellen Stellen der EU wirklich nichts davon wissen? Misshandlungen und kollektive Ausweisungen ohne vorheriges rechtliches Verfahren sind ein klarerer Rechtsbruch und unvereinbar mit der Flüchtlingskonvention sowie Artikel 4 des 4. Zusatzprotokolls der Menschenrechtserklärung.

Auf dem Rückflug werden wir eine Pressemitteilung formulieren. Die EU-Institutionen müssen entsprechende Untersuchungen einleiten und Ungarns menschenverachtende Politik mit Sanktionen belegen. Wer untätig bleibt, wenn ein EU-Mitgliedstaat Geflüchtete misshandelt, macht sich mitschuldig. Auch Wegschauen und Dulden ist eine Art Mittäterschaft.

Auswirkung der Debatten in Deutschland

In Serbien erlebe ich, welche Auswirkungen allein die Diskussion um Obergrenzen haben kann. Das Land will beweisen, dass es ein würdiger EU-Kandidat ist, und orientiert sich deshalb an der Stimmungslage der EU, insbesondere an jener in Deutschland. Als im Sommer 2015 die deutsche Regierung die Menschenrechte zumindest rhetorisch hochhielt, unternahm Serbien (im Rahmen seiner Möglichkeiten) alles, um die Menschenrechte von Geflüchteten zu wahren. Sobald hingegen in Deutschland Politiker gegen Geflüchtete Stimmung machen, verschärft das auf dem Balkan umgehend den Druck auf Flüchtlinge.

Wenn in Deutschland die Menschenrechte zur Disposition stehen, tun sie dies in der Folge auch am Rande Europas. Die Politik Deutschlands und die Art, wie über Geflüchtete gesprochen wird, hat direkte Auswirkungen auf die Lebenssituation von Menschen anderswo. Wir tragen eine enorme Verantwortung.

„Wir sind auch Menschen. Wir haben auch ein Recht darauf, zu lernen und zu leben.“ In diesen Worten eines 19-jährigen Afghanen, der seit Monaten unter unmenschlichen Umständen in den Baracken in Belgrad lebt, steckt mehr Verständnis für die Menschenrechte als in vielen Taten der Regierungen in der EU. Diese Worte verkörpern mehr von den angeblichen europäischen Werten als die gesamte europäische Flüchtlingspolitik.

An dieser Erkenntnis könnte man verzweifeln. Oder aber wir nehmen sie zum Ansporn, zu kämpfen – für ein Europa, in dem der universelle Flüchtlingsschutz, die große Lehre aus den dunkelsten Kapiteln europäischer Geschichte, gilt. Ohne Wenn und Aber und ohne Obergrenzen.

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5 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • "Misshandlungen und kollektive Ausweisungen ohne vorheriges rechtliches Verfahren sind ein klarerer Rechtsbruch und unvereinbar mit der Flüchtlingskonvention sowie Artikel 4 des 4. Zusatzprotokolls der Menschenrechtserklärung."

    Der junge Afghane hat keine kollektive Ausweisung erlebt, sondern eine Zurückweisung oder Zuückschiebung. Beides ist von der Flüchtlingskonvention und dem Zusatzprotkoll nicht erfasst. Es kann ihm auch an der Grenze von Deutschland nach Österreich passieren. Das sollte die Autorin als Bundesvorsitzende der Linken wissen. Entweder weiß sie nicht, wovon sie spricht, oder sie will beweisen, dass auch die Linke postfaktisch und populistisch argumentieren kann.

     

    Jemanden bei der Zurückweisung oder -schiebung zu misshandeln oder zu demütigen, geht natürlich gar nicht.

  • Danke für diesen Artikel.

    Eine schreckliche Lage derer, die keine Möglichkeit für eine reguläre Reise finden.

    Ashraf Ghani wurde einmal als Intellektueller bewundert, jetzt gilt er als Vorsitzender der Kriminellen in Kabul.

    Und was können diese Rechtlosen Menschen wie in Belgrad machen? Sich aus Armut Sachen zusammenklauen.

     

    Ab dem 18.3. ist die Welcome2Stay-Woche!

    Schauen Sie sich um

  • „Wir sind auch Menschen. Wir haben auch ein Recht darauf, zu lernen und zu leben.“

     

    Ein Recht des afghanischen Flüchtlings auf Leben in d und auf Teilhabe am Wohlstand in d? Die Mehrheit der in d Lebenden wird dies anders sehen und sieht eher das Recht "Nein" zu den Hilfebegehren der Flüchtlinge zu sagen.

     

    Die Kosten der Aufnahme der Flüchtlinge wird mit 23Mrd. € angegeben. Bei ca. 1Mio. Flüchtlingen kostet jeder Flüchtling rund 23.000€ jährlich. Sicher alles kein Problem, man erhöht die Reichensteuern, die Reichen zahlen so dass Arme in d. nicht gegen Flüchtlinge ausgespielt werden.

     

    Obergrenze weg + Geld von den Reichen = Aufnahme von allen Flüchtlingen möglich. Dann stellt sich aber das Problem, dass unsere Gesllschaft rebelliert, weil sie zu Hilfeleistungen für Flüchtlinge gezwungen wird, denen sie eigentlich nicht

    helfen will und die sie insbesondere in d nicht aufnehmen will.

  • "Wer untätig bleibt, wenn ein EU-Mitgliedstaat Geflüchtete misshandelt, macht sich mitschuldig." Dem ist zu widersprechen. Wir haben keine moraclische oder rechtliche Garantenstellung für das Tun und Lassen anderer EU-Staaten. Insoweit haben wir keine Verantwortung für rechtswidrige Handlungen der Ungarn. Ungarn verstößt gegen Menschenrechte und gegen EU-Recht. Die Bundesrepublik ist jedoch nicht verpflichtet dies zu ahnden.

     

    Serbien (kein Mitglied der EU!) ist verpflichtet, sich um die im Artikel genannten Flüchtlinge zu kümmern.

  • 3G
    36855 (Profil gelöscht)

    Vielleicht bekomme ich jetzt eine Antwort auf meine Frage, wie es denn gehen soll mit unbegrenzter Flüchtlingsaufnahme? Bitte, ich hätte wirklich gerne Antworten darauf!

     

    Diese Berichterstattung über die Zustände in legalen und illegalen Flüchtlingslagern schockt mich immer wieder. Das ist menschenunwürdig und nicht hinnehmbar!

     

    Es sind aber nicht nur einige Hundert, die zu uns nach Deutschland wollen, sondern es ist eine Vielzahl an Menschen. Zigtausende warten in Afrika auf die Überfahrt. Sie wollen dann weiter in die nordischen Länder.

    Wenn wir sie alle aufnehmen wollen und sollen, wie soll das funktionieren, Frau Kipping?