Obdachlose Frauen in Hamburg: Projekt klärt auf der Straße auf
Die Stiftung Off Road Kids will obdachlose Frauen besser aufklären. So sollen ungeplante Schwangerschaften und Krankheiten verhindert werden
Seit dem vergangenen Jahr wurden neun der jungen Frauen, die Off Road Kids in Hamburg betreut, schwanger. „Auf der Straße schwanger zu werden, ist der falscheste Zeitpunkt überhaupt“, sagt Müller, die für die Frauen Plätze in Mutter-Kind-Einrichtungen gesucht hat oder sie bei der Wohnungssuche unterstützt.
Um weitere ungeplante Schwangerschaften zu vermeiden, hat ihr Sozialarbeiterteam das Projekt Streetwork+ gestartet. Sie wollen ab März ein Viertel ihrer täglichen Straßensozialarbeit nutzen, um Jugendliche und junge Erwachsene über Verhütung aufzuklären – und Kondome zu verteilen. Dabei gehe es nicht allein um Schwangerschaften, sondern auch um sexuell übertragbare Krankheiten und Infektionen. „Selbst eine kleine Pilzerkrankung ist auf der Straße schwer zu behandeln“, sagt Müller.
Manche Frauen, mit denen sie arbeitet, seien noch nie beim Frauenarzt gewesen. Die Hemmschwelle ist groß. Die Sozialarbeiter sprechen deshalb meist in ihrem Büro über solche Themen mit den jungen Frauen – „nicht auf der Straße, wo jeder zuhören kann“, sagt Müller. Zudem wollen die Mitarbeiter von Off Road Kids ein Netzwerk aus Ärzten aufbauen, die bereit sind, die jungen Frauen zu behandeln.
„Leben auf der Straße bedeutet, sexuell angreifbar zu sein“
Ein Besuch beim Gynäkologen sei auch deshalb wichtig, weil viele der Frauen nicht gut aufgeklärt seien und dächten: „Ich seh’ doch, ob der was hat oder nicht“, so Müller. „Dass man das eben nicht kann, müssen sie lernen.“
Wohnungslose Frauen bleiben auf der Straße oft unsichtbar. „Meist ist es verdeckte Obdachlosigkeit“, sagt die Sozialwissenschaftlerin Brigitte Sellach, die über Frauen und Wohnungslosigkeit geforscht hat. Die Frauen kommen bei Freunden, Männern oder Hilfseinrichtungen unter, wenn sie keine Wohnung mehr hätten.
Benthe Müller, Streetworkerin
Diejenigen, die auf der Straße landeten, hätten häufig traumatisierende Erlebnisse hinter sich, litten an psychischen Erkrankungen oder Alkoholsucht, sagt Sellach. „Sie haben all ihre sozialen, mentalen und finanziellen Ressourcen verloren.“ Zudem bedeute „ein Leben auf der Straße, sexuell angreifbar zu sein“, sagt Sellach. Wirklichen Schutz hätten die Frauen nur in Fraueneinrichtungen.
In Hamburg waren im Januar im Schnitt jeden Tag 80 Frauen im Winternotprogramm untergebracht. Das sind rund 9,5 Prozent aller Menschen, die dieses Angebot genutzt haben. In der Stadt gibt es für wohnungslose Frauen verschiedene Anlaufstellen: etwa das „Frauen Zimmer“ des städtischen Unternehmens Fördern + Wohnen. Dort gibt es für Frauen „in besonderen sozialen Schwierigkeiten“, wie es heißt, an 365 Tagen im Jahr 30 Sofortschlafplätze und 20 langfristige Wohnplätze samt Beratung. Ziel ist es, sie in eigene Wohnungen zu vermitteln.
Sozialarbeiterin Müller sorgt sich darum, dass junge Frauen trotz der Angebote arglos bei Männern übernachteten, die sie kaum kennen. „Das hat immer seinen Preis.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“