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Die WahrheitLiterweise Früchtetee

Soll man Behinderten eigentlich helfen oder nicht? Bei keinem anderen Thema klaffen die Meinungen so weit auseinander.

Neben dem Rollstuhl ist Kaltschnäuzigkeit oft die einzige Waffe des Behinderten Foto: dpa

Eine typische Alltagssituation: Ich stehe an einer dichtbefahrenen sechsspurigen Straße; Lärm, Hupen, Abgase von Benzinern, Elektrosmog von Elektroautos. Nur mit Mühe kann ich die Fußgängerampel auf der gegenüberliegenden Seite erkennen. Da fällt mir eine Dame fortgeschrittenen Alters auf. Ihr Haar ist unregelmäßig gekämmt, ihr türkiser Anorak passt nicht zum lilagefärbten Haar. An ihrem Ärmel erkenne ich ein Gehörlosen-Armband, mit den so markanten drei gelben Ohren. Doch bevor ich sie ansprechen kann, fährt die Frau mich unwirsch an: „Vielen Dank, ich komme allein zurecht. Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Dreck!“

Ich bleibe verdutzt zurück, während meine Gesprächspartnerin selbstbewusst auf die Fahrbahn schreitet – und sofort von einem Sechzehntonner mitgenommen wird. Die Frage, die sich wahrscheinlich jeder stellt: Habe ich hier richtig gehandelt?

Behinderte brauchen Hilfe. Sie brauchen Prothesen in seltsamen Farben, weithin sichtbare Warn- und Erkennungszeichen sowie literweise lauwarmen Früchtetee in Beratungszentren. Das alles nehmen sie auch dankbar an. Doch wie oft wird aus Hilfe Bevormundung? Wann wird aus ernstgemeinten guten Ratschlägen der typische Überlegenheitsgestus desjenigen, der gewohnheitsmäßig mit der Vielzahl seiner Extremitäten und Sinnesorgane prahlt, ohne es sich je bewusst zu machen?

Sehe ich ein blindes Mädchen in der Straßenbahn, denke ich mir erst mal: „Die wird bestimmt abgeholt, die Behindertenpolizei weiß sicher schon Bescheid.“ Aber stimmt das wirklich? Vielleicht glaubt sie ja, auf einer Parkbank zu sitzen, auf einem Karussell oder schon in einer Gefängniszelle. Verfügt sie über genügend Informationen? Darf ich von mir aus Hilfe anbieten, laut „He, Sie! Sie sitzen in einem Zug!“ schreien? Die Zweifel bleiben.

Nur Charity-Ladies in Glitzerkostümen

Die Krux: Wer Menschen heute Hilfe anbietet, verhält sich damit schon mal grundsätzlich sonderbar. Hilfe erwartet man heute normalerweise nur mehr von Charity-Ladies in opulent ondulierten Glitzerkostümen, und auch das nur unter strengen gesetzlichen Auflagen. Wer umgekehrt Hilfe annimmt, stempelt sich damit automatisch als hilfebedürftig ab – und behindert sich damit in gewisser Weise selbst.

Ein Beinamputierter kann über die Sorgen eines Menschen mit Down-Syndrom nur lachen

Hinzu kommt: Behinderung ist nicht gleich Behinderung. Ein Beinamputierter kann über die Sorgen eines Menschen mit Down-Syndrom nur lachen; der wiederum wird sich königlich über einen Stotterer amüsieren. Was sie alle eint, ist der Wunsch nach Gleichbehandlung sowie das Bedürfnis nach Rache an den Normalen. Viele Rollstuhlfahrer warten nur darauf, dass ihnen jemand die Tür aufhält oder kurz zulächelt, um eingeschnappt „Ich schaff das allein, danke!“ zu rufen. Freundliche Worte oder Hilfsangebote kommen ihnen wie Hohn vor – als hätte man ihnen Beine oder Ohren noch einmal abgeschnitten. In solchen Situationen ist Kaltschnäuzigkeit ihre einzige Waffe. Das verstehe ich. Ich bin ja nicht behindert!

Fördergelder ins Automatencasino

Schon haben sich erste Bürgerinitiativen gebildet. „Wir haben es einfach satt“ sagt Annegret Knarrenbauer vom Verein „Schau weg e. V.“, der sich gegen die gesellschaftliche Aufwertung von Behinderten stellt. „Wir wollen nicht mehr gehätschelt, getätschelt und mit der Schnabeltasse gefüttert werden. Wir haben das Recht auf schlechte Behandlung – wie alle.“

Die Mitglieder des Vereins treffen sich regelmäßig, um einander zu ignorieren und passiv-aggressiv abzuwerten. So, wie es in der Mehrheitsgesellschaft üblich ist. Aber sie schaffen auch Bewusstsein in der Öffentlichkeit. Sie schlagen ausgestreckte Hände aus und blockieren vor Supermärkten die Rollstuhlrampen. Sie beantragen Fördergelder und verzocken sie dann in Automatencasinos. „Einfach, um zu zeigen: Wir brauchen keine Hilfe. Von niemandem.“

Frau Knarrenbauer ist sicher ein Extrembeispiel – ein schlecht ausgedachtes noch dazu. Doch betrachtet man nüchtern ein paar Zahlen, die man betrunken aufgeschrieben hat, fällt auf, dass das Schriftbild gewaltig vom Normalzustand abweicht. Ich glaube, so ähnlich nehmen auch Behinderte ihre Welt war – sie versuchen, ihr ihre Handschrift aufzudrücken, es bleibt aber nur wirres Gekrakel zurück. Weil schon Stift und Papier nicht für sie gemacht sind. Muss man ihnen deswegen aber permanent die Hand führen? Ich weiß es einfach nicht.

