Krank wegen fehlender Mikronährstoffe: Versteckter Hunger
Vitamine allein reichen nicht aus im Kampf gegen den versteckten Hunger. Die Ursachen für Mangelernährung werden noch viel zu wenig erforscht.
Diesen zu durchbrechen ist eines der obersten Ziele der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und anderer Entwicklungshilfeorganisationen. Dabei setzt die WHO auf verschiedenste Maßnahmen. Bislang wird der „hidden hunger“ jedoch vor allem mittels zu kurz greifender Antworten bekämpft, wie etwa einer Anreicherung von Nahrungsmitteln. Das deckt eine aktuelle Übersichtsstudie von Mark Lawrence, Ernährungswissenschaftler an der australischen Deakin University auf.
In 80 Ländern ist eine solche Fortifizierung etwa von Maismehl sogar gesetzlich vorgeschrieben. Immer beliebter werden auch Multivitaminpulver, die man über das Essen streut oder Fertiglebensmittel, die mit Mikronährstoffen versetzt sind. Erst kürzlich forderte die industrienahe Organisation „Global Alliance for Improved Nutrition“ (GAIN) unter anderem gemeinsam mit dem Welternährungsprogramm, dass angereicherte Lebensmittel ein zentraler Bestandteil in Entwicklungsländern werden müssten. Vor allem weil dieses das kosteneffizienteste Mittel gegen Mangelernährung sei.
Tatsächlich ist gut belegt, dass Nutrazeutika Mangelernährung lindern. Lawrence meint: „Diese Produkte sind in akuten Krisen sicher das Mittel der Wahl.“ So wird von Hilfsorganisationen in Flüchtlingslagern etwa angereicherte Erdnussbutter-Paste verteilt. Lawrence fordert nun jedoch mehr Studien, um die dahinter liegenden Ursachen für den versteckten Hunger zu erforschen und dann in politische Aktionen umzusetzen, wie es auch die WHO vorsieht. Als mögliche Ansatzpunkte nennt er Verbesserungen in der Landwirtschaft, Bildung und die Lösung sozioökonomischer Probleme. Vor allem ein abwechslungsreicher Speiseplan gilt als Schlüssel im Kampf gegen Mangelernährung.
Getreide allein reicht nicht
Doch in der Landwirtschaft haben sich die Voraussetzungen für nährstoffreiche Ernten eher verschlechtert, auch weil traditionelle Kulturpflanzen wie Hirse oder Sorghum von den Äckern gedrängt wurden. Dafür werden immer mehr Kalorien erzeugt, so hat es Rosemary Green, Epidemiologin an der London School of Hygiene & Tropical Medicine, kürzlich in einer Studie belegt. Vor allem Kleinwüchsigkeit, das so genannte „Stunting“, das bei Kindern vorkommt, wenn sie nicht genügend Nahrung bekommen, ist eindeutig durch ein Plus an Kalorien aus Reis, Mais, Weizen und Soja zurück gegangen. Zumindest das Hungerproblem hat sich also gebessert. Doch diese reine Getreidekost ist zu einseitig. In Ost- und dem südlichen Afrika essen die Menschen etwa oft nur Maisbrei, morgens, mittags, abends.
Die Folge: In einigen Ländern wie Sierra Leone oder auch Indien sollen 80 Prozent der Kinder von Eisenmangel betroffen sein. Laut der WHO erblinden bis zu 500.000 Kinder jährlich wegen eines Vitamin-A-Mangels. Etwa 400.000 Kinder sterben in der gleichen Zeit wegen Zink-Mangels. Auch Jod- und Folsäure-Mangel sind verbreitet – mit dramatischen Folgen.
Diese Leiden mit Vitaminzusätzen lindern zu wollen ist jedoch auch gefährlich, warnt Lawrence, es könne zu Überdosierungen bestimmter Stoffe kommen. Eine aktuelle Schweizer Studie zeigte etwa, dass Eisenzusätze in Lebensmitteln zwar die Gefahr einer Anämie bei kenianischen Kindern bannen, jedoch im Darm zu Entzündungsreaktionen führen. Es müsste also von Land zu Land, von Region zu Region genau geprüft werden, welche Nährstoffe fehlen und welche man in welchen Mengen sinnvoll einsetzt, schreibt Lawrence.
Zudem entstehen bei dieser Praxis Abhängigkeiten von Vitaminherstellern. Obendrein geht die Kenntnis der natürlichen Nahrungsquellen sowie die Kompetenz, diese zu nutzen, verloren. Immer seltener stehen Maniok, spider plant, Kürbisblätter oder Früchte des Affenbrotbaumes auf dem Speiseplan. Dabei sind traditionelle Lebensmittel möglicherweise effektiver im Kampf gegen den versteckten Hunger, wie kürzlich eine Studie der University of Copenhagen zeigte.
In den Reisfeldern von Bangladesch lebt etwa der Minifisch Ambylpharyngodon mola, der reich an Vitamin A und Eisen ist. Eine Fischdiät verbesserte bei 3- bis 7-jährigen Kindern den Mikronährstoffzustand effektiver als eine gleiche Menge Vitamin A in Pillenform.
Goldener Reis
Dem versteckten Hunger langfristig etwas entgegenzusetzen versuchen seit nunmehr 24 Jahren auch die Schöpfer des „Golden Rice“. Bereits eine Portion liefert durch eine gentechnische Veränderung im Erbgut den Tagesbedarf an Provitamin A, herkömmliche Sorten enthalten dagegen gar kein Betacarotin. Allerdings können Bauern etwa auf den Philippinen mit dem Golden Rice nicht die gleichen Erträge erzielen wie mit herkömmlichen Reissorten.
Glenn Stone, Anthropologe an der Washington University geht gemeinsam mit dem Reis-Forscher Dominic Glover in einer aktuellen Bilanz (pdf) hart mit dem GMO-Reis ins Gericht: „Der Reis ist weit davon entfernt, auf den Markt zu kommen.“ Und auch wenn dies geschehen sollte, sei es fraglich, ob das darin enthaltene Betacarotin im Körper von stark mangelernährten Kindern in Vitamin A umgewandelt werden könnte. Unklar ist auch, inwieweit traditionelle Garmethoden die Nährstoffgehalte verändern. Dabei ist Glenn Stone keinesfalls ein Gentechnik-Gegner, kurz nach der Entwicklung des GVO-Getreides plädierte er dafür, der Innovation in praktischen Studien eine Chance zu geben.
Ungleich vehementer setzen sich andere Forscher für den Gentech-Reis ein: Erst kürzlich wendeten sich mehrere Nobelpreisträger in einem Brief an die Umweltorganisation Greenpeace mit dem Vorwurf, sie trüge mit schuld an den mauen Fortschritten des Golden Rice und damit an der Mangelernährung vieler Kinder – bereits früher waren Gentechnik-Kritiker als „Mörder“ beschimpft worden. Angelika Hilbeck und Hans Herren, Agrarökologen an der ETH Zürich, ergriffen jedoch Partei für die Umweltorganisation: „Der Brief erkennt nicht die Fakten zu „Golden Rice“ an und stellt wissenschaftlich falsche Behauptungen auf.“ Zudem seien unter den Unterzeichnern keine Experten in Sachen Hungerbekämpfung oder Landwirtschaft zu finden.
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