Stummfilm über Judenverfolgung: Aus der Dystopie lernen
Der Film „Stadt ohne Juden“ war lange nur in Teilen vorhanden. Nun wird der „Most Wanted of Austrias Silent“ gerettet.
Der Film wird auch „Most Wanted of Austrias Silent“ genannt, denn die Geschichte der Filmrolle gleicht einer Odyssee durch die jüngste Historie Europas. Nach seiner Premiere in den zwanziger Jahren wurde der Film im Zuge der wachsenden antisemitischen Stimmung bald boykottiert. 1933 tauchte eine Kopie in Amsterdam auf und wurde in einer Filmvorführung genutzt, um gegen die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland zu protestieren. Danach galt der Film fast 60 Jahre lang als verschollen.
Anfang der neunziger Jahre entdeckte ihn das Filmarchiv Austria in Amsterdam wieder. Eine Sensation – und das obwohl das Material fragmentiert und unvollständig war. Das Archiv restaurierte bereits diese Filmrolle in einem teuren und aufwändigen Prozess. Die anschließende Suche nach den fehlenden Stücken verlief ergebnislos. Bis letztes Jahr: Ein französischer Sammler fand den verschwundenen Teil der Filmrolle auf einem Pariser Flohmarkt – auch dieser beschädigt und kurz vor dem Zerfall.
Ein Zufallsfund, mit dem nicht nur ein wichtiges Stück Zeitgeschichte wieder aufgetaucht ist, sondern der im derzeitigen zivilgesellschaftlichen Diskurs um Geflüchtete zu einem moralisch-historischen Appell gegen Rassismus werden könnte.
Die Krise braucht einen Sündenbock
Wien 1924: Gewaltszenen in den Straßen, flüchtende Menschen und eine Regierung, die gegen Jüdinnen und Juden hetzt. Der Film „Stadt ohne Juden“ basiert auf dem gleichnamigen Buch des Schriftstellers Hugo Bettauer und ist eine Dystopie der staatlich organisierten Vertreibung der Juden. Eine gruselige Apokalypse, die der Regisseur Hans Karl Breslauer 1924 aufgriff und zusammen mit der Drehbuchautorin Ida Jenbach verfilmte.
Im Kontext der sich abzeichnenden Krise der frühen zwanziger Jahre erzählt der Film von einer rasenden Geldentwertung, mit der sich Arbeitslosigkeit und Armut in Österreich ausbreiten. Die Sündenböcke für die Situation sind schnell gefunden: die Jüdinnen und Juden. Und so verweist eine fiktive österreichische Regierung die komplette jüdische Bevölkerung des Landes.
Der Film illustriert, was knapp zehn Jahre später tatsächlich eintritt: die Machtübernahme der NSDAP in Deutschland und schließlich nicht nur die Vertreibung, sondern die systematische Vernichtung der Juden durch die Nazis. Es ist eine verblüffende Vorhersage und der erste Film im deutschsprachigen Raum, der Antisemitismus und Rassismus zum Thema macht.
Der Filmhistoriker Frank Stern hebt hervor, dass die Geschichte „Stadt ohne Juden“ nicht nur eine dunkle Vision der nationalsozialistischen Herrschaft ist, sondern auch die zeithistorische Stimmung in Österreich Anfang der zwanziger Jahre darstellt. Denn bereits nach dem Ersten Weltkrieg wuchs der Antisemitismus an.
Dr. Klaus Wostry
Schon 1918 manifestierte er sich in sogenannten Arier-Paragrafen. Jüdinnen und Juden wurde die Mitgliederschaft im österreichischen Alpenverein verweigert. In bestimmten Urlaubsorten wurde ihnen der Zutritt zu Hotels versagt. Jüdische Studierende wurden aus den Hörsälen der Universitäten vertrieben und der Senat der Universität Wien verlangte, dass jüdische Studierende nur dann zum Studium zugelassen werden, wenn sie nachweisen konnten, dass ihre vier Großelternteile getauft waren.
Stern verweist zudem auf eine Großkundgebung des Antisemitischen Bundes im Oktober 1919, bei der die Demonstrierenden auf dem Rathausplatz in Wien „Hinaus!“ skandierten. Gemeint waren Jüdinnen und Juden, die in Österreich nach Schutz gesucht hatten. „Stadt ohne Juden“ greift diese häufig unbekannten frühen antisemitischen Haltungen und Ereignisse auf und treibt sie mit der Ausweisung der jüdischen Bevölkerung aus der Stadt auf die Spitze.
Eine Dystopie mit Parallelen zu heute
Für Nikolaus Wostry, Geschäftsführer des Filmarchivs Austria, betrifft der Film Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen: „Wir leben heute in einem Europa, das so reich ist wie nie zuvor und trotzdem können wir noch immer nicht rational über die Geflüchteten-Situation sprechen.“ Er sieht in dem Film ein bedeutendes Mahnmal gegen Rechtspopulismus. In der filmischen Darstellung sind es geflüchtete Jüdinnen und Juden, die für wirtschaftliche und soziale Spannungen verantwortlich gemacht werden. Diese Form der Fremdenfeindlichkeit sei auch heute erkennbar. Geflüchtete würden systematisch ausgegrenzt und stigmatisiert. „Wir haben heute in Europa eine vergleichbare Situation und der Populismus befeuert die Rechten“, sagt Wostry.
Für das Filmarchiv Austria sind die wiedergefundenen Teile des Stummfilms besonders deshalb von großer Aussagekraft, da sie die Gewaltbereitschaft gegenüber der jüdischen Bevölkerung zeigen und damit eine pogromartige Stimmung illustrieren, die Jahre später zurn Realität werden sollte. Die Komplettfassung des Films werde damit noch deutlicher zu einem Anti-Nazi-Statement. Auch die Darstellung des jüdischen Alltagslebens sei pointierter, da sie die unterschiedlichen Lebenswelten der flüchtenden und akzeptierten Jüdinnen und Juden direkt gegeneinander schneide. Diese ausführliche Beleuchtung des jüdischen Lebens in Wien sei einmalig für filmische Dokumente der Zwischenkriegszeit. Wostry findet deshalb, dass dem Film mit der Restaurierung seine ursprüngliche Aussagekraft zurückgegeben werde.
Seit dem Beginn der Crowdfunding-Kampagne haben sich weltweit Museen, Medienanstalten und Vereine gemeldet, um den Film in ihr Programm aufzunehmen. Insbesondere aus den USA sei das Interesse seit der Präsidentschaftswahl besonders hoch, erzählt Wostry. Bis zur Premiere müssen sich die Interessenten allerdings noch bis Ende 2017 gedulden. Bis dahin will das Filmarchiv Austria die Restaurierung des Films fertiggestellt haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“