Verwirrung und Chaos

Persönliches Fazit. Unbehagen beim Umgang mit Behinderten bleibt. Bin ich zu freundlich zu ihnen, komme ich mir wie ein schlechter Mensch vor, behandle ich sie schlecht, komme ich mir wie ein freundlicher Mensch vor. Beides ist mir nicht recht. Ja, ich möchte sogar sagen, dass ich mich dabei selbst ein wenig behindert fühle.

Vielleicht ist das ja die Antwort auf die Frage, die schon vorhin nicht gestellt wurde. Vielleicht ist heute derjenige behindert, der nicht behindert ist. Klingt erst mal verrückt, ist aber wahrscheinlich falsch. Vielleicht muss jeder eine Antwort für sich selber finden: Ja, nein, weiß nicht, ganz nach Wunsch. Vielleicht ist das aber genau der falsche Weg, führt uns in Verwirrung und Chaos. Und die Behinderten lachen sich ins Fäustchen. Dann hätten letztlich alle verloren. Schade!

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7 Kommentare

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  • Der Umgang mit Menschen ist gar nicht so komplitiert, wenn man generell höflich und freundlich auf sie zugeht. Bei Bedarf sollte man auch mal über sich selbst lachen können - oder auch klare Grenzen setzen.

    Da macht es keinen Unterschied, ob das Gegenüber behindert ist oder nicht.

    Das ist der Trick: alle Menschen gleich behandeln. Dann muss man nicht unsicher sein, ob man nun einer Person gegenüber zu sehr oder zu wenig hilfsbereit war.

  • Als Schwerbehinderter mit einem halbwegs ausgeprägten Sinn für Satire und Verwirrung finde ich diesen Artikel grandios!

    • @Sch31m:

      Ich fand ihn auch grandios. Ich bin nicht behindert (hm, muss mal länger überlegen)... aber öfters in solche Fallen getappt. Mein schlimmster Fall: Ich wollte zwei blinde Mitbürger gleichzeitig durch die dichtgedrängte Innenstadt geleiten, prompt ist einer von ihnen vor einen Laternenpfosten geknallt.

      Fazit: Ich muss mehr üben und darf mich nicht übernehmen, sonst übergibt sich jemand.

  • Ich bin zu jedem Menschen nett und halte ggf. die Tür auf, egal ob der andere mit oder ohne Beine ist. Wenn der andere das nicht mag oder mit "kann ich selber" reagiert, ist mir das erstmal egal. Ich mach das ja nicht für ihn sondern für mich! Ich fühle mich mit meiner Hilfe gut und darum geht es. Dass es dem anderen vielleicht auch den Tag verschönert, ist doch nur ein Nebeneffekt. Wer Dankbarkeit erwartet, sollte nicht helfen ... sondern sich mal hinterfragen.

  • hilfe dankbar annehmen, 100% BEHINDERT kennzeichen b, so wie man einer Mutter mit ihrem Kinderwagen hilft, was ich noch schaffe finde ich es schön, wenn mir jemand hilft selbst wenn ich in dem Moment selber zurechtkommen würde, was ist da dabei, es ist einfach ein schönes Erlebnis, man merkt, die Menschen haben irgendwo immer einegute Seite, man ist einfach dankbar und begegnet man sich wieder gibts auch immer wieder Gesprächsstoff, einfach positiv ins Leben gehen

  • SEHR LUSTIG - seien Sie erst mal selbst behindert.

    • @Politikverdrossen:

      Dieser Text erscheint ja immerhin auf der Wahrheit-Seite der taz. Mein Autoradio hat mir heute allen Ernstes erzählen wollen, ausgerechnet die Modebranche sei über Nacht quasi zur Mutter Theresa aller Berufszweige mutiert.

       

      Es ging um eine Modemacherin mit Down-Syndrom, deren Mutter sich als "Managerin" betätigt und sich drüber freut, dass ihre Tochter sich nach diversen Absagen vor Anfragen kaum retten kann, seit sie zur London Fashion Week eingeladen war.

       

      Man schmückt sich eben dann besonders gern mit seiner Hilfsbereitschaft, wenn sie nicht etwas ganz Normales ist. Wäre die junge Frau nicht erkennbar so überhaupt gar keine ernst zu nehmende Konkurrenz, würde vermutlich auch die Modebranche ihre temporär eingezogenen Krallen ganz schnell wieder ausfahren und damit Löcher in die Gesichtslandschaft hacken.

       

      Nein, es ist nicht lustig, behindert zu sein in einer Welt wie unserer. Aber es ist auch nicht besonders lustig, es nicht zu sein. Überhaupt stehen Zustände wie die, unter denen wir alle miteinander grade leben, in dringendem Verdacht, psychische Störungen zu verursachen. Lachen hilft dagegen nur noch sehr bedingt. Nach dem Lachen allerdings kommt bei normalen Menschen (und nicht nur bei denen) meistens erst das große Heulen und dann die große Wut. Gut möglich also, dass es demnächst richtig knallt – und keiner ganz genau zu wissen meint wieso.